„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 15. Mai 2011

Frans de Waal, Das Prinzip Empathie. Was wir von der Natur für eine bessere Gesellschaft lernen können, München 2011 (2009)

1.    Forschungsmethoden
2.    Die Natur des Menschen
    a)    Merkmale, Ursprungsmythen und Prinzipien

    b)    Egoismus und Selbst
    c)    Die russische Puppe (Schichtenmodell)
3.    Haltung und Empathie
    a)    Verkörperte Kognition
    b)    Der zweiteilige Prozeß
    c)    Der Abschaltknopf
4.    Unbeteiligte Perspektivenübernahme
5.    Ko-Emergenz-Hypothese

Origineller Weise ist bei de Waal die Natur des Menschen nicht etwas, das ihn von den Tieren unterscheidet, sondern etwas, das ihn mit den Tieren verbindet. Es gibt bei de Waal kein prinzipielles, dem Tierreich gegenüber grenzscharfes Kriterium der menschlichen Natur: „Es ist immer die gleiche Geschichte: Am Anfang postulieren wir klare Grenzen, etwa zwischen Menschen und Menschenaffen oder zwischen Menschenaffen und Tieraffen, in Wahrheit aber hantieren wir mit Sandburgen, die ihre Form weitgehend einbüßen, wenn sie vom Meer des Wissens überspült werden.“ (de Waal 2011, S.195)

Von Unterschieden zwischen Menschen und den anderen Tieren spricht de Waal immer nur in einem graduellen Sinne, – Menschen haben von allen ihren Eigenschaften, die sie grundsätzlich auch mit den Tieren gemeinsamen haben, einfach nur ‚mehr‘: „Es ist keine Geschichte, die dem Menschen eine Sonderrolle reserviert, obwohl wir von allem mehr haben: mehr Empathie, mehr VEN-Zellen und mehr Selbstwahrnehmung.“ (de Waal 2011, S.182)

Das kann auch gar nicht anders sein, vorausgesetzt, daß der Mensch aus der Evolution hervorgegangen ist: „Die Evolution bringt nämlich nie ‚enorme Anomalien‘ hervor. Sogar der Hals der Giraffe ist immer noch ein Hals. Die Natur kennt nur Variationen über Themen. Das gilt auch für die Kooperation. Der Versuch, menschliche Kooperation abzugrenzen gegen die umfassendere Kategorie der Natur, zu der Menschenaffen, Tieraffen, Vampirfledermäuse und Putzerfische gehören, ist schwerlich als evolutionärer Ansatz zu bezeichnen.“ (de Waal 2011, S.237)

Im Grunde besteht de Waals Buch in einer einzigen großen Widerlegung religiöser und philosophsicher Ursprungsmythen und aller bislang in der Forschung aufgestellten Listen spezifisch menschlicher Merkmale bzw. „Monopole“, wie Plessner sagen würde. (Vgl. Lachen/Weinen, S.41) Zu diesen Ursprungsmythen gehört de Waal zufolge, daß unsere Vorfahren die Savanne beherrschten (vgl.de Waal 2011, S.33) – in Wirklichkeit waren sie eher Teil der Nahrungskette –, oder „dass unsere Gesellschaft die willkürliche Schöpfung autonomer Menschen sei“ (vgl.de Waal 2011, S.35f.) – in Wirklichkeit waren wir schon immer zu schwach und hilfsbedürftig, um „ein völlig ungebundenes Leben“ zu führen (vgl.ebd.) – oder daß „unsere Spezies ... Krieg geführt (hätte), solange es sie gibt“ (vgl.de Waal 2011, S.38) – in Wirklichkeit fehlt dem Menschen jeder „Killerinstinkt“ (de Waal 2011, S.282), so daß er ohne entsprechend organisatorischem und propagandistischem Aufwand niemals in den Krieg ziehen würde.

