„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 11. Juni 2011

Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a.M. 5/2011

10.    Nachtrag: Referenzrahmen und Wertekanon

Neitzel und Welzer setzen in ihren Analysen der Abhörprotokolle Referenzrahmen und Wertekanon weitgehend gleich. Das bringt mich auf einige Gedanken, was die in der Politik allgemein beliebte Phrase von der transatlantischen „Wertegemeinschaft“ betrifft. Das deutsche Wort „Gemeinschaft“ beinhaltet ja dabei schon für sich eine eigene Wertsphäre, die auf so etwas wie ein besonders enges Zusammenrücken verweist; ein Zusammenrücken, das wiederum eine gegen andere kulturelle Traditionen gerichtete Tendenz beinhaltet.

Nun zeigt aber schon de Waal (vgl. de Waal 2011, S.253f.), daß es innerhalb dieser transatlantischen Wertegemeinschaft erhebliche Differenzen bezüglich der Gewichtung dieser gemeinsamen Werte gibt. Wenn wir einmal von den drei Prinzipien der Französischen Revolution ausgehen, so handelt es sich hier vor allem um die im engeren Sinne bürgerliche Werte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, wobei wir bei ‚Freiheit‘ vor allem an die Habeas-Corpus-Akte (1679) denken, an Denkfreiheit, Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit und an das in der amerikanischen Verfassung garantierte „Streben nach Glück“, das wir in der Marktwirtschaft wiederum vor allem mit wachsendem Wohlstand gleichsetzen.

Bei ‚Gleichheit‘ denken wir vor allem an das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit, die an die Stelle geburtsständischer Privilegien tritt, und bei ‚Brüderlichkeit‘ denken wir vor allem an soziale Gerechtigkeit, die verhindern soll, daß sich Einzelne über die Maßen auf Kosten der Anderen bereichern. De Waal beschreibt nun in seinem Buch, wie die US-Amerikaner vor allem an die Leistungsgerechtigkeit glauben und wie sie tendenziell jeden Versuch, mit staatlichen Mitteln dem Profitstreben (gleichgesetzt mit dem Streben nach Glück) im Sinne sozialer Gerechtigkeit Grenzen zu setzen, mit Kommunismus gleichsetzen. Umgekehrt glauben die Europäer vor allem an die soziale Gerechtigkeit und neiden jedem, der mehr wirtschaftlichen Erfolg hat als andere, seinen Reichtum.

Es gibt hier also innerhalb des geteilten Wertekanons erhebliche Unterschiede, die zu völlig verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Konzepten führen, so daß die Rede von der gemeinsamen Wertegemeinschaft bestenfalls eine leere Floskel ist, wenn nicht sogar irreführend.

Ähnlich ist es innerhalb einer Gesellschaft. Neitzel und Welzer zeigen, wie sich die Werte zwischen politischen Parteien und gesellschaftlichen Subgruppen – und damit die Referenzrahmen – unterscheiden. Das reicht bis in den Referenzrahmen erster Ordnung, den Neitzel und Welzer als „christlichen Kulturkreis“ kennzeichnen. So gibt es nicht nur die schon beschriebenen Pfadabhängigkeiten in Form schiefer Ebenen, die bestimmte situationsgebundene Handlungsnotwendigkeiten anbahnen, so daß z.B. demokratische und christliche Politiker mit humanen Notwendigkeiten begründete militärische Einsätze beschließen, in denen dann nicht mehr demokratische und christliche, sondern militärische Wertorientierungen wie Ehre, Gehorsam und Opferbereitschaft (das eigene Leben wie das Leben anderer betreffend) gelten. Es gibt auch innerhalb längerer ‚Friedensperioden‘ ständige Wechsel zwischen verschiedenen Wertekanons, und zwar aufgrund der wechselnden Rollenerwartungen, mit denen einzelne Individuen konfrontiert sind.

Ein Individuum kann z.B. in verschiedenen Situationen mal als Zivilist und dann wieder als Soldat agieren, was entsprechende Veränderungen in der Werteorientierung mit sich bringt. Die Differenz zwischen Zivilgesellschaft und Militär war in der Weimarer Republik sicher gravierender als in der Bundesrepublik, die die Armee als eine demokratische Einrichtung verstand. Aber Demokratie hat beim Militär nun einmal Grenzen. Immerhin durfte die Armee in der Bundesrepublik nicht zur Aufhebung oder Neubewertung bürgerlicher Grundwerte führen. Der Soldat hatte in erster Linie als Bürger zu gelten.

Weitere Unterschiede in der angeblichen Wertegemeinschaft bestehen zwischen der demokratisch verfaßten Zivilgesellschaft und der katholischen Kirche, die sogar in ihren Einrichtungen bürgerliche Grundrechte außer Kraft setzen darf. Hinzu kommen die unterschiedlichen Werteorientierungen der verschiedenen Immigrantengruppen, über deren Integrationsprozesse es keine gesellschaftliche Kontrolle gibt.

Von einer ‚Wertegemeinschaft‘ kann also weder im okzidentalen, transatlantischen noch im einzelstaatlichen Sinne die Rede sein. Die Referenzrahmen sind bis in den Referenzrahmen erster Ordnung hinein plural. An diesen Referenzrahmen orientieren sich die Menschen als Gruppen (Gemeinschaften) und als Individuen. Als Individuen können sie sich an den Referenzrahmen wiederum über die Autorität der Gruppe orientieren, der sie sich primär zugehörig fühlen, oder über die Autorität des eigenen Verstandes. Der Spielraum, der sie immer wieder vor die Entscheidung stellt, welcher Autorität sie größeres Gewicht beimessen wollen, besteht in den unterschiedlichen Rollenerwartungen, denen sie genügen müssen, wenn sie sich in einer derart pluralen Gesellschaft behaupten wollen, wie sie das gegenwärtige Europa darstellt.

Ganz unabhängig von der exzentrischen Positionalität, wie sie der Körperleib jedes Menschen auf anthropologischer Ebene beinhaltet, verhindert also schon der Zwang einer spezifisch europäischen Globalisierung, daß sich einzelne Menschen auf Dauer in totale Gruppen zurückziehen können, um sich den Freiheitszumutungen eines eigenen Verstandes auf Dauer zu entziehen.

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Sonntag, 5. Juni 2011

Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a.M. 5/2011

1.    Rückblick auf de Waal
2.    Methode
3.    Referenzrahmen, Rollenerwartungen und Lebenswelt
4.    Rollenerwartungen und Arbeitsteilung
5.    Mentalitäten, Eigenschaften und Ideologien
6.    Wertewandel und shifting baselines
7.    Gruppendenken und Pfadabhängigkeiten
8.    „Drittes Reich“ und Differenz
9.    Zur Bedeutung individuellen Urteilens und Handelns

Von Anfang an geben Neitzel und Welzer dem individuellen Urteilen und Handeln keinen Spielraum. Auch wenn sie das Individuum zunächst von Reiz-Reaktionsmechanismen freisprechen (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.16), so nur, um es im nächsten Atemzug zu einer Marionette äußerer Umstände, dem „Referenzrahmen“, zu machen, von dem es sich nur „relativ selten“ freimachen kann, um „Neues“ zu sehen und zu denken (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.17).

Auch die Weigerung, moralische Fragen bei der Analyse des Gewaltphänomens auch nur in Betracht zu ziehen, ja, sogar ganz im Gegenteil von vornherein eine prinzipiell unmoralische Perspektive einnehmen zu wollen (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.18), ist nicht gerade dazu geeignet, individuelles Urteilen und Handeln zu berücksichtigen: „Vor dem Hintergrund der Rollentheorie sind Fragen danach, wieso jemand im Krieg Menschen getötet oder sich an Kriegsverbrechen beteiligt hat, sinnvollerweise zunächst keine moralischen, sondern empirische Fragen. Moralisch können sie sinnvoll nur dann gestellt werden, wenn die Handlungsspielräume der Einzelnen greifbare Alternativen enthielten, die nicht gewählt wurden. Wie man weiß, gilt das zum Beispiel für die Verweigerung der Teilnahme an sogenannten Judenaktionen, was ohne juristische Konsequenzen blieb,() und für die unendlich zahlreichen Fälle von lustvoller Gewaltausübung, die uns in diesem Buch noch begegnen werden. Aber für viele andere Geschehenszusammenhänge im Krieg muss man nüchtern konstatieren, dass die Wahlmöglichkeiten und Handlungsalternativen, die die Pluralität der Rollen im zivilen Alltag bereithält, nicht existieren.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.34)

Was die angebliche „Alternativlosigkeit“ des Einzelnen in totalen Situationen im Krieg betrifft, brauchen wir an dieser Stelle nur nochmal auf de Waals Argument für die eher friedfertige Natur des Menschen zu verweisen: daß im Vietnamkrieg 50.000 Patronen verschossen wurden, um einen einzigen Soldaten zu töten, bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als daß der Einzelne immer die Wahl hat, – und sei es auch nur die, danebenzuschießen! Es ist eine echte Wahl, die mit jedem Schuß, der abgefeuert wird, aufs Neue getroffen wird. – Oder anders: wenn Soldaten im Konvoi Zwangsarbeiterinnen beim Vorbeifahren in den Wagen ziehen, vergewaltigen und wieder rauswerfen, so ist das klar zu definierende Gewalt, denn es gab Opfer, und es gab Täter! Und diese Gewalt ist nicht relativierbar durch zeitlichen Kontext, Kriegsgeschehen und Gruppendynamik. Diese Soldaten hatten die Wahl, diese Verbrechen nicht zu begehen. Deshalb sind sie uneingeschränkt verantwortlich, ohne daß wir, um zu dieser Feststellung zu gelangen,  aus unserer heutigen Perspektive unangemessen moralisieren müßten.

