„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 5. Juni 2011

Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a.M. 5/2011

1.    Rückblick auf de Waal
2.    Methode
3.    Referenzrahmen, Rollenerwartungen und Lebenswelt
4.    Rollenerwartungen und Arbeitsteilung
5.    Mentalitäten, Eigenschaften und Ideologien
6.    Wertewandel und shifting baselines
7.    Gruppendenken und Pfadabhängigkeiten
8.    „Drittes Reich“ und Differenz
9.    Zur Bedeutung individuellen Urteilens und Handelns

Von Anfang an geben Neitzel und Welzer dem individuellen Urteilen und Handeln keinen Spielraum. Auch wenn sie das Individuum zunächst von Reiz-Reaktionsmechanismen freisprechen (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.16), so nur, um es im nächsten Atemzug zu einer Marionette äußerer Umstände, dem „Referenzrahmen“, zu machen, von dem es sich nur „relativ selten“ freimachen kann, um „Neues“ zu sehen und zu denken (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.17).

Auch die Weigerung, moralische Fragen bei der Analyse des Gewaltphänomens auch nur in Betracht zu ziehen, ja, sogar ganz im Gegenteil von vornherein eine prinzipiell unmoralische Perspektive einnehmen zu wollen (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.18), ist nicht gerade dazu geeignet, individuelles Urteilen und Handeln zu berücksichtigen: „Vor dem Hintergrund der Rollentheorie sind Fragen danach, wieso jemand im Krieg Menschen getötet oder sich an Kriegsverbrechen beteiligt hat, sinnvollerweise zunächst keine moralischen, sondern empirische Fragen. Moralisch können sie sinnvoll nur dann gestellt werden, wenn die Handlungsspielräume der Einzelnen greifbare Alternativen enthielten, die nicht gewählt wurden. Wie man weiß, gilt das zum Beispiel für die Verweigerung der Teilnahme an sogenannten Judenaktionen, was ohne juristische Konsequenzen blieb,() und für die unendlich zahlreichen Fälle von lustvoller Gewaltausübung, die uns in diesem Buch noch begegnen werden. Aber für viele andere Geschehenszusammenhänge im Krieg muss man nüchtern konstatieren, dass die Wahlmöglichkeiten und Handlungsalternativen, die die Pluralität der Rollen im zivilen Alltag bereithält, nicht existieren.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.34)

Was die angebliche „Alternativlosigkeit“ des Einzelnen in totalen Situationen im Krieg betrifft, brauchen wir an dieser Stelle nur nochmal auf de Waals Argument für die eher friedfertige Natur des Menschen zu verweisen: daß im Vietnamkrieg 50.000 Patronen verschossen wurden, um einen einzigen Soldaten zu töten, bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als daß der Einzelne immer die Wahl hat, – und sei es auch nur die, danebenzuschießen! Es ist eine echte Wahl, die mit jedem Schuß, der abgefeuert wird, aufs Neue getroffen wird. – Oder anders: wenn Soldaten im Konvoi Zwangsarbeiterinnen beim Vorbeifahren in den Wagen ziehen, vergewaltigen und wieder rauswerfen, so ist das klar zu definierende Gewalt, denn es gab Opfer, und es gab Täter! Und diese Gewalt ist nicht relativierbar durch zeitlichen Kontext, Kriegsgeschehen und Gruppendynamik. Diese Soldaten hatten die Wahl, diese Verbrechen nicht zu begehen. Deshalb sind sie uneingeschränkt verantwortlich, ohne daß wir, um zu dieser Feststellung zu gelangen,  aus unserer heutigen Perspektive unangemessen moralisieren müßten.

Es ist also nicht das ‚empirische‘ Material, die Abhörprotokolle, die Neitzel und Welzer sozusagen dazu ‚zwingen‘, sich von bestimmten moralischen ‚Illusionen‘ oder Vorurteilen zu ‚befreien‘. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.422) Vielmehr haben Neitzel und Welzer im vorhinein, noch bevor sie sich mit dem Material auseinandersetzten, eine moralische Entscheidung getroffen. Ihr Blick auf das Gewaltphänomen ist nicht etwa neutral oder objektiv, sondern tatsächlich in einem Sinne antimoralisch, den sie möglicherweise gar nicht gemeint hatten: Sie selbst nämlich haben sich mit ihrer konzeptionellen Beschränkung für eine bestimmte Perspektive entschieden, nämlich daß in ihren Analysen das individuelle Urteilen und Handeln keine Rolle spielen soll! Mit anderen Worten: schon ihre Entscheidung selbst ist‚antimoralisch‘, nicht etwa erst ihr methodisches Konzept.

