„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 26. Juli 2011

Raoul Schrott/Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, München 2011

2. Methode
    – Interdisziplinarität
    – Korrelation
    – Statistik
3. Zum Projekt einer Ästhesiologie des Geistes (Plessner)
4. Metaphern, Analogien und exzentrische Positionalität
5. Bewußtsein: Schaltkreise, Regelkreise und Netzwerke
6. Zum Konzept eines Kernselbsts (Damasio)
7. Haltungen
8. Gestaltwahrnehmung und Kategorien
9. Naivität und Kritik/Reflexion
10. Statistisches Verstehen von Sätzen und unmittelbares Verstehen von Metaphern
11. Reine Stimuli: die Sichtbarmachung von nur ungenau Geschautem
12. Regel und Regelbruch: Differenz von Sagen und Meinen
13. Poesie versus Narrativität
14. Genetisch vorprogrammiert? – Denkfiguren als Operationsmodi des Gehirns

Das letzte Kapitel von „Gehirn und Gedicht“ handelt von „Denkfiguren“ (Schrott 2011, S.423-492), die analog zu den schon erwähnten „figurativen Täuschungen“ unser Denken bestimmen. Dabei handelt es sich nicht um ein logisches System von Kategorien, sondern um ein ana-logisches System von „Stilfiguren“, von denen es, so Schrott, „im Wesentlichen“ „nicht mehr als ein Dutzend“ gibt. (Vgl. Schrott 2011, S.428) Zu diesen Stilfiguren bzw. Tropen gehören die Negation (einfache wie doppelte Verneinung in Form der Litotes, der Antithesis, des Oxymorons und des Chiasmus (vgl. Schrott 2011, S.429-434)), Adynaton und Aposiopesis (vgl. Schrott 2011, S.442-448), Metalepse (S.449-455), Synekdoche und Metonymie (vgl. Schrott 2011, S.456-466), Ironie, Meiosis und Hyperbel (Schrott 2011, S.467-481) sowie Bildlogik und Katachrese (Schrott 2011, S.482-488). Als letzte Stilfigur zählt Schrott das Gedicht auf. (Vgl. Schrott 2011, S.489f.)

Die Negation wird von Schrott, einleitend zu den Stilfiguren insgesamt, als eine spezifisch menschliche Kulturleistung beschrieben, die in der Natur nicht vorkommt: „Es gibt, wie uns die Philosophen lehren, keine Negativa in der Natur, wo jede Situation nur positiv sein kann: das, was sie ist. Uns etwas vorzustellen, was nicht ist, dieses Paradoxon ermöglicht uns das Virtuelle der Imagination. Es aber zur Basis eines Diskurses zu machen, das wird in diesem Umfang erst durch die Schrift möglich.“ (Schrott 2011, S.429) – Schrott parallelisiert die Stilfiguren der Negation mit der Einführung von Geldwirtschaft und Schrift, also als eine spezifische Leistung literaler Kulturen: „Im Hinblick auf das bereits Gesagte ist es sicher nicht zu weit gegriffen, darin auch eine Reaktion auf jenen Wirklichkeitsverlust zu sehen, den Geldwirtschaft wie Schriftwesen mit sich bringen, indem sie nur mehr die symbolische Präsenz von real Abwesendem darstellen.“ (Ebd.)

Die Fähigkeit, durch Negation Anwesendes mit Abwesendem zu überblenden und z.B. eine intakte, unversehrte Stadt vor dem farbig ausgemalten Hintergrund ihrer vermiedenen Zerstörung intensiver hervortreten zu lassen, als es mit dem bloßen Verweis auf ihre Unversehrtheit möglich gewesen wäre (vgl. Schrott 2011, S.429f.), beruht darauf, daß die Schrift erst jene „denaturierende Distanz“ (Schrott 2011, S.380) zwischen dem Autor, dem Leser und der Lebenswelt schafft, die Assmann als „zerdehnte Situation“ beschreibt (vgl. meinen Post vom 29.01.2011). Erst wenn Ort und Zeit des Schreibens, Lesens und des im Schreiben und Lesen aktualisierten Geschehens nicht mehr, wie man es in oralen Kulturen gewöhnt ist, zusammenfallen, werden negative Denkfiguren möglich: „In einer oralen Kultur zeichnet sich Wissen durch empathische Nähe und gemeinschaftliche Identifikation aus. Die Bedingungen für ‚Objektivität‘ schafft erst das Schreiben, das den Wissenden vom Wissen trennt. Die mündliche Tradition hingegen kennt dafür nur die Idee präsentischer Auktorialität: Wissen erhält seine Autorität durch die Person, die es verkörpert ... Wo die Poesie der oralen Kultur stets durch ihre unmittelbare Relevanz für ein Publikum auf Gegenwart ausgerichtet ist – selbst die ältesten Stoffe werden ja immer wieder neu erzählt –, lassen Texte auch die Vergangenheit einer Geschichte zu. Der Blick auf alte Manuskripte ermöglicht Historizität.“ (Schrott 2011, S.381) – Und weiter: „In einer oralen Kultur ist das Denken situativ und konkret statt konzeptionell und abstrakt. Die Konzepte der mündlichen Überlieferung bestehen aus operationellen Referenzrahmen, deren Abstraktionsgehalt minimal ist, weil sie sich beständig auf die menschliche Lebenswelt zurückbeziehen.“ (Ebd.)