Es ist also nicht das ‚empirische‘ Material, die Abhörprotokolle, die Neitzel und Welzer sozusagen dazu ‚zwingen‘, sich von bestimmten moralischen ‚Illusionen‘ oder Vorurteilen zu ‚befreien‘. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.422) Vielmehr haben Neitzel und Welzer im vorhinein, noch bevor sie sich mit dem Material auseinandersetzten, eine moralische Entscheidung getroffen. Ihr Blick auf das Gewaltphänomen ist nicht etwa neutral oder objektiv, sondern tatsächlich in einem Sinne antimoralisch, den sie möglicherweise gar nicht gemeint hatten: Sie selbst nämlich haben sich mit ihrer konzeptionellen Beschränkung für eine bestimmte Perspektive entschieden, nämlich daß in ihren Analysen das individuelle Urteilen und Handeln keine Rolle spielen soll! Mit anderen Worten: schon ihre Entscheidung selbst ist‚antimoralisch‘, nicht etwa erst ihr methodisches Konzept.

Hinzu kommt eine leicht arrogant wirkende Selbstpositionierung der Autoren gegenüber den historischen Ereignissen. Sie billigen ihrer eigenen Gegenwart ein Monopol darin zu, wie das „Dritte Reich“ und der Zweite Weltkrieg zu beurteilen und zu bewerten sind. Nach Neitzel und Welzer können die Zeitgenossen des „Dritten Reiches“ ihre Gegenwart nicht vom Ende her, also von außen, beurteilen, und deshalb können sie auch nicht die Folgen ihres Handelns bewerten. Das können eben nur Neitzel und Welzer (und ihre Zeitgenossen). (Neitzel/Welzer 2011, S.9, 14, 25ff.u.ö.)

Sicher besteht ihr Konzept der Rahmenanalyse ja eigentlich darin, gerade die Perspektive der Betroffenen ernst zu nehmen und diese Perspektive nicht im nachhinein mit dem Wissen der Gegenwart um das Ende dieser historischen Epoche zu verfälschen: „Wir werden zeigen, dass ihre (der Soldaten – DZ) Betrachtungen und Unterhaltungen anders sind, als man es sich gemeinhin vorstellt – unter anderem, weil sie im Unterschied zu uns Heutigen nicht wissen, wie der Krieg ausgehen wird.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.14)

Neitzel und Welzer wollen die „zeitspezifischen Wahrnehmungskonzepte“ aus sich selbst heraus verstehen und sie nicht mit moralisierenden Bewertungen aus der Perspektive desjenigen, der es besser weiß, verfälschen: „... Geschichte wird nicht wahrgenommen, sie geschieht. Und erst später wird von Historikern festgestellt, was aus einem Inventar von Geschehnissen ‚historisch‘, also in irgendeiner Weise für den Lauf der Dinge bedeutsam gewesen ist. Im Alltag werden schleichende Veränderungen der sozialen und physikalischen Umwelt meist nicht registriert, weil sich die Wahrnehmung an die Veränderung ihrer Umwelten permanent nachjustiert. Umweltpsychologen nennen dieses Phänomen ‚shifting baselines‘.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.26)

Das hört sich alles sehr gut und richtig an und trifft auch prinzipiell auf meine Zustimmung. Aber das darf eben nicht dazu führen, daß die Begrifflichkeit selbst dem methodisch beschränkten Blick in die Vergangenheit so weit angepaßt wird, daß das wieder dazu beiträgt, die Phänomene, um die es geht, also die Gewaltphänomene, zu verzerren. Wenn ich im Gewaltbegriff nur den Täter berücksichtige und von vornherein – durch Entmoralisierung – die Opferperspektive ausblende, können die Analysen der Abhörprotokolle letztlich nur dazu beitragen, in aller scheinbaren Objektivität die Perspektive der Täter zu bestätigen: Sie haben gehandelt, wie sie handeln mußten (Befehlsnotstand etc.), und sie haben dabei gute Arbeit geleistet. Was sollen wir mit solchen Analysen anfangen?

Indem Neitzel und Welzer den Blick von Außen auf die historischen Ereignissen monopolisieren (und ihn sich zugleich methodisch verbieten), wird die individuelle Möglichkeit, in der konkreten historischen Situation Entscheidungen über richtig und falsch zu treffen, geleugnet. Über richtig und falsch von damals Urteile zu fällen – so Neitzel und Welzer –, das ist nur uns Heutigen vergönnt, denn wir wissen ja, wie alles ausgegangen ist. Um aber zu verstehen, daß Menschen zu jeder Zeit aus ihrer Zeit herausfallen können, so wie sie aus ihrer Lebenswelt herausfallen können (denn im Grunde geht es hier um nichts anderes: sind wir auf Gedeih und Verderb Gefangene unserer Lebenswelt?), und daß sie sich plötzlich vor die Freiheit einer Wahl gestellt sehen – ganz gleichgültig wie irgendwelche ‚Nachgeborenen‘ auch darüber urteilen mögen –, dazu bedarf es einer schlichten Anerkennung ihrer durchaus zeitgebundenen Verantwortung, anstatt sie generös von jeder Verantwortung zu ‚entlasten‘.

Auf eine rollentheoretische und gruppenpsychologische Empirie, mit der ohne zureichende Begründung des Gewaltbegriffs die Abhörprotokolle deutscher Kriegsgefangener analysiert werden, können wir verzichten.

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Samstag, 4. Juni 2011

Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a.M. 5/2011

1.    Rückblick auf de Waal
2.    Methode
3.    Referenzrahmen, Rollenerwartungen und Lebenswelt
4.    Rollenerwartungen und Arbeitsteilung
5.    Mentalitäten, Eigenschaften und Ideologien
6.    Wertewandel und shifting baselines
7.    Gruppendenken und Pfadabhängigkeiten
8.    „Drittes Reich“ und Differenz
9.    Zur Bedeutung individuellen Urteilens und Handelns

Bei der Beschreibung des „Dritten Reiches“ verwenden Neitzel und Welzer erstaunliche Vokabeln. So stellen sie das „Dritte Reich“ als „partizipative Diktatur“ dar. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.65) Oder sie sprechen von einer „modernen Diktatur“, die die Bevölkerung mittels „Aufrechterhalten von Differenz“ „integriert“, „so dass auch noch diejenigen, die gegen das Regime, kritisch gegenüber der Judenpolitik, im Herzen sozialdemokratisch oder was auch immer sind, ihren sozialen Ort haben, an dem sie sich austauschen können und Gleichdenkende finden.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.54)

Wenn man das so liest, entsteht der Eindruck, als wäre hier nicht von einer Diktatur die Rede, sondern von einer Demokratie mit Minderheitenschutz. Und Neitzel und Welzer scheinen das „Dritte Reich“ tatsächlich auf eine Ebene mit demokratischen Institutionen zu stellen, wenn sie schreiben: „Der soziale Integrationsmodus jeder Behörde, jedes Betriebs, jeder Universität besteht in Differenz, nicht in Homogenisierung – überall finden sich Subgruppen, die sich von den anderen abgrenzen. Das zerstört nicht den Zusammenhang des sozialen Aggregats, es begründet ihn.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.55)

Das Problem, das man als unbedarfter Leser mit diesen seltsamen Behauptungen zunächst hat, klärt sich dann allerdings schnell: wenn hier von „Differenz“ gesprochen wird, so ist damit nicht die tatsächliche Anerkennung der Freiheit des Andersdenkenden gemeint, sondern dessen Ausgrenzung! Anstatt also den Andersdenkenden (Liberale, Kommunisten etc.) oder gar den angeblich Andersartigen (Juden, Zigeuner, Geisteskranke etc.) als Teil einer pluralen ‚Gemeinschaft‘ zu verstehen, haben die Nationalsozialisten sie enteignet, des Landes verwiesen, in Lagern separiert, medizinisch verstümmelt und letztlich millionenfach getötet. Schließlich kommen Neitzel und Welzer auf den Punkt: nicht „Integration“ durch „Differenz“ war gemeint, sondern Integration der durch möglichst weitgehende Homogenisierung übriggebliebenen Bevölkerung durch „Spaltung“: „Die tiefe Spaltung, die die nationalsozialistische Gesellschaft in den zwölf Jahren von 1933 bis 1945 in eine Mehrheit der Zugehörigen und eine Minderheit der Ausgeschlossen teilte, verfolgt nicht nur ein rassentheoretisch und machtpolitisch begründetes Ziel, sondern ist zugleich Mittel einer besonderen Form der gesellschaftlichen Integration.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.55f.)

Letztlich hätten wir damit nur einen weiteren Beleg für Neitzels und Welzers unpräzisen Umgang mit Begriffen vorliegen, auf den ich schon hingewiesen habe, so daß ich das hier nicht unbedingt noch einmal wiederholen müßte. Aber mit der Behauptung, die Nationalsozialisten hätten mit Hilfe von Differenz integriert, ist zugleich ein höchst ärgerlicher Angriff auf den Sinn und den Nutzen der Denkfreiheit verbunden. Indem Neitzel und Welzer den Eindruck erwecken, die Nationalsozialisten hätten durch Aufrechterhalten von „Differenz“ „integriert“, werten sie die individuelle Urteilskraft auf unerträgliche, eigentlich nur noch zynisch zu nennende Weise ab. Der Widerspruch, der sich „vor allem im privaten, höchstens im halböffentlichen Bereich (also auf den Kreis von Freunden und Kollegen, den Stammtisch, die unmittelbare Nachbarschaft) beschränkt“ und der sich „innerhalb von Pfarrgemeinden, in dörflichen Nachbarschaften, in Zirkeln der konservativen Elite, in bürgerlichen Verkehrskreisen, in nicht zerstörten Reststrukturen des sozialistischen Milieus“ artikulierte  (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.55), wird so nicht nur bedeutungslos, was an sich schon ein höchst bedauerliches Phänomen wäre, sondern er verkehrt sich bei Neitzel und Welzer auf seltsam verquere Weise in einen partizipativen Akt der Unterstützung der verbrecherischen Ziele des nationalsozialistischen Regimes.

Wie weit gehen diese das Regime unterstützenden Akte der ‚Differenz‘? Gehören vielleicht auch die Aktivitäten der Weißen Rose dazu?  Und kann man die anschließende Hinrichtung der ‚Verschwörer‘ vielleicht ebenfalls als „hochintegrativ“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.57) bezeichnen?

Ich kann als Gegengift zu einer Geschichtsbetrachtung, in der der Begriff der ‚Differenz‘ auf so unreflektierte Weise Phänomene der tödlichen Ausgrenzung wie des verzweifelten Widerstands umfaßt und als Moment einer „partizipativen Diktatur“ beschrieben wird, nur die Lektüre von der „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss empfehlen.

