„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 1. Juni 2011

Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a.M. 5/2011

1. Rückblick auf de Waal
2. Methode
3. Referenzrahmen, Rollenerwartungen und Lebenswelt
4. Rollenerwartungen und Arbeitsteilung
5. Mentalitäten, Eigenschaften und Ideologien
6. Wertewandel und shifting baselines
7. Gruppendenken und Pfadabhängigkeiten
8. „Drittes Reich“ und Differenz
9. Zur Bedeutung individuellen Urteilens und Handelns

Wenn es darum geht, festzuhalten, welcher Faktor sich im Unterschied zu Ideologien, Theorien und Überzeugungen und sogar im Unterschied zu Mentalitäten und Charaktereigenschaften auf das Handeln eines Menschen auswirkt, sprechen Neitzel und Welzer meistens von den Erwartungen, von denen jemand glaubt, daß er ihnen in einer bestimmten Situation gerecht werden soll: „In Wahrheit handeln Menschen, und das wird dieses Buch zeigen, so, wie sie glauben, dass es von ihnen erwartet wird. Und das hat viel weniger mit abstrakten ‚Weltanschauungen‘ zu tun als mit ganz konkreten Einsatzorten, -zwecken und -funktionen und vor allem mit den Gruppen, von denen sie ein Teil sind.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.15)

Bei diesen ‚Erwartungen‘ handelt es sich entweder um einen ganzen Komplex von Hintergrunderwartungen, wie sie z.B. ein Referenzrahmen darstellt (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.16-19, 22, 40f., 47, 64f., 394 u.ö.), oder es handelt sich um konkrete Rollenerwartungen (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.22f., 30-35, 64, 391f., 411f.u.ö.), die uns auf ein bestimmtes Verhalten verpflichten. Im Rahmen ihrer Referenzrahmenanalyse unterscheiden Neitzel und Welzer zwischen vier Ordnungen zunehmender Konkretheit. Der weiteste Referenzrahmen, der Referenzrahmen erster Ordnung, wird vom „soziohistorischen Hintergrundgefüge“ gebildet (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.18) und umfaßt die „Totalität“ aller möglichen Handlungsorientierungen. Als Beispiel für diesen Referenzrahmen nennen Neitzel und Welzer die christliche Kultur oder die „gefühlte Welt“. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011,  S.19)

Neitzel und Welzer sprechen auch von einer „weitgehend unbewusste(n)“ „Grundierung aller bewussten Orientierungsbemühungen“: „Eine solche Totalität zu untersuchen und darzustellen, ist unmöglich.“ (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.47) – Als diese Sinntotalität entspricht der Referenzrahmen erster Ordnung der Lebenswelt, wie wir sie hier in unseren Posts schon mehrfach thematisiert hatten.

Der Referenzrahmen zweiter Ordnung umfaßt den „soziohistorischen Raum“, womit z.B. die Geltungsdauer eines Regimes oder einer staatlichen Verfassung gemeint ist. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.19) Ein aktuelles Beispiel für diese Ebene wäre vielleicht die aktuelle Umstellung der Stromerzeugung in Deutschland auf erneuerbare Energien. Den Referenzrahmen, in dem Atomkraft noch akzeptiert wurde, gibt es nicht mehr. Hier treten wir schon in den Raum des bewußten Urteilens und Handelns ein.

Als Referenzrahmen dritter Ordnung nennen Neitzel und Welzer den „soziohistorischen Geschehenszusammenhang“ und verweisen als Beispiel auf den zweiten Weltkrieg. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.19) Ein friedfertigeres Beispiel aus dem Zivilleben wäre vielleicht die Legislaturperiode einer Regierung zwischen zwei Wahlen.

Bei dem konkretesten, weil dem Individuum nächsten Referenzrahmen handelt es sich vor allem um dessen „persönliche Dispositionen“. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.19) Hier geht es um Mentalitäten und Personeigenschaften. In meinen Posts habe ich in diesem Zusammenhang immer von der Haltung gesprochen. In Neitzels und Welzers Buch geht es bei der Analyse der Abhörprotokolle vor allem um die Referenzrahmen zweiter und dritter Ordnung, also um das „Dritte Reich“ und den Zweiten Weltkrieg. (Vgl.ebd.)

Wir haben es offensichtlich bei den verschiedenen Referenzrahmen mit einem Kontinuum zu tun, das von der umfassenden Sinntotalität einer Lebenswelt bis zum individuellen Denken und Handeln reicht. Es gibt hier keine prinzipielle Grenzlinie wie zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, wie sie Plessner beschrieben hat. Ähnlich wie bei den verschiedenen ‚Ordnungen‘ des Referenzrahmens gibt es nun auch bei den Rollenerwartungen ein entsprechendes Kontinuum zwischen weitgehend unbewußten und schließlich bewußten Rollen: „Rollen nehmen eine mittlere Ebene zwischen den kulturellen Bindungen und Verpflichtungen und den gruppenspezifischen und individuellen Deutungen und Handlungen ein. Es gibt eine Reihe von Rollen, bei denen wir uns nicht bewusst sind, dass wir ihren Normen entsprechend handeln, obwohl wir das ganz selbstverständlich tun. Hierzu zählen etwa alle Rollen, nach denen Soziologen Gesellschaften differenzieren: Geschlechts-, Alters-, Herkunfts- oder Bildungsrollen. Die damit verbundenen Sets von Anforderungen und Normen können zwar bewusst wahrgenommen und auch hinterfragt werden, müssen es aber nicht und werden es gewöhnlich auch nicht. Diese selbstverständlichen Rollen prägen nichtsdestotrotz Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungsoptionen ...“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.30)