Was de Waals letztere Behauptung betrifft, möchte man es kaum glauben, da die uns bekannte Welt schon immer voller entsetzlicher und blutiger Gegenbeispiele ist. Auf de Waals diesbezügliche Argumente möchte ich aber erst in einem späteren Post eingehen. An dieser Stelle interessieren mich mehr die erwähnten Listen spezifisch menschlicher Merkmale, die de Waal minutiös und detailreich widerlegt.

Zu diesen spezifisch menschlichen Merkmalen gehört, daß nur der Mensch Eigentum bzw Besitz kennt. De Waal hält dagegen, daß Menschenaffen den Besitz von Futter anerkennen, egal auf welche Weise er erworben wurde, ob beim einfachen Verteilen des Futters im Zoo – wer etwas zuerst an sich genommen hat, darf es auch behalten (vgl.de Waal 2011, S.17) – oder beim Sammeln oder Jagen in der freien Natur. Gemeinsam erjagte Beute wird dann nach genauen Regeln unter den Jagdteilnehmern verteilt. Wer nicht mitgejagt hat, muß betteln, und: „Selbst der dominanteste Mann bettelt unter Umständen vergeblich, wenn er nicht an der Jagd teilgenommen hat.()“ (de Waal 2011, S.225)

Nicht nur, daß eigentlich alle bei der Jagd kooperierenden Tiere den Besitz von Futter anerkennen und ausgeklügelte Verteilungsregeln von Beute beachten, Tier- und Menschenaffen tauschen sogar, was bei Menschenaffen bis hin zu einem regen Dienstleistungs- und Gütertausch führt, wobei sie sogar Geld als Tauschmittel akzeptieren. (Vgl.de Waal 2011, S.151f., 222, 225f., 228f., 250ff.) Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen: in Einzelfällen kann es sogar zu einem rudimentären Arbeitsmarkt kommen, wo nach gemeinsamer ‚Arbeit‘ der Futterbesitzer seinen ‚Mitarbeiter‘ bezahlt. (Vgl.de Waal 2011, S.229)

Aber es werden nicht nur Güter, Dienstleistungen und sogar Geld getauscht und geteilt. Entgegen Tomasellos Annahme werden zumindestens bei Schimpansen auch Informationen ausgetauscht. (Vgl.de Waal 2011, S.79, 82, 198, 202f., 205) So kennen die Schimpansen in de Waals Gruppe nicht nur ihre eigenen Namen, sondern auch die Namen der anderen Schimpansen und können gegebenenfalls losgeschickt werden, einen anderen Schimpansen zu holen. (Vgl.de Waal, S.82) Zum Informationsaustausch gehört die Fähigkeit der Perspektivenübernahme, da das Austauschen von Informationen nur da Sinn macht, wo zwei Partner nicht das gleiche Wissen haben und wo man voneinander weiß, was der andere weiß: „Interessant ist der Informationsaustausch, weil er auf demselben Vergleich zwischen der eigenen und der fremden Perspektive beruht – der Entdeckung von etwas, was andere wissen müssen, der auch höher entwickelte Empathie zugrunde liegt.“ (de Waal 2011, S.205)

Deshalb sind Affen selbstverständlich auch – anders als Tomasello (2002) vermutet – durchaus zur Nachahmung fähig (vgl.de Waal 2011, S.77ff., 83f.u.ö.). De Waal beschreibt Affen sogar als „Großmeister im Lesen von Körpersprache“. (Vgl.de Waal 2011, S.202)

Aufgrund ihrer ausgeprägten empathischen Fähigkeiten zum Verstehen von Körpersprache und zur Perspektivenübernahme sind Menschenaffen auch bis zur Selbstaufopferung bereit, anderen Schimpansen, natürlich insbesondere Freunden und nahen Verwandten, zu helfen. (Vgl.de Waal 2011, S.73f., 79, 131-136, 140-144, 156, 164, 170, 185-188, 211f.) Dafür überwinden sie sogar ihre Aquaphobie, was für einen Schimpansen gleichbedeutend ist mit der Bereitschaft, in den Tod zu gehen, was dann auch durchaus das traurige Ergebnis sein kann. (Vgl.de Waal 2011, S.143)

