„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 28. August 2011

Eva Horn/Lucas Marco Gisi (Hg), Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld 2009

(Eva Horn, Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Einleitung, S.7-26 / Eugene Thacker, Netzwerke – Schwärme – Multitudes, S.27-68 / Michael Gamper, Massen als Schwärme. Zum Vergleich von Tier und Menschenmenge, S.69-84 / Urs Stäheli, Emergenz und Kontrolle in der Massenpsychologie, S.85-99 / Eva Horn, Das Leben ein Schwarm. Emergenz und Evolution in moderner Science Fiction, S.101-124 / Sebastian Vehlken, Fish & Chips. Schwärme – Simulation – Selbstoptimierung, S.125-162 / Sebastian Giessmann, Netzwerkprotokolle und Schwarm-Intelligenz. Zur Konstruktion von Komplexität und Selbstorganisation, S.163-182 / Niels Werber, Schwärme, soziale Insekten, Selbstbeschreibungen der Gesellschaft. Eine Ameisenfabel, S.183-202 / Eva Johach, Schwarm-Logiken. Genealogien sozialer Organisation in Industriegesellschaften, S.203-224 / Lucas Marco Gisi, Von der Selbsterhaltung zur Selbstorganisation. Der Biber als politisches Tier des 18. Jahrhunderts, S.225-251 / Benjamin Bühler, Tierische Kollektive und menschliche Organisationsformen: Kropotkin, Canetti, Frisch und Lem, S.253-272)
  1. Methode
  2. Emergenz und Evolution: Rückblick auf begriffliche Widersprüche und Unstimmigkeiten in der Komplexitätsforschung
  3. Eigenschaften im Wartezustand: Woher kommt die neue Gestalt?
  4. Zur Intentionalität: jagen Schwärme?
Hatte ich im letzten Post schon die Frage nach der Differenz zwischen Schwarm-Gestalt und Ding-Gestalt aufgeworfen, so möchte ich mich in diesem Post mit der Frage befassen, inwiefern die Schwarm-Gestalt  zu einer Metaphysik der zwei Welten führt. (Vgl. hierzu auch meinen Post vom 16.08.2011) Eva Horn verweist auf ein Problem, das zu dieser Frage gehört: „Nicht zufällig ... wirft alles Erscheinen von Schwärmen die Frage nach dem Grund dieses Erscheinens, den Gesetzen und der Dynamik ihrer Existenz auf. Diese Frage ist eine nach dem Leben. Der Schwarm ist eine form-lose Lebensform, deren rein relationale Existenz die Organisation dieses Lebens selbst thematisch macht.“ (Horn 2009, S.102f.)

Eva Horn stellt hier die Frage nach der spezifischen Erscheinungsweise von Schwärmen. Um die spezifische Erscheinungsweise von Schwärmen aber zu verstehen, sollten wir zunächst klären, wie denn andere, unserer Wahrnehmung näherliegende Dinge erscheinen. Die Phänomenologie beantwortet diese Frage, indem sie sich auf ein ganz bestimmtes phänomenales ‚Modell‘ bezieht, nämlich auf den individuellen Körper, der sich vor einem Hinter-Grund abhebt (in der Sprache Husserls ist es der „Horizont“). Der ‚Grund‘ des Erscheinens von Körpern bzw. Dingen bekommt so etwas Mehrdeutiges. In bezug auf Horns „Frage nach dem Grund“ möchte ich vor allem zwei Aspekte hervorheben.

Zunächst besteht dieser Grund in nichts anderem als dem Hinter-Grund, vor dem sich der individuelle Körper, auf den sich unsere Wahrnehmung richtet, abhebt. Zweitens aber bedeutet ‚Grund‘ auch, daß die Phänomene eine gewisse Selbst-Ständigkeit haben: sie stehen auf ihrem eigenen Grund. Phänomenologen fassen diesen Sachverhalt auch in der Formulierung, daß sich die Phänomene selbst zeigen. Als Wahrnehmungssubjekt muß man ihnen gegenüber eine passive, meditative Haltung einnehmen, um sie in ihrer Erscheinungsweise auf sich wirken zu lassen. Nur so lernen wir die Phänomene in ihrem ‚Wesen‘ kennen.

Eva Horn kommt diesem Sachverhalt sehr nahe, wenn sie zum fünften Kriterium von Jeffrey Goldstein schreibt, daß „emergente Phänomene“ „anschaulich“ sind, weil „sie ... sich deutlich als neuer und anderer Zustand des Systems (zeigen)“. (Horn 2009, S.105) In dieser Formulierung schwingt etwas von der Selbst-Ständigkeit der Phänomene mit, die den ‚Grund‘ – bzw. mit Husserl: das ‚Wesen‘ – ihres Erscheinens in sich selbst haben.