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Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a.M. 5/2011

1.    Rückblick auf de Waal
2.    Methode
3.    Referenzrahmen, Rollenerwartungen und Lebenswelt
4.    Rollenerwartungen und Arbeitsteilung
5.    Mentalitäten, Eigenschaften und Ideologien
6.    Wertewandel und shifting baselines
7.    Gruppendenken und Pfadabhängigkeiten
8.    „Drittes Reich“ und Differenz
9.    Zur Bedeutung individuellen Urteilens und Handelns

In meinem zweiten Post vom 02.06.2011 hatte ich von der schiefen Ebene gesprochen, auf der sich die verschiedenen Referenzrahmen nach und nach wechselseitig ergänzen und schließlich Situationen anbahnen, in denen vor allem die mit ihnen verbundenen Rollenerwartungen das Handeln bestimmen. An dieser Stelle macht es Sinn, eine Grobgliederung von Situationen vorzunehmen: Es gibt Situationen, die (a) wir selbst – oder andere für uns – herbeiführen. Dafür gibt es meistens eine institutionelle Infrastruktur (Politik, Militärdienst, Berufstätigkeit, Freizeitaktivitäten (Animation etc.), Pädagogik (Schule) usw.). Außerdem gibt es Situationen, in die wir (b) hineingeraten, wie z.B. ein Unfall, wo wir dann unvorbereitet eine Entscheidung darüber treffen müssen, ob wir ‚zuständig‘ sind und was jetzt zu tun ist.

Den psycho-kausalen Prozeß beim Anbahnen von Situationen (a) wie auch das psycho-kausale Geflecht von Entscheidungen, wenn wir uns in den Situationen befinden ((a) und (b)) – auf welche Weise wir auch immer in sie hineingerieten –, bezeichnen Neitzel und Welzer als „Pfadabhängigkeit“. (Neitzel/Welzer 5/2011, S.44f., 49f., 400) Besonders betroffen macht einen die Schilderung eines US-amerikanischen Hubschrauberangriffs auf Zivilisten im Irak. Neitzel und Welzer beschreiben den Entscheidungsprozeß des Schützen, der zu Beginn, als er auf die Zivilisten aufmerksam wird, nicht so recht weiß, mit wem er es zu tun hat. Zunächst ist er unsicher, ob sie Schußwaffen dabei haben oder nicht. Die Kommunikation (per Funk) mit einem Offizier im Stützpunkt führt von der Unsicherheit des Schützen, ob es sich überhaupt um Waffen handelt, so nach und nach zu einer präzisen Identifizierung der angeblichen Waffen und der Zivilisten als einer Terrorgruppe kurz vor einem Anschlag. Am Ende gibt es elf Tote, und der Offizier bestätigt dem Schützen, daß er gute Arbeit geleistet hat. Als sich dann herausstellt, daß sich unter den Toten ein schwerverletztes kleines Mädchen befindet, empören sich die Soldaten über die angeblichen Terroristen, die nicht einmal davor zurückschrecken, ihre eigenen Kinder mit in den Kampf zu nehmen.

Wir haben es hier mit einer „totalen Situation“ zu tun. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.32) Totale Situationen befinden sich am Ende von schiefen Ebenen bzw. ‚Pfaden‘, die zunächst von den verschiedenen Referenzrahmen und ihren Begründungszusammenhängen angebahnt werden können, dann aber durch die Rollenerwartungen in der Situation selbst nicht mehr ergänzt, sondern schlicht ersetzt werden. In der „totalen Situation“ zählt dann nur noch die „totale Gruppe“, die bei militärischen Aktionen immer die „Kameradschaftsgruppe“ ist. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.31, 34, 40ff.) Die Pfadabhängigkeiten, die zur Entscheidung darüber führen, in was für einer Situation man sich befindet, werden nun nur noch durch das „Gruppendenken“ bestimmt. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.398f., 400, 405) Der Referenzrahmen ist, wie Neitzel und Welzer sich ausdrücken, ‚entdifferenziert‘ (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.38): „Man kann das ‚Gewaltdynamik‘, ‚Gruppendenken‘ oder auch ‚Pfadabhängigkeit‘ nennen: tatsächlich kommen alle diese Elemente hier in einer fatalen Folgerichtigkeit zusammen und führen zum Tod von insgesamt elf Menschen innerhalb weniger Minuten.“ (S.400)

In diesem Komplex von Pfadabhängigkeiten, von der politischen Erzeugung eines allgemeinen erregten Erwartungsklimas über die Mobilisierung und das ‚Ausrufen‘ eines Krieges (oder dem schlichten Einmarsch in fremdes Staatsgebiet) bis hin zum konkreten ‚Kampfgeschehen‘ – das, wie wir gesehen haben, oft diffus ist und erst durch die entsprechenden Entscheidungen der Soldaten in ein Kampfgeschehen umgedeutet wird – spielt individuelles Urteilen und Handeln keine Rolle mehr. Die Kameradschaftsgruppe, die für den einzelnen Soldaten in jeder Hinsicht zur „Überlebenseinheit“ wird (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.41, 420), tritt an die Stelle eigener individueller oder allgemeinerer moralischer Begründungsnotwendigkeiten, die sie praktisch vollständig ersetzt.

Das ist natürlich mehr oder weniger das Kennzeichen jeder Gemeinschaft, wie sie schon Plessner beschrieben hat. Ganz ähnlich wie Plessner (nicht umsonst hat Plessner ja seine Kritik an den Grenzen der Gemeinschaft zu einer Zeit geschrieben, als sich Nationalsozialisten und leider auch Reformpädagogen mit dem Gemeinschaftsideal gegen die ihrer Ansicht nach moralisch verdorbene Gesellschaft wandten) beschreiben Neitzel und Welzer die psychischen Mechanismen, die den Einzelnen an die Gruppe binden: „Aber der Kamerad wird nicht nur, ob mit seinem oder gegen seinen Willen, vergemeinschaftet und gibt Autonomie ab, er bekommt auch etwas dafür, nämlich das Aufgehobensein in einer Gemeinschaft, Verlässlichkeit, Halt, Anerkennung. Zudem bietet die Kameradschaftsgruppe eine Entlastung von den gewöhnlichen Verpflichtungen des Zivillebens. Genau darin sieht der spätere Emigrant und dezidierte Regimegegner Sebastian Haffner etwas psychologisch höchst Bestechendes: ‚Die Kameradschaft (...) beseitigt völlig das Gefühl der Selbstverantwortung. Der Mensch, der in der Kameradschaft lebt, ist jeder Sorge für die Existenz, jeder Härte des Lebenskampfes überhoben. (...) Er braucht sich nicht die kleinste Sorge zu machen. Er steht nicht mehr unter dem harten Gesetz: ‚Jeder für sich‘, sondern unter dem generös-weichen: Alle für ‚einen‘. (...) Das Pathos des Todes allein erlaubt und erträgt diese ungeheuerliche Dispensierung von der Lebensverantwortung.‘() Diesen Zusammenhang von Be- und Entlastung durch die soziale Vergemeinschaftungsform ‚Kameradschaft‘ hat Thomas Kühne in seiner umfassenden Studie herausgearbeitet.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.41)

Das führt dann so weit, daß Frontsoldaten schließlich nicht mehr in die Gesellschaft, die sie einmal mit ihrem Kampfeinsatz ‚verteidigten‘, zurückfinden. Und Soldaten, die auf ‚Heimat‘-Urlaub sind, fühlen sich plötzlich in der Fremde. Das entspricht wie gesagt genau den Analysen von Plessner, wobei der wichtigste Unterschied ist, daß Plessner noch nicht zwischen „pluralen“ und „totalen“ Gruppen unterschied (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.41), da er nur den prinzipiellen Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft kannte. Von lebensweltlichen Übergängen zwischen diesen beiden Strukturen des sozialen Lebens wußte Plessner noch nichts. Diese lebensweltlichen Übergänge, also Referenzrahmen und Rollenerwartungen, sind es, die jene Pfadabhängigkeiten bestimmen, an denen entlang individuelles Urteilen und Handeln nach und nach ausgehebelt und seiner moralischen Bedeutung vollständig entkleidet wird.

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Freitag, 3. Juni 2011

Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a.M. 5/2011

1. Rückblick auf de Waal
2. Methode
3. Referenzrahmen, Rollenerwartungen und Lebenswelt
4. Rollenerwartungen und Arbeitsteilung
5. Mentalitäten, Eigenschaften und Ideologien
6. Wertewandel und shifting baselines
7. Gruppendenken und Pfadabhängigkeiten
8. „Drittes Reich“ und Differenz
9. Zur Bedeutung individuellen Urteilens und Handelns

Von den überraschenden Ergebnissen, die Neitzel und Welzer in ihrer Studie ankündigen, bleibt meiner Ansicht nach nur eine Korrektur am Konzept der shifting baselines übrig. Neitzel und Welzer schildern anschaulich, wie sich im „Dritten Reich“ grundlegende Wertekanons innerhalb weniger Jahre verschieben und sich dabei tiefgreifend verändern können, so daß schließlich möglich wurde, was zu Beginn der nationalsozialistischen Machtergreifung für unmöglich gehalten worden wäre: „1933 hätten es die allermeisten Bürgerinnen und Bürger für völlig undenkbar gehalten, dass nur wenige Jahre später unter ihrer tätigen Teilhabe die Juden nicht nur ihrer Rechte und Besitztümer beraubt, sondern zur Tötung abtransportiert würden. Welcher Wertewandel bis dahin stattgefunden hatte, wird klar, wenn man sich im Rahmen eines Gedankenexperiments vorstellt, die Deportationen hätten schon im Februar 1933, unmittelbar nach der sogenannten Machtergreifung, begonnen. Da wäre die Abweichung von den Normalitätserwartungen der Mehrheitsbevölkerung zu groß gewesen ... Nur acht Jahre später war diese Form des Umgangs mit Anderen Bestandteil dessen geworden, was man erwarten konnte und was deshalb kaum noch jemand als außergewöhnlich empfand. Man sieht, dass die Verschiebung sogar ganz grundlegender sozialer Referenzlinien nicht einmal eines generationellen Wechsels oder jahrzehntelanger Entwicklung bedarf; es genügen ein paar Jahre.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.64)