Entgegen Tomasellos (2002) Darstellung der Sozialstruktur von Schimpansen als extrem kompetitiv sind Tier- und Menschenaffen, also gerade auch Schimpansen, de Waal zufolge durchaus in der Lage, einander zu vertrauen (vgl.de Waal 2011, S.65, 212, 215, 218, 280), was sich z.B. auch in einem System wechselseitiger Verpflichtungen, wie wir es weiter oben beim Güter- und Dienstleistungstausch schon gesehen haben, von selbst versteht. Dabei wird unter Freunden und Verwandten nicht nachgerechnet, wer wem gerade etwas Gutes getan hat, während, je geringer die Vertrautheit zum anderen Schimpansen wird, auch um so genauer hingesehen wird, so daß keiner zu kurz kommt, – also irgendwie auch nicht anders als beim Menschen! (Vgl.de Waal 2011, S.226)

Alle Affen haben deshalb ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden (vgl.de Waal 2011, S.207, 210f., 222f., 225, 235, 240-242, 246, 248,f., 353f., 281 u.ö.), und Menschenaffen orientieren sich möglicherweise sogar an einer Gerechtigkeitsnorm, – der goldenen Regel. (Vgl.de Waal 2011, S.246, 248)

Schimpansen betreiben sogar Imagepflege, wie menschliche Politiker. De Waal beschreibt, wie Schimpansenmännchen bei der Suche nach Unterstützung für ihre Machtambitionen mit Schimpansenjungen spielen, sie groomen und kitzeln, um vor den sie beobachtenden Weibchen ihr Image zu pflegen und so im Bedarfsfall beim Kampf um eine Machtposition mit ihrer Unterstützung rechnen zu können. (Vgl.de Waal 2011, 230ff.)

Bei allen diesen gemeinsamen Merkmalen fragt man sich dann tatsächlich, was noch als prinzipielles Alleinstellungsmerkmal des Menschen übrigbleiben könnte. Sogar das Lachen scheinen Menschen und Schimpansen gemeinsam zu haben. De Waal beschreibt, wie er am geöffneten Fenster seines Büros sitzend dem Lachen seiner Schimpansen beim Spielen zuhört und sich nicht davon abhalten kann, mitzulachen. (Vgl.de Waal 2011, S.69) Was allerdings zunächst wie die Stürmung einer der letzten Bastionen einzigartiger Menschlichkeit anmutet, entpuppt sich dann doch als bloßes Spaßlachen, das Plessner sowieso nicht dem eigentlichen menschlichen Lachen zurechnete. Das eigentlich menschliche Lachen, das für die exzentrische Positionalität des Menschen steht, ist Plessner zufolge die Reaktion auf den Verlust von Haltung in einer Situation, die wir nicht mehr beherrschen.

So beschreibt de Waal z.B. das Imponiergehabe eines Alphaschimpansen, der mitten in seinem Auftritt stolpert und stürzt: „Während ich beim Anblick von Yerkes Sturz lauthals lachen musste, schien, soweit ich sehen konnte, keiner der anderen Schimpansen dem Geschehen irgendetwas Komisches abgewinnen zu können. ... Wären sie Menschen gewesen, hätten sie sich vor Lachen am Boden gewälzt oder, wenn die Furcht sie davon abgehalten hätte, sich gegenseitig gekniffen und wären vor unterdrücktem Lachen purpurfarben angelaufen.“ (de Waal 2011, S.208f.)

Vielleicht ist de Waals Lachen, zu dem die Schimpansen nicht in der Lage waren, sogar noch menschentypischer als das Weinen. Denn bei all der von de Waal beschriebenen Empathiefähigkeit, zu der auch die Trauer um den Verlust von Familienangehörigen und das von Freunden Getröstetwerden gehören (vgl.de Waal 2011, 122f., 127-130, 183ff., 187), ist das Weinen eher kein menschliches Monopol.

