„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 21. Juli 2011

Raoul Schrott/Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, München 2011

2. Methode
    – Interdisziplinarität
    – Korrelation
    – Statistik
3. Zum Projekt einer Ästhesiologie des Geistes (Plessner)
4. Metaphern, Analogien und exzentrische Positionalität
5. Bewußtsein: Schaltkreise, Regelkreise und Netzwerke
6. Zum Konzept eines Kernselbsts (Damasio)
7. Haltungen
8. Gestaltwahrnehmung und Kategorien
9. Naivität und Kritik/Reflexion
10. Statistisches Verstehen von Sätzen und unmittelbares Verstehen von Metaphern
11. Reine Stimuli: die Sichtbarmachung von nur ungenau Geschautem
12. Regel und Regelbruch: Differenz von Sagen und Meinen
13. Poesie versus Narrativität
14. Genetisch vorprogrammiert? – Denkfiguren als Operationsmodi des Gehirns

Hatte ich im letzten Post vom Bewußtsein als dem Rätsel gesprochen, wie es das Gehirn schafft, die Zusammengehörigkeit derjenigen Nervenzellen zu identifizieren und zu interpretieren, die im gleichen Rhythmus feuern, so hat Antonio R. Damasio eine mögliche Antwort dieses Rätsels mit dem Konzept des Kernselbsts genauer ausformuliert. (Vgl. Antonio R. Damasio: Descartes’ Irrtum, Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, Berlin 5/2007 (1994), S.144, 147, 223, 313, 318f., 322f., 342, und: ders., Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, Berlin 8/2009 (1999), S.30f., 204-235 u.ö.) Bei Schrott finden sich an verschiedenen Stellen Hinweise auf die neurophysiologischen Grundlagen eines solchen Kernselbsts. Damit meine ich seine Hinweise auf jenes kurze Zeitfenster unserer bewußten Aufmerksamkeit, das Schrott auch ganz ähnlich zu Damasios Kernselbst als „neuronalen Puls“ (Schrott 2011, S.371f.) umschreibt.

Dieser neuronale Puls fokussiert unsere Aufmerksamkeit auf ein Zeitfenster zwischen 200-300 Mikrosekunden (vgl. Schrott 2011, S.33 u.ö.) und 3-4 Sekunden (vgl. Schrott 2011, S.372), von Schrott auch als „Trägerwelle“ beschrieben, „die sich vom ‚Rauschen‘ abhebt“ (vgl. Schrott 2011, S.373). Das entspricht der Leistung des Kernselbsts bei Damasio als ‚Hervorheben‘ eines Objekts aus dem räumlichen und zeitlichen Kontext. (Vgl. Damasio 8/2009 (1999), S.205) Das macht auch gleich deutlich, daß das Kernselbst auf fundamentaler Ebene die Gestaltwahrnehmung organisiert.

Die von Schrott angesprochenen 200-300 Millisekunden bilden jedenfalls so etwas wie Bewußtseinsatome: unterhalb dieses Zeitraums verlaufen die ‚Bewußtseins‘-Prozesse unbewußt. In den „statistisch dominanten 3-Sekunden-Zyklus“ (Schrott 2011, S.372) passen also rein rechnerisch „4 bis 5 Informationseinheiten gleichzeitig“ (Schrott 2011, S.56). Das ist Schrott zufolge der Grund, warum es in allen Weltgegenden und in allen Sprachen „durchschnittlich zwischen 2 und 4 Sekunden“ braucht, „um einen Vers zu rezitieren“. (Vgl. Schrott 2011, S.S.372)

Doch zurück zu Damasios Kernselbst: Damasio beschreibt das Kernselbst als „ein flüchtiges Phänomen, das für jedes Objekt, mit dem das Gehirn interagiert, neu erschaffen wird“ (Damasio 8/2009 (1999), S.30). Es ist so eng mit den Objekten verknüpft, auf die hin es unsere Aufmerksamkeit fokussiert, daß diese Objekte den „Impuls“ bilden, der den fortdauernden, einen Bewußtseinsstrom erzeugenden „Pulsschlag“ des Kernselbsts „von Augenblick zu Augenblick“ initiiert. (Vgl. Damasio 8/2009 (1999), S.213 und Damasio 5/2007 (1994), S.144, 147, 313, 322, 342)

Damasio vergleicht diesen vom pulsierenden Kernselbst rhythmisch strukturierten Bewußtseins- bzw. Gedankenstrom auch mit einer Musik, die, „solange sie forttönt“, wir selbst sind (vgl. Damasio 8/2009 (1999), S.208f.); oder er beschreibt sie als einen „nichtsprachlichen Bericht“, der „dem gerade angelegten neuronalen Muster (innewohnt)“: „Vom Geschichtenerzählen bekommen Sie kaum etwas mit, weil die Vorstellungen, die die geistige Bühne beherrschen, jene sind, deren Sie  sich in diesem Augenblick bewusst sind – die Objekte, die Sie sehen oder hören –, und nicht jene, die flüchtig ihr Selbst-Gefühl im Akt des Erkennens wachrufen. Manchmal ist alles, was Sie bemerken, das Geflüster einer nachfolgenden sprachlichen Übersetzung, einer Schlussfolgerung, die sich aus dem Bericht ergibt: Ja, ich bin es, der sieht oder hört oder berührt. Doch obwohl dieser Wink nur halb erahnt ist, wenn das Geschichtenerzählen durch eine neurologische Erkrankung unterbrochen wird, dann wird auch Ihr Bewusstsein aufgehoben – und der Unterschied ist gewaltig.()“ (Damasio 8/2009 (1999), S.209)

Diese Leistung des Kernselbsts als „Trägerwelle“ (Schrott) bzw. als „Puls“ unseres Bewußtseinsstroms, wird nicht durch einen lokalisierbaren Arbeitsspeicher oder ein lokalisierbares Netzwerk von Schaltkreisen bewirkt. Vielmehr haben wir es mit einer „Gesamtheit“ von „Hirnmechanismen“ zu tun, „die fortwährend und unbewusst dafür sorgen, dass sich die Körperzustände in jenem schmalen Bereich relativer Stabilität bewegen, der zum Überleben erforderlich ist. Ständig repräsentieren diese Mechanismen – unbewusst – den Zustand des lebendigen Körpers in seinen vielen Dimensionen. Diesen Aktivitätszustand innerhalb der Gesamtheit der betreffenden Mechanismen bezeichne ich als Proto-Selbst, den unbewussten Vorläufer jener Stufen des Selbst, die in unserem Geist als bewusste Protagonisten des Bewusstseins in Erscheinung treten: Kernselbst und autobiografisches Selbst.“ (Damasio 8/2009 (1999), S.36)

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