Das Konzept der shifting baselines basiert darauf, daß das menschliche Gedächtnis nur historische Ereignisse innerhalb von drei bis vier Generationen umfassen kann, weil jenseits dieser Zeitspanne keine Zeitzeugen mehr am Leben sind, die die Vergangenheit noch selbst erlebt haben. Es handelt sich also um historische Veränderungen, auf die wir nicht reagieren und sie somit auch nicht verhindern können, weil sie so langsam vonstatten gehen, daß sie nicht innerhalb dieser drei bis vier Generationen umfassenden Zeitspanne wahrnehmbar werden. Es war deshalb schon immer ein gesellschaftliches Rätsel, wie es der Nationalsozialismus geschafft hat, eine hoch zivilisierte, ‚gebildete‘ Gesellschaft in kurzer Zeit von Grund auf so zu ‚barbarisieren‘, daß in ihrer Mitte ein gigantischer Genozid geplant und ausgeführt werden konnte. Neitzel und Welzer können mit ihrer Verknüpfung von Rollenerwartungen und Arbeitsteilung schlüssig zeigen, daß aufgrund des gleichzeitig funktionalen wie lebensweltlichen Charakters von Rollen das individuelle Bewußtsein gleichsam ‚ausgehebelt‘ wird. Die auf die normalen beruflichen und gesellschaftlichen Erwartungen fokussierte Aufmerksamkeit der Rollenspiele hat die Menschen daran gehindert, zu sehen, daß sie, indem sie weiter machten ‚wie immer‘, genau die Verbrechen aktiv unterstützten, die vor ihren Augen geschahen, einfach weil sie sie nicht mehr als ‚Verbrechen‘ wahrnehmen konnten.

Das „Dritte Reich“ ersetzte eben nicht einfach alte durch neue Werte, sondern es entfaltete sich wie ein unbekanntes Virus in einer Lebenswelt; ein Virus, das sich im lebensweltlichen Stoffkreislauf integriert und davon profitiert, ohne daß es schon ein wirksames Immunsystem dagegen gäbe: „Es (das Dritte Reich – DZ) bestand zunächst einmal aus derselben Menge Alltag, der in jeder möglichen Gesellschaft das Leben von Menschen strukturiert ...“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.50) – Und so war auch das „Dritte Reich“ nichts anderes als ein „‚so-wie-immer‘ geprägter Alltag“. (Vgl.ebd.)

Ein treffendes Beispiel dafür, wie leicht sich die individuelle Aufmerksamkeit lenken und fokussieren läßt, so daß gewissermaßen ein Tunnelblick entsteht, der links und rechts von seiner Blickrichtung nichts mehr wahrzunehmen vermag, ist ein Experiment, das sich auch bei Frans de Waal (2011) findet. Theologiestudenten sollen sich auf eine Rundfunksendung vorbereiten, in der sie eine Predigt zum Gleichnis des barmherzigen Samariters halten sollen. Während die betreffenden Kandidaten noch bei der Vorbereitung der Predigt sind, kommt plötzlich ein Rundfunkassistent aufgeregt in den Raum gestürzt und teilt einem der Theologiestudenten mit, daß er jetzt an der Reihe und spät dran sei. Er müsse sofort in das Studio, und er solle sich bitte beeilen!

Auf dem Weg zum Studio muß der Student eine Straße überqueren, wo ein Schauspieler auf dem Asphalt liegt und um Hilfe bittet. Zwei Drittel der am Experiment beteiligten Studenten ignorieren den offensichtlichen Notfall, um rechtzeitig ins Studio zu ihrer Predigt über den barmherzigen Samariter zu kommen. Bei der anschließenden Befragung der Studenten stellte sich hinterher heraus, daß sie den notleidenden Menschen tatsächlich nicht gesehen hatten, obwohl sie praktisch über ihn drübersteigen mußten, um in das Rundfunkgebäude zu gelangen: „Dieses Experiment sagt zunächst aus, dass Menschen erst einmal etwas wahrnehmen müssen, bevor sie etwas tun. Wenn man höchst konzentriert auf etwas hin arbeitet, blendet man vieles einfach aus der Wahrnehmung aus – das, was mit der Erfüllung der Aufgabe nichts zu tun hat. Diese Fokussierung hat mit moralischen Fragen nichts zu tun; sie geht auf eine notwendige und fast immer aktive Ökonomisierung im Handeln zurück, die Überflüssiges zu vermeiden sucht.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.43)

Auch dieses Experiment ist übrigens ein Beispiel dafür, wie Ideologien funktionieren, nämlich als Verengung unseres Blicks, so daß wir die offensichtlichen Alternativen, die unserem Handeln zur Verfügung stünden, gar nicht erst wahrnehmen: „Es ist der Handlungszusammenhang aus politischer Initiative und privater Aneignung und Umsetzung, der das nationalsozialistische Projekt innerhalb so erstaunlich kurzer Zeit so zustimmungsfähig macht. Man könnte das eine partizipative Diktatur nennen, zu der die Mitglieder der Volksgemeinschaft gern auch dann ihren Teil beitragen, wenn sie gar keine ‚Nazis‘ sind. So wird ein Handlungszusammenhang sichtbar, in dem veränderte Normen nicht vertikal von oben nach unten durchgesetzt werden, sondern in dem auf praktische und sich kontinuierlich verschärfende Weise das Verhältnis zwischen den Menschen entsolidarisiert (wird) und sich eine soziale ‚Normalität‘ etabliert.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.65)

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Donnerstag, 2. Juni 2011

Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a.M. 5/2011

1. Rückblick auf de Waal
2. Methode
3. Referenzrahmen, Rollenerwartungen und Lebenswelt
4. Rollenerwartungen und Arbeitsteilung
5. Mentalitäten, Eigenschaften und Ideologien
6. Wertewandel und shifting baselines
7. Gruppendenken und Pfadabhängigkeiten
8. „Drittes Reich“ und Differenz
9. Zur Bedeutung individuellen Urteilens und Handelns

Nach Neitzel und Welzer bestimmen weder Mentalitäten noch Personeigenschaften oder Ideologien, was Menschen in bestimmten Situationen tun, sondern die Erwartungen, von denen die Menschen glauben, daß sie mit diesen Situationen verbunden sind: „Selbstverständlich bringen einzelne Personen unterschiedliche Wahrnehmungsweisen, sozialisierte Deutungsmuster, altersspezifische Erfahrungen und besondere Fähigkeiten, Schwächen und Vorlieben mit in die Situationen, die sie dechiffrieren und in denen sie handeln müssen. In diesem Sinn bilden soziale Situationen immer Gelegenheitsstrukturen, die in unterschiedlichen Freiheitsgraden genutzt und ausgeweitet werden können. Es ist also ein Unterschied, wer mit welcher Persönlichkeitsausstattung mit welcher Situation konfrontiert ist. Aber man sollte das Gewicht dieser Differenzen nicht überschätzen: Wie der Holocaust und der nationalsozialistische Vernichtungskrieg zeigen, verhält sich die weit überwiegende Mehrheit aller Zivilisten und Soldaten bzw. SS-Männer und Polizisten ausgrenzend, gewaltbereit und gegenmenschlich, wenn die entsprechende Situation das nahezulegen und zu fordern scheint, und nur eine verschwindende Minderheit ist widerständig und prosozial.“ (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.45)

Die Situation, so Neitzel und Welzer, ist also viel entscheidender, als alle unsere Vorstellungen von uns selbst und von richtig und falsch. Ein interessantes Beispiel für solche mit Situationen verbundenen Erwartungshaltungen ist das „Bystander-Phänomen“. Wenn ein Unfall passiert und sich eine Gruppe von ‚Zuschauern‘ bildet, kann es sein, daß keiner hilft: „Keiner hilft, aber nicht – wie das dann in den Medien gewöhnlich kommentiert wird – aus ‚Herzlosigkeit‘, sondern aus Orientierungsmangel und aufgrund eines fatal ablaufenden Prozesses der wechselseitigen Bestätigung im Nicht-Handeln. ... Menschen, die allein sind, wenn sie damit konfrontiert werden, helfen zu sollen, greifen in der Regel ein, ohne groß nachzudenken.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.21) – Obwohl alle ‚Zuschauer‘ des Unfalls wissen, daß es richtig wäre zu helfen, und obwohl jeder Einzelne möglicherweise helfen würde, wenn er alleine wäre, interpretieren alle die Situation so, daß es wohl besser wäre, jemand anderen helfen zu lassen, der kompetenter ist als man selbst. Denn es sind ja genug Leute da, von denen höchst wahrscheinlich einer besser Bescheid wissen wird, was zu tun ist, als man selbst.

Natürlich wird es auch noch andere, weniger gutartige Motive geben, nicht zu helfen, wie etwa Ängstlichkeit, Voyeurismus, Schadenfreude, Neugier, was wohl als nächstes passiert etc. Aber die Gemengelage von Motiven in Situationen ist immer komplex, und welches Motiv die Oberhand behält, hängt eben, wie gesagt, von der Situation ab.

Dieses Primat der mit konkreten Situationen verbundenen Erwartungshaltungen (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.15, 22, 64, 391) halten Neitzel und Welzer begrifflich auch über den größten Teil ihrer theoretischen Erwägungen hin durch. Um so irritierender ist es, wenn es dann plötzlich heißt, daß es doch nicht die Erwartungen sind, auf die es ankommt: „Aus unserer Sicht ist die Verschiebung des Referenzrahmens vom zivilen Zustand in jenen des Krieges der entscheidende Faktor, wichtiger als alle Weltanschauung, Disposition und Ideologisierung. Diese sind nur wichtig dafür, was die Soldaten für erwartbar, gerecht, irritierend halten, aber nicht für das, was sie tun.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.394)

Hatte es bisher immer geheißen, daß es für das, was letztlich wirklich getan wird, nicht auf die „Weltanschauung, Disposition und Ideologisierung“ ankomme, sondern auf die Erwartungen, die mit einer konkreten Situation verbunden sind, so kommt es jetzt plötzlich auch nicht mehr auf die Erwartungen an, die nun auch gar nicht mit den konkreten Situationen verbunden sind, sondern vielmehr mit „Weltanschauung, Disposition und Ideologisierung“! – Wie kommt es zu dieser unvermittelten Rücknahme früherer Aussagen und ihre Verkehrung ins Gegenteil?

