„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 22. Juli 2011

Raoul Schrott/Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, München 2011

2. Methode
    – Interdisziplinarität
    – Korrelation
    – Statistik
3. Zum Projekt einer Ästhesiologie des Geistes (Plessner)
4. Metaphern, Analogien und exzentrische Positionalität
5. Bewußtsein: Schaltkreise, Regelkreise und Netzwerke
6. Zum Konzept eines Kernselbsts (Damasio)
7. Haltungen
8. Gestaltwahrnehmung und Kategorien
9. Naivität und Kritik/Reflexion
10. Statistisches Verstehen von Sätzen und unmittelbares Verstehen von Metaphern
11. Reine Stimuli: die Sichtbarmachung von nur ungenau Geschautem
12. Regel und Regelbruch: Differenz von Sagen und Meinen
13. Poesie versus Narrativität
14. Genetisch vorprogrammiert? – Denkfiguren als Operationsmodi des Gehirns

Wenn ich in diesem Post auf Schrotts enge Verknüpfung von Gestaltwahrnehmung und Kategorienbildung eingehe (vgl. Schrott 2011, S.75f., 413, 483 u.ö.), die im Diskussionszusammenhang von „Gehirn und Gedicht“ durchaus plausibel ist, so deshalb, weil ich die Gefahr sehe, daß wir die Differenz aus den Augen verlieren. Ohne mich jetzt auf eine detaillierte Diskussion des Kategoriebegriffs einzulassen, muß es für diesen Post reichen, wenn ich festhalte, daß Kategorien vor allem Denkprinzipien sind. Nach dem „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ handelt es sich bei den Kategorien um „kritische Rückwendung(en) der philosophischen Reflexion auf sich selbst“. (Vgl. Bd.4 (1976), I-K, Spalte 714) Sie haben vor allem die „disputationslogische bzw. argumentationslogische Funktion, Verwechslungen des Bedeutungssinnes von ‚Sein‘ zu verhindern.“ (Vgl. Bd.4 (1976), I-K, Spalte 717)

Kurz gesagt geht es bei den Kategorien darum, den zulässigen Gebrauch von Begriffen festzulegen und so Mißverständnisse zu vermeiden. Der Hinweis auf den Bedeutungssinn von ‚Sein‘ gibt hier näheren Aufschluß. Mit dem ‚Sein‘ kann z.B. das Vorhandensein eines realen Gegenstands gemeint sein oder die Natur des Menschen (wer ist der Mensch?) oder die Idee der Freiheit (was ist Freiheit?). In allen diesen Hinsichten ist ‚Sein‘ etwas Verschiedenes, und Kategorien legen fest, welches ‚Sein‘ in welchem Zusammenhang jeweils gemeint sein kann. Würde ich z.B. die Frage nach der Natur des Menschen mit Hinweisen auf seine Biologie beantworten wollen, würde ich einen Kategorienfehler begehen. Die Biologie des Menschen gehört zur Welt der realen Gegenstände, und nicht in eine Welt, für die Sinnfragen relevant sind.

Kategorien – ob natürlicher oder transzendentaler Herkunft – sind also dazu da, das Gegenteil von dem zu bewirken, was Metaphern leisten: nämlich zu verhindern, daß verschiedene Begriffe und Strukturen übereinandergeblendet werden, z.B. psychische und biologische Strukturen. Sie sind gewissermaßen Abstandshalter: sie trennen die Bereiche voneinander, um zu verhindern, daß sie zusammenfallen. Aber vielleicht sorgen sie auf diese Weise sogar dafür, daß Metaphern überhaupt funktionieren! Denn würden die verschiedenen, aufeinander bezogenen Bereiche tatsächlich zusammenfallen, würde auch der Denkraum implodieren, den die Metaphern Schrott zufolge ja gerade eröffnen sollen. Kategorien bilden deshalb in gewisser Weise die Stützpfeiler des Denkraums, um den die Metaphern ihre Folien wölben.

Bezogen auf Schrotts Verknüpfung von Gestaltwahrnehmung und Kategorienbildung hätten wir es also zwar auf den ersten Blick mit einem Kategorienfehler zu tun. Denn wenn Kategorien Denkprinzipien sind, so ist Wahrnehmung – und Wahrnehmung ist immer zugleich auch Gestaltwahrnehmung – ein Realitätsprinzip. Schrott vermischt nun Realitäts- und Denkprinzipien. Dennoch glaube ich, daß dieser Vorwurf nicht sachangemessen ist. Zum einen wegen der von Schrott zurecht behaupteten Notwendigkeit, von Kategorien getrennte Strukturen aufeinander zu beziehen. Zum anderen aber auch, weil sich so die Herkunft unserer Kategorien klären läßt. So wenig Denkprinzipien jemals zu Realitätsprinzipien gemacht werden dürfen, so unbestreitbar scheint es mir doch zu sein, daß diese Denkprinzipien nicht ‚vom Himmel fallen‘. Mit anderen Worten: ich glaube nicht an eine transzendentale Herkunft von Denkprinzipien.