Alles in allem versteht de Waal also die menschliche Natur als Bestandteil der Säugetierevolution. (Vgl.de Waal 2011, S.24, 29, 33f., 36, 63, 66-69, 93f., 96f., 127ff., 164, 207f., 211, 269, 273, 283, 290) Dabei bezieht sich de Waal weniger auf das Gehirn. Vielmehr hebt er die körperlichen Funktionen von Schweißdrüsen hervor und verweist auf Haare und Brustwarzen. (Vgl.de Waal 2011, S.96) Auf für den Menschen spezifische Gehirnfunktionen verweist de Waal nur an einer Stelle, wo er die VEN-Zellen beschreibt, lange, spindelförmige Nervenzellen, die „weiter und tiefer in das Gehirn (hineinreichen), so dass sie ideal zur Verbindung weit auseinanderliegender Schichten sind. ... Diese Zellen sind besonders groß und zahlreich bei unserer eigenen Spezies und treten in einer Hirnregion auf, die für besonders ‚menschliche‘ Merkmale zuständig ist. Schädigungen dieser speziellen Region treten bei einer besonderen Demenzform auf, deren Kennzeichen Verlust von Perspektivenübernahme, Empathie, Humor und Zukunftsorientierung ist. Vor allem fehlt diesen Patienten die Selbstwahrnehmung.“ (Vgl.de Waal 2011, S.181f.)

Doch trotz dieses Verweises auf die Neurophysiologie spielt das Gehirn bei de Waal eine untergeordnete Rolle. Im Zentrum stehen die spezifischen physiologischen Prozesse des Säugerorganismusses und dazu passend das limbische System, also der älteste, am weitesten in die Evolution zurückreichende Teil des Gehirns. So sind es dann auch vor allem zwei Bilder, mit deren Hilfe de Waal die menschliche Natur beschreibt: das „krumme Holz“ (de Waal 2011, S.262), ein Bild, das er von Kant übernimmt, und die russische Puppe (vgl.de Waal 2011, S.269) als bildhafte Darstellung der verschiedenen Schichten, aus denen sich die menschliche Empathie, angefangen von der einfachen Gefühlsansteckung, die wir mit allen Säugern gemeinsam haben, zusammensetzt. Auf die russische Puppe werde ich in einem späteren Post noch gesondert eingehen.

Was das krumme Holz betrifft, so geht es in diesem Bild darum, daß bei aller gesellschaftlichen und kulturellen Vielfalt und Variabilität des Menschen seine eigentliche biologische Natur und damit seine Empathiefähigkeit nicht beliebig manipulierbar ist: „Die menschliche Natur lässt sich ebenso schlecht zurechtschnitzen und -zimmern wie das härteste Wurzelholz.“ (de Waal 2011, S.262) – Das hat seine positiven wie seine negativen Seiten. Positiv empfindet de Waal es, daß man dem Menschen die Empathie nicht austreiben kann. Als negativ empfindet er es, daß diese Empathiefähigkeit auf kleine Gemeinschaften begrenzt ist und nicht auf eine globale Gesellschaft und auf andere Völker ausgedehnt werden kann: „... wenn ich eines ändern könnte, würde ich die Grenzen des Zusammengehörigkeitsgefühls erweitern.“ (de Waal 2011, S.263)

An dieser Stelle kommt de Waal eindeutig an die Grenze seines biologischen Ansatzes. Ihm fehlt der Blick für die spezifischen Differenzen von Gemeinschaft und Gesellschaft, wie sie Ferdinand Tönnies und Helmuth Plessner beschrieben haben. Es geht dabei eben nicht nur um eine einfache Ausdehnung der Empathiefähigkeit, sondern um spezifische Schamgrenzen, die nicht überschritten werden dürfen; es geht um das fragile Wechselspiel von Identität und Maskierung, wie sie nur im Rahmen einer Kennzeichnung des Menschen als exzentrische Positionalität angemessen beschrieben werden können. Nur gelegentlich kommt de Waal dieser anthropologischen Struktur nahe, wenn er z.B. das Verhältnis von Egoismus und Selbsterfahrung beschreibt und von der Schwierigkeit spricht, Egoismus und Altruismus gegeneinander abzugrenzen. Aber darauf will ich im nächsten Post zu sprechen kommen.

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