Es ist einfach die Folge aus einem eklatanten begrifflichen Defizit. Keiner der Begriffe, die Neitzel und Welzer verwenden, um das Handeln von Menschen zu beschreiben, ist definiert. Sie werden nur entsprechend dem allgemeinen Sprachgebrauch verwendet. Jeder kann sich ungefähr vorstellen, was Mentalitäten sind, oder Personeigenschaften, Weltanschauungen, Ideologien, Normen, Wertekanons etc. Und irgendwie weiß man auch, was es bedeutet, wenn von einem etwas ‚erwartet‘ wird. Aber wo genau verläuft die Grenze zwischen allen diesen Begriffen? Was macht die Erwartungshaltung in einer Situation begrifflich so ganz und gar anders als Begriffe wie ‚Normen‘, ‚Wertekanons‘ ‚Ideologien‘ etc.? Warum ist das eine abstrakt und das andere konkret? Das wird an keiner Stelle ausführlicher erörtert und das macht die ganze Begrifflichkeit letztlich unbrauchbar.

Nehmen wir z.B. den Begriff der Ideologie. Was ist das? Bei einem ersten Versuch, diesen Begriff einzugrenzen, würde ich sagen, daß es um normative Behauptungen über die Welt und die Gesellschaft geht, die sich einer weitergehenden Begründung entziehen. Mit ihnen soll ich dazu gebracht werden, etwas für richtig zu halten und Dinge zu tun, die nicht unbedingt in meinem Interesse liegen. Es ist ganz offensichtlich, daß bestimmte gesellschaftliche Interessengruppen, insbesondere die ‚Mächtigen‘, sich bestimmter Ideologien bedienen, um andere gesellschaftliche Gruppen dazu zu bringen, etwas Bestimmtes zu tun oder nicht zu tun.

Wenn Neitzel und Welzer also behaupten, daß Ideologien keinen Einfluß darauf haben, was wir in konkreten Situationen wirklich tun, wären natürlich alle die Bemühungen der genannten Interessengruppen vergeblich, und man wundert sich, warum sie so einen großen Aufwand betreiben, der ohnehin nichts bringt. Im Interesse der weiteren Argumentation nimmt man als Leser diese Behauptung aber gerne hin, und man ist gespannt, wie es weitergeht. Dann zeigt sich aber, daß Neitzel und Welzer zahlreiche Beispiele für ideologische Aktivitäten von seiten der jeweiligen Regierungen und Militärführungen in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ bringen, mit denen die allgemeine Wehrbereitschaft in der Bevölkerung angehoben werden sollte: „Der Krieg sollte (in der Weimarer Republik mit Hilfe des Wehrdienstes – DZ) mental vorbereitet werden, indem Mut, Begeisterung und Aufopferungsfähigkeit gefördert wurden.()“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.69) – Und an anderer Stelle: „Bereits 1924 hatte der Chef der Heeresabteilung im Truppenamt, Oberstleutnant Joachim von Stülpnagel, den Weg vorgegeben und die ‚moralische Vorbereitung von Volk und Heer auf den Krieg‘ gefordert. Weil die ‚Masse unseres Volkes‘ nicht vom ‚kategorischen Imperativ, für das Vaterland zu kämpfen und zu sterben‘, durchdrungen sei, riet er unter anderem zur ‚nationalen und wehrhaften Erziehung unserer Jugend in Schule und Universität‘ ...“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.70f.)

Hinzu kommen einige sehr ausführliche und detailreiche Seiten zur Praxis der Ordensverleihung im Ersten und Zweiten Weltkrieg. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.76-81) An keiner dieser historischen Erläuterungen zur geistigen und moralischen Vorbereitung auf den Krieg stellen sich Neitzel und Welzer die Frage, ob es sich hier denn nicht um Ideologie handelt, also um jenes Phänomen, das angeblich keine Auswirkung darauf hat, was jemand letztlich wirklich tut!

Dabei hätten sich alle die verschiedenen Begriffe bei einigermaßen klarer Definition leicht in ein einfaches Bild von der schiefen Ebene einordnen lassen. Schon der Begriff der „Pfadabhängigkeit“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.44f., 49f., 400) hätte dieses Bild nahegelegt. In der „Praxis des Krieges“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.417) spielt die Ideologie sicher nur eine geringe Rolle. An ihre Stelle tritt die Gruppe, die jeden anderen Begründungszusammenhang überflüssig macht. Aber vor der Praxis des Krieges, bei der Vorbereitung, ist ihre Funktion umso wichtiger! So kann man an den historischen Zusammenhängen bis hin zu den Abhörprotokollen erkennen, wie die ‚abstrakteren‘ Handlungsorientierungen (Ideologien, Normen, Rollenerwartungen, wirtschaftliche und geographische Notwendigkeiten, militärische Wertekanons, soldatischer Drill, persönliche Dispositionen etc.) auf der schiefen Ebene nach und nach durch immer konkretere Handlungsorientierungen ergänzt und schließlich in der „Kameradschaftsgruppe“ (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.31, 34, 40f.u.ö.) sogar vollständig durch Gruppendenken ersetzt werden.

Letztlich läßt sich also die ständig wiederholte Beteuerung, daß Ideologien für das Handeln keine Rolle spielen, nur aufrecht erhalten, weil man ihre Auswirkungen an der falschen Stelle sucht. In der konkreten Situation kommen sie einfach nicht vor. Aber sie gehören durchaus zu ihrem Referenzrahmen und entfalten in diesem ihre Wirksamkeit. Warum aber suchen Neitzel und Welzer an der falschen Stelle nach ihnen? Weil sie versäumt haben, zu definieren, was Ideologie eigentlich ist!

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Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a.M. 5/2011

1.  Rückblick auf de Waal
2.  Methode
3.  Referenzrahmen, Rollenerwartungen und Lebenswelt
4.  Rollenerwartungen und Arbeitsteilung
5.  Mentalitäten, Eigenschaften und Ideologien
6. Wertewandel und shifting baselines
7. Gruppendenken und Pfadabhängigkeiten
8. „Drittes Reich“ und Differenz
9. Zur Bedeutung individuellen Urteilens und Handelns

Bei Plessner ist das menschliche Verhalten eine ganzheitliche Ausdrucksform der Person: „Menschliches Verhalten in der Fülle seiner Möglichkeiten läßt sich nicht unter einem Teilaspekt begreifen.“ (Stufen, S.XVIII) – Nach Plessner hat das menschliche Verhalten bei der Untersuchung aller menschlichen Phänomene von der Physiologie bis zum Bewußtsein Priorität, so daß z.B. neurophysiologische Prozesse nicht das Verhalten erklären, sondern umgekehrt das menschliche Verhalten die neurophysiologischen Prozesse: „Nur das Verhalten erklärt den Körper, nur die dem Menschen nach seiner Auffassung und Zielsetzung vorbehaltenen Arten des Verhaltens, Sprechen, Handeln, Gestalten, Lachen und Weinen, machen den menschlichen Körper verständlich, vervollständigen seine Anatomie.“ (Lachen/Weinen, S.11)

In dem Wort steckt ‚Haltung‘, und Haltung ist ein vom menschlichen Bewußtsein zugelassenes (passives) oder angebahntes (aktives) individuelles Gleichgewicht (Homöodynamik) aus unbewußt physiologischen und bewußt intentionalen Handlungspotentialen, die unsere individuelle Urteilskraft und unser individuelles Handeln unterstützen oder behindern.

Schon Plessner hatte allerdings bei seiner Grenzbestimmung von Gemeinschaft und Gesellschaft den Begriff der „Maske“ eingeführt. Die spezifisch menschliche Expressivität als Doppelaspektivität von Innen und Außen beinhaltet nämlich, daß Denken und Handeln keine Einheit bilden oder bilden müssen. Für das menschliche Verhalten in der Gesellschaft bedeutet das, daß wir hier einen Spielraum zur Verfügung haben, in dem wir sein können, was wir nicht sind, – in dem wir so tun als ob. Dieser Spielraum ermöglicht ein seelisches Wachstum, das die Intimität und Enge der Gemeinschaft verwehrt.

Allerdings beinhaltet diese prinzipielle Grenzbestimmung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft ein wechselseitiges Ausschlußverhältnis: wo Gemeinschaft ist, kann keine Gesellschaft sein, und wo Gesellschaft ist, kann keine Gemeinschaft sein. Es gibt bei Plessner kein Kontinuum des Übergangs zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, sondern nur den ‚heroischen‘ Sprung über eine Kluft hinweg. Nicht umsonst unterscheidet Plessner zwischen dem Durchschnittsmenschen, der immer der Gemeinschaft verhaftet bleibt, und dem Gesellschaftsheroen, der die Belastungen der arbeitsteiligen Moderne auf sich nimmt und verantwortet. (Vgl. Grenzen, S.38f.)

Dennoch bildet der Mensch auch in seiner exzentrischen Positionalität ein Ganzes aus Körper, Seele und Geist, und das soziale Leben, das er führt, die Lebenswelt, besteht zu gleichen Anteilen aus Gemeinschaft und Gesellschaft. Wie kann es also sein, daß er entweder Gemeinschaftsmensch ist oder Gesellschaftsmensch? Dieses Entweder/Oder kann nicht funktionieren. Es muß ein Übergangskontinuum geben – und sogar nicht nur eins, sondern viele Übergangskontinuen! –, die es ihm ermöglichen beides zugleich zu sein. Gerade Plessners Begriff der Maske bietet sich an, um die Funktionsweise dieser Übergangskontinuen zu erklären. Denn ‚Maske‘ meint ja letztlich nichts anderes als ‚Rolle‘.