Ich halte es für plausibler, daß wir die Kategorien, an denen wir uns tagtäglich beim Denken und Sprechen orientieren – und um diese Kategorien geht es Schrott in erster Linie und eben nicht um ihre philosophische Begründung –, tatsächlich von unserer Gestaltwahrnehmung hernehmen. Das ist ja genau der Grund, warum es so etwas wie eine ‚Denkhaltung‘ oder eine ‚Lesehaltung‘ überhaupt geben kann: beim Denken und beim Lesen ist eben der ganze Körper involviert und nicht nur ein paar kognitive und neurologische Vorgänge ‚in unserem Kopf‘. So heißt es bei Schrott, daß „die psychischen Strukturen, mit denen wir Kategorien erstellen,“ auf dem aufbauen, „was wir als gestalthaft wahrnehmen, den mentalen Bildern, die wir entwerfen, der Art und Weise, mit der wir unser Wissen über die Dinge organisieren. Was etwas ist, hängt nicht nur von den natürlichen Eigenschaften eines Objektes ab, sondern im gleichen Maße davon, wie unser Körper sie erfährt. Und dies strukturiert unsere Kategorienbildung: wir begreifen Dinge räumlich als BEHÄLTNIS; hierarchisieren alles darin nach dem Prinzip TEIL-GANZES und OBEN-UNTEN; sehen die Relationen als VERBINDUNGEN; ordnen sie nach dem Schema ZENTRUM-PERIPHERIE; gehen aus vom Schema URSPRUNG-WEG-ZIEL; und unterscheiden je nach Wichtigkeit zwischen VORDERGRUND-HINTERGRUND.“ (Schrott 2011, S.413)

Der Körperleib und seine räumliche Orientierung, seine Kinästhesie (vgl. Schrott 2011, S.84), bildet also die Grundlage unserer Kategorienbildung. Diese Kategorien sind aber nun nicht mehr trennscharf, wie sie es im klassisch-philosophischen Sinne sein müssen, wenn sie ihre Aufgabe, mißverständliche Aussagen über den Menschen und die Welt zu vermeiden, erfüllen sollen: „Dabei zeigt sich eine Kategorienbildung, die nicht nach rationalen Kriterien sortiert. ... Dabei kommen vor allem vier Prinzipien zur Geltung: a) was wir psychologisch als Gestalt wahrnehmen (ohne dass diese Kategorisierung der Wirklichkeit entsprechen muss); b) in welchen mentalen Bildern wir unsere Umwelt begreifen; c) wie unser Körper und ein Objekt sich zueinander verhalten; und d) wie allgemein unsere subjektive Erfahrung Welt zu strukturieren imstande ist.“ (Schrott 2011, S.75f.)

Schrotts Kategorien werden nun ähnlich subjektiv wie die Gestaltwahrnehmung. Sie erhalten Bedeutungshöfe (Schrott 2011, S.64f.) und lassen sich so kaum noch von Metaphern unterscheiden. Von den eigentlichen Metaphern unterscheiden sie sich nur noch durch ihre denkräumliche Orientierungsfunktion. Aber ähnlich wie Metaphern haben wir es bei diesen Kategorien nicht mehr mit „rationalen Hierarchien und Listen“ zu tun, sondern mit „radial von einer Bedeutungsmitte ausgehenden Kreisen, die sich mit anderen wiederum überschneiden. Dies bedingt all jene Unschärfen, welche die Semantik in logischen und philosophischen Systemen auszumerzen bemüht ist, die von der Poesie jedoch bewusst eingesetzt werden, um uns die mit einer einzigen Perspektive nie vollständig erfassbare Vielgestaltigkeit der Welt wieder vor Augen zu führen.“ (Schrott 2011, S.76)

Wir haben es also nicht mehr mit philosophischen Kategorien zu tun, sondern mit „natürlichen“ (Jacobs 2011, S.105), irgendwie lebensweltlichen Kategorien, die mit dem, was Kategorien ursprünglich einmal leisten sollten, nicht mehr viel gemein haben. Letztlich haben wir es wohl auch gar nicht mehr mit Denkkategorien zu tun, sondern mit Wahrnehmungskategorien, auf denen das Denken unvermeidlich beruht. Das macht die eigentlichen Denkkategorien nicht überflüssig, ganz im Gegenteil! Umso wichtiger nämlich ist die ständige kritische Aufmerksamkeit auf die metaphorische Verführung unseres Denkens, die verschiedenen Bereiche nicht einfach nur zusammenzubringen, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, sondern sie aufeinander zu reduzieren, sie also in sich zusammenfallen zu lassen und so unseren Verstand zu schwächen. Ohne Kategorien im ursprünglichen Sinne funktioniert nämlich jene zweite Naivität nicht, auf die ich hier immer so viel Wert lege. Vielmehr würde sie außer Kontrolle geraten, weil ihr der kritische Gegenpol fehlt.

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