Hinzu kommt eine leicht arrogant wirkende Selbstpositionierung der Autoren gegenüber den historischen Ereignissen. Sie billigen ihrer eigenen Gegenwart ein Monopol darin zu, wie das „Dritte Reich“ und der Zweite Weltkrieg zu beurteilen und zu bewerten sind. Nach Neitzel und Welzer können die Zeitgenossen des „Dritten Reiches“ ihre Gegenwart nicht vom Ende her, also von außen, beurteilen, und deshalb können sie auch nicht die Folgen ihres Handelns bewerten. Das können eben nur Neitzel und Welzer (und ihre Zeitgenossen). (Neitzel/Welzer 2011, S.9, 14, 25ff.u.ö.)

Sicher besteht ihr Konzept der Rahmenanalyse ja eigentlich darin, gerade die Perspektive der Betroffenen ernst zu nehmen und diese Perspektive nicht im nachhinein mit dem Wissen der Gegenwart um das Ende dieser historischen Epoche zu verfälschen: „Wir werden zeigen, dass ihre (der Soldaten – DZ) Betrachtungen und Unterhaltungen anders sind, als man es sich gemeinhin vorstellt – unter anderem, weil sie im Unterschied zu uns Heutigen nicht wissen, wie der Krieg ausgehen wird.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.14)

Neitzel und Welzer wollen die „zeitspezifischen Wahrnehmungskonzepte“ aus sich selbst heraus verstehen und sie nicht mit moralisierenden Bewertungen aus der Perspektive desjenigen, der es besser weiß, verfälschen: „... Geschichte wird nicht wahrgenommen, sie geschieht. Und erst später wird von Historikern festgestellt, was aus einem Inventar von Geschehnissen ‚historisch‘, also in irgendeiner Weise für den Lauf der Dinge bedeutsam gewesen ist. Im Alltag werden schleichende Veränderungen der sozialen und physikalischen Umwelt meist nicht registriert, weil sich die Wahrnehmung an die Veränderung ihrer Umwelten permanent nachjustiert. Umweltpsychologen nennen dieses Phänomen ‚shifting baselines‘.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.26)

Das hört sich alles sehr gut und richtig an und trifft auch prinzipiell auf meine Zustimmung. Aber das darf eben nicht dazu führen, daß die Begrifflichkeit selbst dem methodisch beschränkten Blick in die Vergangenheit so weit angepaßt wird, daß das wieder dazu beiträgt, die Phänomene, um die es geht, also die Gewaltphänomene, zu verzerren. Wenn ich im Gewaltbegriff nur den Täter berücksichtige und von vornherein – durch Entmoralisierung – die Opferperspektive ausblende, können die Analysen der Abhörprotokolle letztlich nur dazu beitragen, in aller scheinbaren Objektivität die Perspektive der Täter zu bestätigen: Sie haben gehandelt, wie sie handeln mußten (Befehlsnotstand etc.), und sie haben dabei gute Arbeit geleistet. Was sollen wir mit solchen Analysen anfangen?

Indem Neitzel und Welzer den Blick von Außen auf die historischen Ereignissen monopolisieren (und ihn sich zugleich methodisch verbieten), wird die individuelle Möglichkeit, in der konkreten historischen Situation Entscheidungen über richtig und falsch zu treffen, geleugnet. Über richtig und falsch von damals Urteile zu fällen – so Neitzel und Welzer –, das ist nur uns Heutigen vergönnt, denn wir wissen ja, wie alles ausgegangen ist. Um aber zu verstehen, daß Menschen zu jeder Zeit aus ihrer Zeit herausfallen können, so wie sie aus ihrer Lebenswelt herausfallen können (denn im Grunde geht es hier um nichts anderes: sind wir auf Gedeih und Verderb Gefangene unserer Lebenswelt?), und daß sie sich plötzlich vor die Freiheit einer Wahl gestellt sehen – ganz gleichgültig wie irgendwelche ‚Nachgeborenen‘ auch darüber urteilen mögen –, dazu bedarf es einer schlichten Anerkennung ihrer durchaus zeitgebundenen Verantwortung, anstatt sie generös von jeder Verantwortung zu ‚entlasten‘.

Auf eine rollentheoretische und gruppenpsychologische Empirie, mit der ohne zureichende Begründung des Gewaltbegriffs die Abhörprotokolle deutscher Kriegsgefangener analysiert werden, können wir verzichten.

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