Rollen wieder sind letztlich nichts anderes als das individuelle Verhaltensmoment, das der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung von Funktionen, kurz: der Arbeitsteilung entspricht. Zugleich sind Rollen ein wichtiges Element des Gruppenverhaltens, also von Gemeinschaften. Sie bilden also in der Tat „eine mittlere Ebene zwischen den kulturellen Bindungen und Verpflichtungen und den gruppenspezifischen und individuellen Deutungen und Handlungen“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.30). Sie bilden außerdem ein wesentliches Moment der institutionellen und mentalen Infrastruktur einer Gesellschaft: „Gesellschaften basieren nicht nur auf dem, was irgendwann als Quellen für Historiker lesbar wird, sondern auch aus materiellen, institutionellen und mentalen Infrastrukturen, also aus Dingen wie Fabriken, Straßen und Abwässersystemen ebenso wie aus Schulen, Behörden und Gerichten und – was häufig übersehen wird – aus Traditionen, Gewohnheiten und Deutungsmustern. Alle drei Typen von Infrastrukturen bilden die für selbstverständlich gehaltene Welt.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.50)

Auf gemeinschaftlicher Ebene bleibt diese Arbeitsteilung unterschiedlicher Rollenerwartungen (in Form von Verwandtschaftsverhältnissen in der Familie: Vater, Mutter, Tochter, Sohn, Grußmutter, Großvater etc.) übersichtlich und berechenbar.„Rollenüberlagerungen“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.32f.), bei denen z.B. dieselbe Person zugleich die Rolle der ‚Tochter‘ in der einen Generation und die Rolle der ‚Mutter‘ in der nächsten Generation innehaben kann, bleiben kontrollierbar.

Die gesellschaftliche Arbeitsteilung kann nun aber zu völlig absurden, sogar tödlichen Rollenüberlagerungen führen, z.B. im „Dritten Reich“, wo Sekretärinnen beim Aussortieren von Personalakten über Leben oder Tod von Menschen entscheiden. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.32f.) Oder wenn im Krieg ansonsten ‚harmlose‘ wirtschaftliche Produktionszweige zum Teil einer militärischen Waffenproduktion werden, so daß die Arbeiter, die bis dahin ihre ‚Rolle‘ als Arbeitnehmer mit gutem Gewissen mit-‚spielten‘, plötzlich an der Vernichtung von Menschenleben beteiligt werden. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.33)

Aber genau genommen gilt das nicht nur für solche Ausnahmesituationen. Wir hatten schon bei Günther Anders gesehen, wie die Konsumenten aufgrund der Arbeitsteilung einerseits selbst hinter ihrem Rücken an der Produktion des Massenkonsumenten mitbeteiligt sind und wie andererseits die Atombombe der Arbeit die Unschuld geraubt hat, die Arbeit durch und durch moralisch verdorben hat, weil wir alle an ihrer Produktion beteiligt sind. Kurz: die Arbeitsteilung läßt niemanden ‚unbeteiligt‘.

Das ist aber nun genau der Grund, warum die individuelle Verantwortung nicht mehr gefühlt wird. Sie ist einfach nicht mehr sichtbar. Weil die spezifischen Rollen, die wir im Rahmen der arbeitsteiligen Prozesse ‚spielen‘, nur noch partikular sind, ist letztlich auch unsere Verantwortung partikular. Und in historischen Ausnahmezeiten wie dem „Dritten Reich“ und dem „Krieg“ können nun die gesellschaftlichen Funktionszweige und die wirtschaftlichen Produktionszweige beliebig auseinandergenommen und den militärischen Zwecken entsprechend neu zusammengefügt werden, so daß die verschiedenen Rollenspieler mit ihrer ‚Arbeit‘ ganz neuen Zwecken zuarbeiten, ohne daß sich an ihrer Lebenswelt irgendetwas ändert: „Gesellschaftliche Funktionszusammenhänge und Institutionen sind Speicher von Potentialen,() und das gilt im Besonderen, wenn sich diese im Krieg befinden.“ (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.411) – ‚Potentiale‘ heißt hier: die in den Institutionen und Betrieben organisierten Funktions- und Arbeitssteinchen lassen sich problemlos zu einem neuen Mosaik zusammenfügen, ohne daß die einzelnen ‚Steinchen‘ irgendetwas davon merken.

Das einzelne Individuum braucht zu dieser Neuorganisation keinerlei psychischen Aufwand zu leisten: „Genau deshalb bedarf es keines tiefgreifenden psychischen Umbaus, auch keiner Selbstüberwindung oder Sozialisation zum Töten, wenn Krieg ist: Dann hat sich lediglich der Zusammenhang verschoben, in dem man tut, was man ohnehin tut.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.412) – Denn der Krieg selbst, als arbeitsteiliger Prozeß, wird als Arbeit wahrgenommen.

Wenn man von Rollen spricht, muß man auch von Arbeitsteilung sprechen und auch von Gruppendynamiken. An dieser Stelle macht es einfach keinen Sinn mehr, rigoros zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft zu unterscheiden, als gäbe es keinen Übergangsbereich. Gruppendynamiken beeinflussen gesellschaftliche Prozesse, und umgekehrt können gesellschaftliche Veränderungen bewußt durch Nutzung von Gruppendynamiken angebahnt und herbeigeführt werden. Der Ort, wo diese Prozesse ausgetragen werden, ist aber immer das Individuum, und deshalb ist es so wichtig, die Freiheit zu bestimmen, die in diesem Rahmen seinem Urteilen und Handeln bleibt.

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Mittwoch, 1. Juni 2011

Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a.M. 5/2011

1. Rückblick auf de Waal
2. Methode
3. Referenzrahmen, Rollenerwartungen und Lebenswelt
4. Rollenerwartungen und Arbeitsteilung
5. Mentalitäten, Eigenschaften und Ideologien
6. Wertewandel und shifting baselines
7. Gruppendenken und Pfadabhängigkeiten
8. „Drittes Reich“ und Differenz
9. Zur Bedeutung individuellen Urteilens und Handelns

Wenn es darum geht, festzuhalten, welcher Faktor sich im Unterschied zu Ideologien, Theorien und Überzeugungen und sogar im Unterschied zu Mentalitäten und Charaktereigenschaften auf das Handeln eines Menschen auswirkt, sprechen Neitzel und Welzer meistens von den Erwartungen, von denen jemand glaubt, daß er ihnen in einer bestimmten Situation gerecht werden soll: „In Wahrheit handeln Menschen, und das wird dieses Buch zeigen, so, wie sie glauben, dass es von ihnen erwartet wird. Und das hat viel weniger mit abstrakten ‚Weltanschauungen‘ zu tun als mit ganz konkreten Einsatzorten, -zwecken und -funktionen und vor allem mit den Gruppen, von denen sie ein Teil sind.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.15)

Bei diesen ‚Erwartungen‘ handelt es sich entweder um einen ganzen Komplex von Hintergrunderwartungen, wie sie z.B. ein Referenzrahmen darstellt (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.16-19, 22, 40f., 47, 64f., 394 u.ö.), oder es handelt sich um konkrete Rollenerwartungen (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.22f., 30-35, 64, 391f., 411f.u.ö.), die uns auf ein bestimmtes Verhalten verpflichten. Im Rahmen ihrer Referenzrahmenanalyse unterscheiden Neitzel und Welzer zwischen vier Ordnungen zunehmender Konkretheit. Der weiteste Referenzrahmen, der Referenzrahmen erster Ordnung, wird vom „soziohistorischen Hintergrundgefüge“ gebildet (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.18) und umfaßt die „Totalität“ aller möglichen Handlungsorientierungen. Als Beispiel für diesen Referenzrahmen nennen Neitzel und Welzer die christliche Kultur oder die „gefühlte Welt“. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011,  S.19)

Neitzel und Welzer sprechen auch von einer „weitgehend unbewusste(n)“ „Grundierung aller bewussten Orientierungsbemühungen“: „Eine solche Totalität zu untersuchen und darzustellen, ist unmöglich.“ (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.47) – Als diese Sinntotalität entspricht der Referenzrahmen erster Ordnung der Lebenswelt, wie wir sie hier in unseren Posts schon mehrfach thematisiert hatten.

Der Referenzrahmen zweiter Ordnung umfaßt den „soziohistorischen Raum“, womit z.B. die Geltungsdauer eines Regimes oder einer staatlichen Verfassung gemeint ist. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.19) Ein aktuelles Beispiel für diese Ebene wäre vielleicht die aktuelle Umstellung der Stromerzeugung in Deutschland auf erneuerbare Energien. Den Referenzrahmen, in dem Atomkraft noch akzeptiert wurde, gibt es nicht mehr. Hier treten wir schon in den Raum des bewußten Urteilens und Handelns ein.

Als Referenzrahmen dritter Ordnung nennen Neitzel und Welzer den „soziohistorischen Geschehenszusammenhang“ und verweisen als Beispiel auf den zweiten Weltkrieg. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.19) Ein friedfertigeres Beispiel aus dem Zivilleben wäre vielleicht die Legislaturperiode einer Regierung zwischen zwei Wahlen.

Bei dem konkretesten, weil dem Individuum nächsten Referenzrahmen handelt es sich vor allem um dessen „persönliche Dispositionen“. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.19) Hier geht es um Mentalitäten und Personeigenschaften. In meinen Posts habe ich in diesem Zusammenhang immer von der Haltung gesprochen. In Neitzels und Welzers Buch geht es bei der Analyse der Abhörprotokolle vor allem um die Referenzrahmen zweiter und dritter Ordnung, also um das „Dritte Reich“ und den Zweiten Weltkrieg. (Vgl.ebd.)

