„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 25. Juli 2011

Raoul Schrott/Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, München 2011

2. Methode
    – Interdisziplinarität
    – Korrelation
    – Statistik
3. Zum Projekt einer Ästhesiologie des Geistes (Plessner)
4. Metaphern, Analogien und exzentrische Positionalität
5. Bewußtsein: Schaltkreise, Regelkreise und Netzwerke
6. Zum Konzept eines Kernselbsts (Damasio)
7. Haltungen
8. Gestaltwahrnehmung und Kategorien
9. Naivität und Kritik/Reflexion
10. Statistisches Verstehen von Sätzen und unmittelbares Verstehen von Metaphern
11. Reine Stimuli: die Sichtbarmachung von nur ungenau Geschautem
12. Regel und Regelbruch: Differenz von Sagen und Meinen
13. Poesie versus Narrativität
14. Genetisch vorprogrammiert? – Denkfiguren als Operationsmodi des Gehirns

In meinen beiden Posts vom 01.05.2011 zu Mayer-Schönberger war davon die Rede gewesen, daß das digitale Gedächtnis die Zeitdimension kollabieren läßt. Beim digitalen Gedächtnis haben wir es im Unterschied zu analogen Gedächtnismedien und dem biologischen Gedächtnis des Menschen mit einer Art von photographischem Gedächtnis zu tun, das sich nicht mehr verändert.

Interessanterweise beschreibt nun Schrott die Wirkungsweise der Poesie ganz ähnlich: auch Gedichte versetzen den Rezipienten in eine nahezu zeitlose Dimension, in der der Zeitfluß verlangsamt und in gewisser Weise sogar ganz aufgehoben wird: „Der Prozessor, mit dem wir die gebundene Sprache eines Gedichts gewissermaßen ‚scannen‘, um ihre musikalischen Strukturen zu erfassen, bewirkt aber noch etwas anderes, das für die Poesie typisch ist: unser prospektives und zugleich retrospektives Hören lässt Gedichte relativ zeitlos und statisch wirken. Weil die Repetition der metrischen Muster letztlich den Eindruck von Stillstand vermittelt, kann im Gedicht deshalb weniger gut erzählt werden als in der Prosa. ... Metrum, Reim und die Prosodie der Syntax befördern zyklische Wiederholbarkeit – sodass jede neue Verszeile zunächst nur eine Variation ein und desselben Grundmotivs darstellt. Dadurch ergibt sich insgesamt eine Art Zeitlupeneffekt ...“ (Schrott 2011, S.337)

Dieser Zeitlupeneffekt macht Schrott zufolge die Poesie mit der Photographie vergleichbar und unterscheidet sie zugleich von der Prosa. (Vgl. Schrott 2011, S.337f.) Mit anderen Worten: Gedichte eignen sich schlecht für epische, also im eigentlichen Sinne narrative Texte. Umso besser eignen sie sich als Gedächtnismedien: „Sie (die Poesie – DZ) wurde einzig und allein erfunden, weil sich durch die Koppelung von Musik und Sprache das Erinnerungsvermögen steigern lässt. In einer Zeit, die noch keine Schrift kannte, war Poesie die einzige Möglichkeit, Wissen in einem größeren Umfang zu fixieren, indem die Worte in einer musikalischen Matrix abgespeichert wurden ...“ (Schrott 2011, S.324)

Mit der Musik teilt sich die Poesie eine bestimmte neurologische Funktion, die Schrott auch als „musikalischen Prozessor“ (Schrott 2011, S.337) bezeichnet.  Dieser musikalische Prozessor bewirkt, „dass wir Musik auch unabhängig von der uns unmittelbar bewussten Wahrnehmung verarbeiten“. (Vgl. Schrott 2011, S.333) Er ‚tastet‘ „gehörte Strukturen automatisch von vorne“ ‚ab‘ und ordnet sie in dieser Reihenfolge: „Das gilt sogar für die Musik, die wir ‚im Kopf hören‘: wir holen die Töne zwar aus unserem Langzeitgedächtnis, der Prozessor bearbeitet sie aber weiterhin so, als wäre es das erste Mal – womit der Eindruck entsteht, wir würden sie gleichsam ‚von außen‘ hören.“ (S.334)

Die Art und Weise, wie dieser musikalische Prozessor funktioniert, erinnert an Assmanns Beschreibung der Funktionsweise von Mythen. (Vgl. meinen Post vom 29.01.2011) Nach Assmann orientieren sich die Menschen in ihrer Lebensführung an mythologischen Strukturen, die sie einerseits wiederholen (‚zitieren‘), aber dennoch andererseits so leben, als wäre es das erste Mal. Da wir also Assmann zufolge mythische Strukturen nach-er-leben und sogar nach-leben, als wäre es das erste Mal, steht zu vermuten, daß auch hier dieser musikalische Prozessor am Werk ist. Denn ähnlich, wie er es uns ermöglicht, ein musikalisches Werk immer wieder ästhetisch zu genießen, weil es uns immer wieder als neu erscheint, könnte er auch für den Effekt verantwortlich sein, den Assmann als „zitathaftes Leben“ beschreibt.

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