Es ist deshalb nicht weiter verwunderlich, daß Schrott alle weiteren Denk- bzw. Stilfiguren bis hin zur Ironie, die er im Folgenden vorstellt, mit der zeitgleichen Einführung der Geldwirtschaft und der Schrift einhergehen läßt, und daß er sie auf die Epoche der „griechischen ‚Aufklärung‘“ zurückführt, in der der Mensch zum ersten Mal das „Maß aller Dinge“ wurde, „‚sowohl der Dinge, die da sind und dass sie sind, als auch der Dinge, die nicht sind und dass sie nicht sind‘.“ (Schrott 2011, S.430)

Aber gerade weil Schrott diese Zusammenhänge so plausibel darstellt und herleitet, begreife ich nicht, wie er analog zu den Denk- und Stilfiguren von den „Operationsmodi des Gehirns“ auf eine Weise sprechen kann, die das alles wieder entwertet. Unter Umgehung der historischen Dimension schließt Schrott hier drei Ebenen kurz: die kulturelle, die neurophysiologische und die genetische: „Sie (die Operationsmodi – DZ) lassen sich auch nicht mehr vom kulturellen Kontext, für den sie geschaffen wurden, trennen. Was genetisch in uns vorprogrammiert ist, benötigt einen soziokulturellen Rahmen, um sich entfalten zu können. Die Erfindung der Schrift mit ihrer Kombinatorik von Buchstaben ist ein gutes Beispiel, in welchem Ausmaß neue Mechanismen inkorporiert werden können: das Lesen ist inzwischen fast schon zu einem Instinkt geworden; es hat seine artifiziellen Inputs zum Programm gemacht und es zu einer neuronalen Hardware umgeformt – sodass ein Buch letztlich eine Art CD-ROM ist, die wir in unserem Kopf abzuspielen gelernt haben.“ (Schrott 2011, S.370)

Der ganze Zusammenhang, den Schrott hier beschreibt, beinhaltet letztlich nichts anderes als drei verschiedene Evolutions- und Entwicklungsprozesse, in dem genetische (biologische Evolution), kulturelle (kulturelle Evolution) und neurophysiologische wie psychosomatische (individuelle Entwicklung) Prozesse sich wechselseitig tragen und ermöglichen. So weit kann ich Schrott zustimmen.

Nicht mehr zustimmen kann ich ihm allerdings, wo er von genetischer Vorprogrammierung spricht. Welche genetischen Anlagen könnten denn genau gemeint sein, wenn von der „Erfindung der Schrift mit ihrer Kombinatorik von Buchstaben“ die Rede ist? Welche Gene kämen dafür in Frage, die nur darauf ‚warten‘, daß die passenden kulturellen Umstände eintreten, damit sie ihre Potentiale endlich entfalten können? Ähneln diese Gene vielleicht jenen, die die ‚Intelligenz‘ oder die ‚Begabung‘ bestimmen, deren Ausprägung ja ebenfalls von Milieu und Kultur abhängt? – Was aber haben diese Gene in den langen dunklen Zeiten der Oralität gemacht, in denen sie überhaupt keine Gelegenheit hatten, sich zu Schriften und Buchstaben auszuwirken?

Schon an dem Zitat selbst, in das Schrott diese ominöse genetische Vorprogrammierung einfließen läßt, wird eigentlich deutlich, daß die Schriftlichkeit ausschließlich kulturell bedingt ist und daß erst dieser kulturelle Kontext – z.B. in Form von Schulunterricht – zu einer ‚Umformung‘ der „neuronalen Hardware“ auf individueller Ebene führt. Wir bewegen uns hier in historischen und in individuell-biographischen Zeiträumen und nicht in biologisch-evolutionären. Wie könnte es auch anders sein? Denn „es gibt“ wie Schrott selbst schreibt, „keine Negativa in der Natur“. (Vgl. Schrott 2011, S.429) – Die Schrift ist aber – das ist ja Schrotts wichtige These – in erster Linie das Ergebnis einer Negationsleistung.

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