Wir haben es offensichtlich bei den verschiedenen Referenzrahmen mit einem Kontinuum zu tun, das von der umfassenden Sinntotalität einer Lebenswelt bis zum individuellen Denken und Handeln reicht. Es gibt hier keine prinzipielle Grenzlinie wie zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, wie sie Plessner beschrieben hat. Ähnlich wie bei den verschiedenen ‚Ordnungen‘ des Referenzrahmens gibt es nun auch bei den Rollenerwartungen ein entsprechendes Kontinuum zwischen weitgehend unbewußten und schließlich bewußten Rollen: „Rollen nehmen eine mittlere Ebene zwischen den kulturellen Bindungen und Verpflichtungen und den gruppenspezifischen und individuellen Deutungen und Handlungen ein. Es gibt eine Reihe von Rollen, bei denen wir uns nicht bewusst sind, dass wir ihren Normen entsprechend handeln, obwohl wir das ganz selbstverständlich tun. Hierzu zählen etwa alle Rollen, nach denen Soziologen Gesellschaften differenzieren: Geschlechts-, Alters-, Herkunfts- oder Bildungsrollen. Die damit verbundenen Sets von Anforderungen und Normen können zwar bewusst wahrgenommen und auch hinterfragt werden, müssen es aber nicht und werden es gewöhnlich auch nicht. Diese selbstverständlichen Rollen prägen nichtsdestotrotz Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungsoptionen ...“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.30)

Referenzrahmen und Rollenerwartungen entsprechen einander, und letztlich gibt es zwischen den beiden Begriffen hinsichtlich der Lebenswelt wohl keinen Unterschied. Ich habe mir jedenfalls überlegt, wie genau die Beziehung zwischen Referenzrahmen, Rollenerwartungen und Lebenswelt wohl sein mag, und ich habe zu diesem Zweck auf das Modell einer Pyramide zurückgegriffen, wie es Plessner in „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ (1975/1928) beschreibt. (Vgl. Stufen, S.65f.) Da es sich bei der Pyramide um ein Bewußtseinsmodell handelt, bei dem es um die allmähliche Sedimentation von Bewußtseinsinhalten im Unbewußten geht, wird daran deutlich, warum die vier ‚Ordnungen‘ ein Kontinuum bilden. Es gibt eben keine klar definierte Grenze zwischen Unbewußtem und Bewußtem.

Die verschiedenen Ebenen (Ordnungen) des Referenzrahmens beeinflussen also in Form von Rollenerwartungen unser Verhalten von der Lebenswelt über die individuelle Haltung bis hin zur bewußten Aufmerksamkeit unseres aktuellen Denkens und Urteilens an der Spitze der Pyramide. Daran wird zunächst deutlich, daß die Spitze der Pyramide gegenüber dem gewaltigen Rest bis zur Basis nur einen verschwindend geringen Anteil ausmacht, was scheinbar die These bestätigt, daß unser individueller Denk- und Handlungsspielraum ebenfalls nur verschwindend gering ist.

Dabei wird aber übersehen, daß es zwischen der Lebenswelt und der bewußten Aufmerksamkeit noch den Bereich der Haltung gibt, den ich hier als ein mehr oder weniger ausgewogenes, individuelles Verhältnis von Naivität und Reflexion beschreiben möchte. Durch bewußte Übung, die ich auch einfach als Bildung bezeichne, sind wir in der Lage, Einfluß auf unser unbewußtes Handlungspotential zu nehmen. Antonio Damasio spricht hier von „rascher Kognition“. Ich selbst spreche von gespeicherter Zeit, von Zeit, die uns im Falle eines Handlungszwangs, der uns immer viel zu wenig Zeit zum Überlegen läßt, in Form von ‚gespeicherter‘ Handlung zur Verfügung steht, so daß wir nun auf gekonnte, weil vorweg schon eingeübte Weise reagieren können.

Eine solche „Handlungsökonomie“ bildet nach Neitzel und Welzer auch der Referenzrahmen: „Referenzrahmen gewährleisten Handlungsökonomie: Das allermeiste, was geschieht, lässt sich in eine bekannte Matrix einordnen. Das wirkt entlastend. Kein Handelnder muss immer wieder bei null beginnen und stets aufs Neue die Frage beantworten: Was geht hier eigentlich vor?“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.17) – An anderer Stelle sprechen Neitzel und Welzer auch davon, daß „(g)esellschaftliche Funktionszusammenhänge und Institutionen ... Speicher von Potentialen (sind) ...“ (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.411)

Lebenswelt und Haltung bilden in der Pyramide also ein zusammenhängendes Ganzes aus Handlungspotentialen, die die Persönlichkeit eines Menschen ausmachen. Der schmale Bereich des Bewußtseins ruht auf einem riesigen Bereich biologischer und kultureller Funktionen und Prozesse, die genau dieses wache Bewußtsein unserer selbst erst ermöglichen. Den Übergang zwischen Lebenswelt und Haltung habe ich in der Graphik mit einer gestrichelten Linie gekennzeichnet, und ich bezeichne diesen Übergang als „bewußte Übung: Bildung“. Der unterste Bereich der Pyramide umfaßt die ganze biologische Evolution des Menschen. Hier haben wir ebenfalls einen nicht genau präzisierbaren Übergang zur kulturellen Evolution des Menschen (gestrichelte Linie). Die Pyramide als Ganzes soll für den einzelnen Menschen stehen, in dem diese Evolution gipfelt.

Der Bereich der Freiheit umfaßt dabei sowohl Haltung wie bewußte Aufmerksamkeit. Und diese Freiheit befindet sich in keinem Widerspruch zur Lebenswelt und zur Biologie. Allerdings werden mit jedem Freiheitsverlust im oberen Bereich der Pyramide wieder Sedimente aus dem unteren Bereich aufsteigen und das individuelle Handeln, das sie sonst nur tragen, bestimmen.

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Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a.M. 5/2011

1. Rückblick auf de Waal
2. Methode
3. Referenzrahmen, Rollenerwartungen und Lebenswelt
4. Rollenerwartungen und Arbeitsteilung
5. Mentalitäten, Eigenschaften und Ideologien
6. Wertewandel und shifting baselines
7. Gruppendenken und Pfadabhängigkeiten
8. „Drittes Reich“ und Differenz
9. Zur Bedeutung individuellen Urteilens und Handelns

Neitzel und Welzer wenden sich gegen eine „moralische“ Bewertung von Gewalt (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.18, 34, 43f., 422), und sie sprechen sich an einer Stelle sogar prägnant für einen „unmoralischen“ Blick auf die Gewalt aus (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.18). Als wissenschaftliches Ideal schwebt ihnen die Haltung eines Quantenphysikers vor: „Wird es in einer historischen oder soziologischen Analyse der Gewalt jemals möglich sein, in Betrachtung ihres Gegenstands die moralische Gleichgültigkeit zu entwickeln, die ein Quantenphysiker gegenüber einem Elektron hat?“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.422) – Diese Frage ist nicht etwa eine distanzierend rhetorische, als ginge es darum, eine grundlegende Skepsis gegenüber einem solchen Ansinnen zum Ausdruck zu bringen. Vielmehr erscheint Neitzel und Welzer die physikalische Einstellung gegenüber einem gesellschaftlichen und individuellen Phänomen wie der Gewalt als durchaus erstrebenswert.

Es hat solche methodologischen Einstellungen menschlichen Bewußtseinsphänomenen gegenüber schon gegeben, und es gibt sie noch: ich verweise nur auf den hier schon öfter erwähnten Behaviorismus und auf die Luhmannsche Systemtheorie. Aber gerade von Welzer, dem Autor von „Klimakriege“, hätte ich sie am wenigsten erwartet. Wer sich mit solchem Engagement um eine menschenwürdige Zukunft sorgt wie Welzer, sollte doch diese humane Grundeinstellung gerade auch in seiner Forschungsmethodik berücksichtigen und nicht verleugnen.

Diese Forschungsmethodik enthält überhaupt so viele Brüche und nur halb durchdachte, schlecht begründete Behauptungen, daß die von Neitzel und Welzer angekündigten „überraschenden“ Ergebnisse nur vor diesem Hintergrund als überraschend erscheinen können. Allein die Feststellung, daß weltanschauliche Überzeugungen und sogar Charaktereigenschaften nur einen geringen Einfluß auf unser Handeln haben (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.15f., 44, 391, 416f.) und daß sich im Gegenteil sogar zwischen Denken und Handeln eine tiefe Kluft auftut, ist jedem Menschenkenner geläufig. Praktisch die ganze große Literatur in allen Kulturkreisen beruht auf dieser verstörenden Erfahrung, die wir Menschen schon immer mit uns selbst gemacht haben. Neu oder überraschend ist diese Erkenntnis jedenfalls nicht. Nicht zuletzt Plessner hat sie mit der exzentrischen Positionalität auf den Begriff gebracht.

Die Entscheidung gegen eine moralische Betrachtungsweise des Gewaltphänomens ist aber auch begrifflich völlig ungenügend untermauert. So wenden sich Neitzel und Welzer z.B. gegen den Begriff der Grausamkeit, weil er keine „analytische Kategorie“ sei, sondern eine „moralische“. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.18) Diese Aussage wird argumentativ weder vor- noch nachbereitet. Kein Wort darüber, was Neitzel und Welzer unter einer analytischen Kategorie und was sie unter einer moralischen Kategorie verstehen. Was wird mit dieser Aussage also bezweckt? Soll der Leser aus dem nicht weiter erläuterten Umstand, daß Grausamkeit keine „analytische Kategorie“ ist, schließen, daß Gewalt, im Unterschied zur Grausamkeit, eine analytische Kategorie ist?

Dann hätte ich aber gerne zuvor den analytischen Charakter dieser Kategorie näher erläutert gehabt. Zur Analytizität des Gewaltbegriffs würde für mich z.B. gehören, zwischen Tätern und Opfern zu differenzieren. Aber die Opferperspektive kommt bei Neitzel und Welzer überhaupt nicht vor. Abgesehen von den zahlreichen, historisch naheliegenden Verweisen auf Kommunisten und Juden etc. wird die Opferperspektive selbst nur an drei Stellen angesprochen: einmal um auf die Relativität von Gewalterfahrungen zu verweisen (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.29) und ein anderes Mal um auf die Banalität hinzuweisen, daß die Täter- und die Opferperspektive verschieden sind (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.34). Auf die dritte Stelle werde ich später noch zu sprechen kommen. Gerade weil der letztere Hinweis auf die Verschiedenheit von Täter- und Opferperspektive so selbstverständlich wie banal ist, frage ich mich, warum Neitzel und Welzer diese Differenz nicht in ihren Gewaltbegriff aufgenommen haben. Es kommt immer nur die Täterperspektive vor, – und zwar in durch und durch entmoralisierter Form.