Referenzrahmen und Rollenerwartungen entsprechen einander, und letztlich gibt es zwischen den beiden Begriffen hinsichtlich der Lebenswelt wohl keinen Unterschied. Ich habe mir jedenfalls überlegt, wie genau die Beziehung zwischen Referenzrahmen, Rollenerwartungen und Lebenswelt wohl sein mag, und ich habe zu diesem Zweck auf das Modell einer Pyramide zurückgegriffen, wie es Plessner in „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ (1975/1928) beschreibt. (Vgl. Stufen, S.65f.) Da es sich bei der Pyramide um ein Bewußtseinsmodell handelt, bei dem es um die allmähliche Sedimentation von Bewußtseinsinhalten im Unbewußten geht, wird daran deutlich, warum die vier ‚Ordnungen‘ ein Kontinuum bilden. Es gibt eben keine klar definierte Grenze zwischen Unbewußtem und Bewußtem.

Die verschiedenen Ebenen (Ordnungen) des Referenzrahmens beeinflussen also in Form von Rollenerwartungen unser Verhalten von der Lebenswelt über die individuelle Haltung bis hin zur bewußten Aufmerksamkeit unseres aktuellen Denkens und Urteilens an der Spitze der Pyramide. Daran wird zunächst deutlich, daß die Spitze der Pyramide gegenüber dem gewaltigen Rest bis zur Basis nur einen verschwindend geringen Anteil ausmacht, was scheinbar die These bestätigt, daß unser individueller Denk- und Handlungsspielraum ebenfalls nur verschwindend gering ist.

Dabei wird aber übersehen, daß es zwischen der Lebenswelt und der bewußten Aufmerksamkeit noch den Bereich der Haltung gibt, den ich hier als ein mehr oder weniger ausgewogenes, individuelles Verhältnis von Naivität und Reflexion beschreiben möchte. Durch bewußte Übung, die ich auch einfach als Bildung bezeichne, sind wir in der Lage, Einfluß auf unser unbewußtes Handlungspotential zu nehmen. Antonio Damasio spricht hier von „rascher Kognition“. Ich selbst spreche von gespeicherter Zeit, von Zeit, die uns im Falle eines Handlungszwangs, der uns immer viel zu wenig Zeit zum Überlegen läßt, in Form von ‚gespeicherter‘ Handlung zur Verfügung steht, so daß wir nun auf gekonnte, weil vorweg schon eingeübte Weise reagieren können.

Eine solche „Handlungsökonomie“ bildet nach Neitzel und Welzer auch der Referenzrahmen: „Referenzrahmen gewährleisten Handlungsökonomie: Das allermeiste, was geschieht, lässt sich in eine bekannte Matrix einordnen. Das wirkt entlastend. Kein Handelnder muss immer wieder bei null beginnen und stets aufs Neue die Frage beantworten: Was geht hier eigentlich vor?“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.17) – An anderer Stelle sprechen Neitzel und Welzer auch davon, daß „(g)esellschaftliche Funktionszusammenhänge und Institutionen ... Speicher von Potentialen (sind) ...“ (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.411)

Lebenswelt und Haltung bilden in der Pyramide also ein zusammenhängendes Ganzes aus Handlungspotentialen, die die Persönlichkeit eines Menschen ausmachen. Der schmale Bereich des Bewußtseins ruht auf einem riesigen Bereich biologischer und kultureller Funktionen und Prozesse, die genau dieses wache Bewußtsein unserer selbst erst ermöglichen. Den Übergang zwischen Lebenswelt und Haltung habe ich in der Graphik mit einer gestrichelten Linie gekennzeichnet, und ich bezeichne diesen Übergang als „bewußte Übung: Bildung“. Der unterste Bereich der Pyramide umfaßt die ganze biologische Evolution des Menschen. Hier haben wir ebenfalls einen nicht genau präzisierbaren Übergang zur kulturellen Evolution des Menschen (gestrichelte Linie). Die Pyramide als Ganzes soll für den einzelnen Menschen stehen, in dem diese Evolution gipfelt.

Der Bereich der Freiheit umfaßt dabei sowohl Haltung wie bewußte Aufmerksamkeit. Und diese Freiheit befindet sich in keinem Widerspruch zur Lebenswelt und zur Biologie. Allerdings werden mit jedem Freiheitsverlust im oberen Bereich der Pyramide wieder Sedimente aus dem unteren Bereich aufsteigen und das individuelle Handeln, das sie sonst nur tragen, bestimmen.

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