Mit dieser Verhältnisbestimmung von Vordergrund und Hintergrund, von innerem Horizont (Wesen bzw. Grund) und äußerem Horizont (Kontext, Umwelt) befinden wir uns im Diesseits unserer sinnlichen Wahrnehmung. Die Gegenstände, mit denen wir uns be-‚fassen‘, können wir an-‚fassen‘ und be-‚greifen‘. Sie anfassen und begreifen zu können, ist die ursprünglichste Art unserer Weltzugewandtheit. Von hierher entspringt unsere ganze Weltlichkeit, – so sehr, daß wir keine andere Welt kennen als diese auf unsere sinnliche Wahrnehmung zurückführbare, be-‚greifbare‘ Welt. Jede andere, über diese haptische Qualität hinausgehende Weltlichkeit ist meta-physisch.

Nun spricht Horn aber vom Schwarm als einer „form-losen Lebensform“. ‚Form‘-los kann ich in diesem Zusammenhang nur verstehen als ‚nicht greifbar‘, als ‚nicht anfaßbar‘. Und das wiederum hieße, daß wir es mit einer ‚grund‘-losen Lebensform zu tun hätten bzw. mit dem Schwarm als einer ‚grund‘-losen Erscheinungsform des Lebens. Wir hätten es also beim Schwarm mit einem Lebensphänomen zu tun, das seinen ‚Grund‘ nicht in der Körperwelt hat, in der wir leben. Wenn sich also Schwärme ‚deutlich zeigen‘, so haben sie diesen Grund eben doch nicht in sich, sondern irgendwo anders.

Wenn nun aber der Schwarm, wie Horn hinzufügt, gerade in dieser Formlosigkeit die Dynamik des Lebens „verkörpert“, so wird nicht nur der ‚Grund‘ des Schwarms, sondern auch der ‚Grund‘ unserer eigenen körperlichen Diesseitigkeit in ein Jenseits unserer Wahrnehmung verlegt. Wir haben wieder den impliziten Platonismus: es kommt nicht auf die Erscheinungen an, sondern das, was erscheint, kommt von woanders her, sei es nun ein wohlgeordneter Kosmos oder ein dynamisches Chaos. War der implizite Platonismus des Gestalttypus, also der Gestaltidee wie sie Plessner beschreibt, noch zurückgebunden an den Körper, so daß eine Zweiteilung der Welt nicht notwendig wurde – es gibt keine Gestaltidee außerhalb der Körperwelt –, so führt die Ungestalt, also die Körperlosigkeit des Schwarms zu so einer Zweiteilung. Denn in dieser Ungestalt haben wir eine Figur dafür, daß das Leben – von woher auch immer, aber vor allem von woanders her – emergiert. (Horn 2009, S.106)

Es gibt aber noch einen anderen Platonismus. Denken wir noch einmal an den Platonischen Ideenhimmel, von dem her die Phänomene der empirischen Welt ihren Existenzgrund haben. Man könnte sich diese Ideen auch als Körper im Wartezustand vorstellen. Sokrates spricht im „Menon“ von einer Art Seelenwanderung. Die Seele befindet sich solange im Ideenkosmos, bis sie in einem Körper zur Welt kommt und im Gefängnis bzw. in der Höhle des Körpers alles wieder vergißt, was sie vorher in aller Reinheit und Wahrheit geschaut hatte.

Interessanterweise greifen die Emergenztheoretiker auf ein ähnliches Erklärungsmodell für ihr neues Evolutionskonzept zurück. So ist z.B. von funktionslosen Eigenschaften die Rede, die nach dem herkömmlichen Konzept ständiger Mutation als Nebeneffekt entstehen, aber nicht wegselektiert werden, weil sie nicht unmittelbar ‚schädlich‘, also überlebensnachteilig sind: „Eigenschaften sind da oder entstehen, ohne dass sie sofort funktional sein müssen – sie sind Nebeneffekte, die lange bestehen können, bevor sie irgendwann plötzlich Funktionen übernehmen. Genau dieses plötzliche Ineinandergreifen solcher Eigenschaften mit Umweltbedingungen oder mit den Eigenschaften anderer Organismen (etwa in Symbiosen oder im Schwarm-Verhalten) ist das Moment evolutionärer Emergenz.“ (Horn 2009, S.114f.)

Es gibt also Eigenschaften, die noch keine sind, im Wartezustand, die erst dann zu Eigenschaften werden, wenn sie funktional werden. Wir haben also eine Art Wartesaal (wie Platons Ideenhimmel) voller Eigenschaften, die noch keine Eigenschaften sind, die aber dennoch körpergebunden sind. Wenn diese Eigenschaften den Wartesaal verlassen, also zur ‚Erscheinung‘ kommen, dann nur in ihrer derzeitigen Dysfunktionalität, also als Krankheit. Sie können aber auch einfach unsichtbar bleiben und erst auftauchen, wenn sie Umweltbedingungen vorfinden, für die sie sich als funktional erweisen. Ähnlich also wie beim Schwarm ist hier die Frage, woher die anschauliche Gestalt neuer Arten emergiert, nicht mehr in erster Linie an einen Körper gebunden, sondern an einen Kontext (Medium). Dieser Kontext ist nun im eigentlichen Sinne ‚meta-physisch‘.

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