Das ist nicht etwa damit zu rechtfertigen, daß es sich bei dem Gegenstand, mit dem Neitzel und Welzer es zu tun haben, um Abhörprotokolle von deutschen Kriegsgefangenen handelt, also um Täter und nicht um Opfer. Selbstverständlich geht es in ihrem Buch um diese Täter, und daran ist auch nichts auszusetzen. Allerdings sollten sie im vorhinein – gerade im Interesse einer methodologischen Grundlegung ihrer Studie – den Gewaltbegriff umfassend geklärt haben, anstatt ihn durch eine einseitige Perspektive (die Täterperspektive, die dann auch noch entmoralisiert, also so gründlich wie möglich von jedem Bezug auf mögliche Opfer abgetrennt wird) zu verzerren und damit letztlich unbrauchbar zu machen. Keine Gewalt ohne Opfer: so viel Analyse sollte schon möglich sein dürfen, ohne dem Verdacht einer unsachlichen Moralisierung zu unterliegen.

Überhaupt ist es einfach nicht ausgemacht, daß es einen Widerspruch zwischen einer moralischen und einer sachlichen Perspektive auf das Gewaltphänomen gibt. Eher habe ich den Eindruck, daß der Versuch, die moralische Perspektive zu verunglimpfen, eng mit der Fokussierung auf den Gewalttäter und der Ausblendung des Opfers zusammenhängt. Diese ganze Problematik zum Gewaltbegriff hätte von Neitzel und Welzer ausführlich diskutiert werden müssen, um ihre schließliche Entscheidung, sich ausschließlich dem Tätermaterial zuzuwenden, anders als bloß faktisch, d.h. vom Material her, sachlich zu begründen. Die faktische Begrenzung durch das Material, die Abhörprotokolle, wird erst durch einen fundierten Gewaltbegriff sachlich begründbar.

Es gibt einen konzeptionellen Hintergrund, der Neitzels und Welzers Ignoranz gegenüber den Opfern auf den ersten Blick verständlich erscheinen läßt. In dem einzigen Kapitel, in dem sie sich an einem differenziereren Begriff von Gewalt versuchen (vgl. Neitzel/Welzer 2011, S.88-94), beziehen sie sich auf Jan Phillip Reemtsmas Konzept der autotelischen Gewalt. „Autotelisch“ meint aber nun tatsächlich nichts anderes als eine Gewalt, die sich selbst zum Ziel hat (vgl. Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne (2009), S.117), also eine Gewalt, in der das Opfer von vornherein keine Rolle spielt. Das Opfer wird ungeachtet seiner individuellen Persönlichkeit – also buchstäblich grundlos – zum Opfer, was wahrscheinlich die tiefste Verletzung ist, die man einem Menschen überhaupt zufügen kann.

Nun führt dieses Konzept bei Reemtsma – anders als bei Neitzel und Welzer – aber keineswegs zu einer Vernachlässigung der Opferperspektive. Ausführlich und detailliert beschreibt und analysiert Reemtsma die Folgen, die diese „Reduktion auf den Körper“ für das Opfer hat, und kommt zu dem Ergebnis, daß autotelische Gewalt letztlich das Wesen jeder Gewaltanwendung auf die Spitze treibt, nämlich von den Opfern „als primär körperlich“ wahrgenommen zu werden. (Reemtsma 2009, vgl.S.124ff.) – Reemtsma wendet sich insbesondere gegen verschiedene Konzepte von Gewalt, die in ihr vor allem das „Böse“ sehen (Reemtsma 2009, vgl.S.119f.), so daß es mal als verfehlter guter Wille, mal als negative Seite des Guten, also als der Schatten, den das Licht wirft, mal als notwendiges Übel, aus dem letztlich immer Gutes hervorgeht (Mephisto) etc., verstanden wurde. Das ist durchaus eine respektable Begründung für eine notwendige Entmoralisierung des Gewaltbegriffs. Aber dabei bleibt doch festzuhalten, daß Reemtsma dabei niemals die Opferperspektive unter den Tisch fallen läßt.

Hier ist also die dritte Stelle, an der Neitzel und Welzer nochmal auf die Opferperspektive zu sprechen kommen. Letztlich wird aber Gewalt nur in den Rahmen einer anthropologischen Bedürfnisstruktur des Menschen eingeordnet, also als ein Bedürfnis wie essen, trinken, atmen und Sex aufgefaßt. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.90) Damit ist der anthropologische Rahmen umschrieben, das ganze traurige Menschenbild, das ihren Analysen zugrundeliegt.

Damit haben wir ein weiteres Problem im methodischen Zugriff auf das Gewaltphänomen angesprochen, daß Neitzel und Welzer nämlich über keine stimmige Anthropologie verfügen. Zwar positionieren sie sich zunächst deutlich hinsichtlich der Freiheit des Urteilens und Handelns: „Zwischen Reiz und Reaktion gibt es bei Menschen etwas Hochspezifisches, das ihr Bewusstsein ausmacht und die menschliche Gattung von allen anderen Lebewesen unterscheidet: Menschen deuten, was sie wahrnehmen, und erst auf der Grundlage dieser Deutung ziehen sie Schlussfolgerungen, entscheiden und agieren sie.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.16) – Demnach lehnen sie einen den Menschen auf kybernetische Modelle reduzierenden Behaviorismus ab.

Aber von welcher Art ist das Bewußtsein, das die Wahrnehmungsreize deutet und interpretiert? Es ist ein Bewußtsein, das von Referenzen abhängig ist, das also irgendwie doch wieder nicht so frei ist, daß man hier von einem individuellen Verstand reden könnte. An dieser Stelle wird die Argumentation von Neitzel und Welzer seltsam verschwiemelt und verworren. So heißt es über die unterschiedlichen Referenzrahmen von Moslems und Abendländern: „... kein Mitglied einer der beiden Gruppen deutet, was er sieht, frei von Referenzen, die nicht er selbst gewählt und ausgesucht hat und die seine Wahrnehmungen und Interpretationen prägen, anleiten und in beträchtlichem Ausmaß steuern.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.17)

Wir haben es hier mit einer doppelten Verneinung zu tun, und wenn man sie zurückübersetzt in eine einfache positive Aussage, klingt sie eigentlich recht freundlich: sowohl Moslems als auch Christen sind demnach durchaus frei, sich der ihnen zur Verfügung stehenden ‚Referenzen‘ zu bedienen, um zu einem eigenen individuellen Urteil zu finden. Dann folgt aber gleich noch ein Satz mit einer doppelten Verneinung: „Das heißt nicht, dass es in besonderen Situationen nicht auch Überschreitungen des gegebenen Referenzrahmens gäbe und dass Neues gesehen und gedacht wird, aber das ist relativ selten der Fall.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.17) – Da stutzt man dann doch und fragt sich, ob man irgendwo was nicht richtig verstanden hat?

Übersetzt man sich den Folgesatz in eine einfache positive Aussage, so bedeutet er, daß wir ‚trotzdem‘ in der Lage sind, uns aus unserem Referenzrahmen zu befreien, daß uns das aber eher selten gelingt! – Wieso setzen Neitzel und Welzer diesen Satz mit seiner doppelten Verneinung in eine Opposition zum ersten Satz mit seiner doppelten Verneinung – warum benutzen sie überhaupt so viele doppelte Verneinungen? –, wo doch schon der erste Satz die Freiheit des Menschen zum individuellen Urteilen und Handeln behauptet hatte? Und wieso schränkt der Schlußteil des zweiten Satzes die im ersten Satz behauptete Freiheit gleich wieder so sehr ein, daß sie angesichts ihrer Seltenheit als bedeutungslos erscheint?

Die einfache Antwort muß wohl lauten: die Autoren haben den Überblick über ihre Satzkonstruktionen verloren, und das ist leider symptomatisch für die gesamte Begrifflichkeit, mit der sie operieren. An dieser Stelle jedenfalls soll nur eins ausgesagt werden: der Mensch ist seinem Referenzrahmen gegenüber unfrei, und das Bewußtsein, das ihn bestimmt, ist eben das seines Referenzrahmens, der ihm einen nur geringen individuellen Spielraum gewährt, – kurz: Moslems sind Moslems, und Abendländer sind Abendländer.

Wenn sich Neitzel und Welzer also der „Referenzrahmenanalyse“ bedienen, als einem „Instrument für die Rekonstruktion der Wahrnehmungen und Deutungen von Menschen in bestimmten historischen Situationen“ (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.17f.), so ist die zugrundeliegende Anthropologie gelinde gesagt ‚desolat‘. Denn wenn diese Referenzrahmenanalyse es ermöglichen soll, „die Deutungen und Handlungen von Menschen“ zu verstehen, indem man „rekonstruiert, was sie ‚gesehen‘ haben – innerhalb welcher Deutungsmuster, Vorstellungen, Beziehungen sie Situationen wahrgenommen und wie sie diese Wahrnehmungen interpretiert haben“ (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.18), dann bleibt hier der Status des individuellen Bewußtseins, in dem diese Wahrnehmungen vollzogen werden, begrifflich völlig ungeklärt.

Und noch bedenklicher scheint es mir zu sein, daß genau diese „unmoralische“ Referenzrahmenanalyse es ermöglichen soll, „vergangene Handlungen“ nicht „zwangsläufig normativ“ zu interpretieren, weil man hier darauf verzichtet, „die normativen Maßstäbe der jeweiligen Gegenwart“ heranzuziehen. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.18) Denn das heißt letztlich nur: wenn bestimmte „Kriegsverbrechen“ aus heutiger Sicht zum militärischen und/oder nationalsozialistischen Wertekanon gehören, sind sie eben keine Kriegsverbrechen mehr, denn es gilt ja weder unsere Sichtweise von heute noch die der Opfer, sondern ausschließlich die der Täter.

Neitzel und Welzer kommen so zu einem scheinbar weisen, geschichtlicher ‚Neutralität‘ verpflichteten Fazit: „Wenn man aufhört, Gewalt als Abweichung zu definieren, lernt man mehr über unsere Gesellschaft und wie sie funktioniert, als wenn man ihre Illusionen über sich selbst weiter teilt.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.422) – Dieser Satz klingt irgendwie gut, verbindet aber tatsächlich zwei Aussagen, die nicht notwendigerweise zusammengehören: ich kann nämlich sehr wohl weiterhin Gewalt als Abweichung definieren, ohne deshalb gleich gesellschaftlichen ‚Illusionen‘ zu verfallen! Letztlich schreiben Neitzel und Welzer ihrem Leser vor, was er denken darf und was nicht, und sie bleiben ihm dabei vor allem eines schuldig: eine klare methodische Begründung!

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