„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 18. Juli 2011

Raoul Schrott/Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, München 2011

2. Methode
    – Interdisziplinarität
    – Korrelation
    – Statistik
3. Zum Projekt einer Ästhesiologie des Geistes (Plessner) (Sinneswahrnehmungen und seelische und geistige Prozesse4. Metaphern, Analogien und exzentrische Positionalität
5. Bewußtsein: Schaltkreise, Regelkreise und Netzwerke
6. Zum Konzept eines Kernselbsts
7. Haltungen
8. Gestaltwahrnehmung und Kategorien
9. Naivität und Kritik/Reflexion
10. Statistisches Verstehen von Sätzen und unmittelbares Verstehen von Metaphern
11. Reine Stimuli: die Sichtbarmachung von nur ungenau Geschautem
12. Regel und Regelbruch: Differenz von Sagen und Meinen
13. Poesie versus Narrativität
14. Genetisch vorprogrammiert? – Denkfiguren als Operationsmodi des Gehirns

Ich bin schon im meinem Post vom 19.03.2011 auf die Problematik der Korrelation von neuronalen Prozessen mit Bewußtseinsphänomenen eingegangen. Ich habe vorgeschlagen, statt von neuronalen Korrelaten lieber von neuronaler Funktionalität zu sprechen. Auch Schrott und Jacobs raten zu einem vorsichtigen Umgang mit dem Begriff des Korrelats. So beanstandet Jacobs z.B., daß noch gar nicht „hinreichend geklärt“ sei, welche Rolle genau Spiegelzellen in den „vernetzten Hirnarealen des Menschen“ spielen, daß sie aber dennoch immer wieder als „neuronales Korrelat“ für so unterschiedliche Phänomene wie „dem ideomotorischen Prinzip (der Idee, dass jede Vorstellung einer Bewegung mit entsprechender Aktivität in den betroffenen Muskelgruppen einhergeht)“, für das „Imitationslernen“, für die „menschliche() Sprachentwicklung und Kommunikation“, für die „Fähigkeit, sich mental in andere hineinzuversetzen“ und für das „ästhetische() Empfinden“ herangezogen werden. (Vgl. Jacobs 2011, S.24)

Entgegen einer einfachen 1:1-Zuordnung von Bewußtseinsprozessen und Schaltkreisen bzw. Netzwerken muß Jacobs zufolge festgehalten werden, daß prinzipiell „ein und dasselbe Hirnareal (oder ein und derselbe Neuronenverbund) an mehreren psychischen Phänomenen beteiligt sein kann; und umgekehrt ein und derselbe mentale Vorgang auf einer synchronisierten Rekrutierung von mehreren neuronalen Netzwerken basieren kann.“ (Vgl. Jacobs 2011, S.25) – Auf keinen Fall läßt sich also zwischen neuronalen Prozessen und Bewußtseinsphänomen eine einfache Kausalitätsbeziehung konstruieren, da „eine neuronale Aktivität ... sowohl Ursache wie Folge eines mentalen Vorgangs sein“ könne. (Vgl.ebd.) Die „Vorstellung einer Deckungsgleichheit zwischen neuronaler und geistiger Aktivität, der zufolge eine bestimmte neuronale Aktivität notwendige und hinreichende Bedingung eines bestimmten geistigen Phänomens ist“, ist deshalb nicht als eine Wirklichkeitsbeschreibung zu verstehen. Sie hat lediglich einen „heuristischen Wert“. (Vgl. ebd.)

Jacobs geht deshalb sogar so weit, daß man mittels „Kombination verschiedener neurowissenschaftlicher Methoden“ zur Klärung des Verhältnisses zwischen neuronalen Prozessen und Bewußtseinsphänomen lediglich zu „Kausalnarration(en)“ kommen könne. (Vgl. Jacobs 2011, S.25) An anderer Stelle heißt es bezüglich „kortikale(r) Korrelate zu Farbphänomenen“, daß damit nicht gemeint sei, daß „es in diesen Prozessen selbst so etwas wie diese Farben gibt“. Farben existieren als „Phänomene“ und nicht als neuronale Prozesse. (Vgl. Jacobs 2011, S.154)

Jacobs bezieht sich dabei auch auf ein mit der Gestaltwahrnehmung einhergehendes neurologisches Phänomen („Aktivierungsmaxima im Gamma-Frequenzspektrum“), das Wolf Singer als Korrelat von Gestaltphänomenen beschreibt und als Erklärung „für das Rätsel“ anbietet, „das die neuroanatomische Trennung spezialisierter Verarbeitungsareale im Hinblick auf die Gestaltwahrnehmung aufwirft“. (Vgl. Jacobs 2011, S.154) Jacobs bezweifelt aber, daß das von Singer beschriebene Phänomen erklären kann, wie es das Gehirn schafft, „die Zusammengehörigkeit derjenigen Nervenzellen, die im gleichen Rhythmus feuern“, zu „interpretieren“: „Noch sind keine Gehirnpartien oder Netzwerke identifiziert, welche auf die anderswo synchron feuernden Neuronen selektiv reagieren.“ (Vgl. Jacobs 2011, S.155)

Allerdings schwächt Jacobs seine Zweifel gleich wieder ab, indem er anmerkt: „Aber vielleicht reicht bereits die bloße physikalische Gleichzeitigkeit zweier (oder mehrerer) ‚Neuronenfeuer‘, um Gestalteindrücke zu erzeugen, ohne dass das Gehirn eine weitere Instanz dafür benötigte.“ (Jacobs 2011, S.155) – Um diese Vermutung als einigermaßen plausibel erscheinen zu lassen, müßte man allerdings davon ausgehen, daß für einen bestimmten Gestalteindruck alle anderen Gehirnaktivitäten unterbunden werden müßten. Denn das bloße synchrone Feuern einiger Neuronen ist doch angesichts der überwältigenden Gesamttätigkeit des Gehirns ein recht armseliges und jedenfalls nicht gerade hinreichendes Unterscheidungsmerkmal. Wenn das Gehirn insgesamt global aktiv bleibt, feuern so viele Netzwerke gleichzeitig, daß eine wiederum bloß durch Gleichzeitigkeit gewährleistete Synchronisation als lächerlich erscheint. Es liegt nach wie vor näher, von der Notwendigkeit eines versammelnden Bewußtseins auszugehen, das die entsprechenden Areale zusammenhält und so Gestaltwahrnehmung gewährleistet.

Letztlich bleibt festzuhalten, daß die Redeweise von neuronalen Korrelaten höchst problematisch ist. Es erscheint mir auch als überflüssig, an dieser Redeweise wegen ihres heuristischen Wertes festhalten zu wollen. Es reicht völlig aus, von der neuronalen Funktionalität für Bewußtseinsphänomene auszugehen. Der Begriff des Korrelats sollte wegen seiner Mißverständlichkeit besser vermieden werden.

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