„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 4. April 2011

Harald Welzer, Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird, Frankfurt a.M. 2008

1. Prolog: Welzer und Plessner im Vergleich
2. shifting baselines
3. Arbeitsteilung und Verantwortung
4. Totale Situationen und partikulare Rationalität
5. Zur Kontinuität gesellschaftlicher Entwicklung
6. Drei Handlungsalternativen ?

Welzer zählt drei Handlungsalternativen auf, „die Verhältnisse zum Besseren zu wenden“ (vgl.Welzer 2008, S.254ff.), die er aber zugleich alle als wenig effektiv bezeichnet.  Sogar die technischen Mittel, die uns im Rahmen dieser pessimistischen Bewertung zur Verfügung stehen, sind Welzer zufolge „Teil des Problems und nicht der Lösung“. (Vgl. Welzer 2008, S.261) Kommen wir also zum Schluß noch einmal auf diese drei Handlungsalternativen zu sprechen.

Als erste Handlungsalternative nennt Welzer die „Individualisierung des Problems und seiner Bewältigung“. Schon in der Formulierung dieser Handlungsalternative wird Welzers tiefe Skepsis ihr gegenüber deutlich. ‚Individualisierung‘ ist bei ihm ganz offensichtlich negativ konnotiert, wie dann auch gleich deutlich wird: „Es ist politisch unverantwortlich, den Eindruck zu erwecken, dass Probleme, die auf das ökonomische Prinzip des Wachstums durch Ressourcenvernutzung zurückgehen, durch individuelle Verhaltensmaßregeln zu lösen seien.“ (Welzer 2008, S.254)

Auch auf den folgenden Seiten läßt Welzer keinen Zweifel daran, daß diese Handlungsalternative für ihn gar keine ist: „Individualistische Strategien gegen den Klimawandel haben vor allem sedative Funktionen.“ (Welzer 2008, S.268) – Wie aber schon bei seiner schwankenden Bewertung kultureller Entwicklungsmöglichkeiten kann Welzer die hier vorgetragene eindeutig negative Bewertung individuellen Handelns nicht durchhalten. In seinem gemeinsam mit Claus Leggewie geschriebenen Buch „Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie“ (2009) finden wir wesentlich positivere Beschreibungen zum Potential individuellen Handelns.

Zunächst halten Leggewie/Welzer grundsätzlich fest, daß individuelles Handeln jederzeit die Freiheit der Wahl beinhaltet: „Ein einziges Mal eine andere Entscheidung zu treffen als normalerweise, kann das ganze Leben in eine andere Richtung laufen lassen.“ (Leggewie/Welzer, S.202) – Leggewie/Welzer führen auch Beispiele aus der Zeit der Judenverfolgung auf: „Es gibt Beispiele, in denen jemand zufällig in die Situation kam, helfen zu sollen, weil sie von einem potentiellen Opfer direkt angesprochen wurde oder weil, wie in einem der von uns untersuchten Fälle, der Vorgesetzte gewissermaßen anordnete, man müsse für kurze Zeit ein kleines jüdisches Mädchen verstecken. Der Entschluss, so etwas zu tun, wie immer fremdbestimmt er zustande gekommen sein mag, verändert die soziale Situation der helfenden Person augenblicklich: Denn ein solcher Entschluss bedeutet ja nicht allein irgendwo im Haus oder in der Wohnung Platz für einen oder mehrere Menschen zu finden, und zwar so, dass diese im Fall eine Durchsuchung wirklich unauffindbar bleiben können; er bedeutet auch, Lebensmittel zu beschaffen, was besonders dann schwierig ist, wen der Bezug über Marken reglementiert ist. Wenn die Versteckten Kinder sind, wird es häufig besonders gefährlich, weil man kleinen Kindern im Fall von Hausdurchsuchungen nur schwer klarmachen kann, dass sie nicht das geringste Geräusch von sich geben dürfen. Von dem Augenblick an, wo jemand hilft, verändert sich seine gesellschaftliche Position radikal ...“ (Leggewie/Welzer, S.203)

Nun kann Welzer sicherlich gegen meine Kritik einwenden, daß er sich mit seiner Bewertung in „Klimakriege“ vor allem gegen die Sinnlosigkeit individueller Reaktionen auf globale Katastrophen wie die Klimaveränderung wendet, während er in „Das Ende der Welt“ sich nur auf das individuelle Verhalten von Menschen während der Judenverfolgung bezieht. Aber diese individuellen Helfer hätten genauso wie wir alle angesichts der Klimaveränderung argumentieren können, daß es nämlich nichts bringt, einzelnen verfolgten Menschen zu helfen, wenn gleichzeitig Millionen industriemäßig vernichtet werden. Es ist im Grunde dieselbe Argumentation, wenn auch vor einem ganz anderen Hintergrund.

Außerdem stellt Welzer selbst auf den folgenden Seiten in seinem Buch „Klimakriege“ einige höchst individuelle Fragen, die sich nur mit individuellem Handeln beantworten lassen. Dabei geht es um die Fragen nach der Lebensqualität und nach der Gerechtigkeit: „... die Frage, was nun wie zu tun ist, lässt sich überhaupt nicht verfolgen, ohne dass zunächst beantwortet würde, wie man eigentlich leben will.“ (Welzer 2008, S.266) – und: „Wer anders als indifferent mit den Ungleichheits- und Gewaltproblemen umgehen wollte, die der Klimawandel vertieft, müsste Kategorien wie Gerechtigkeit oder Verantwortung bemühen – das heißt, vor dem Hintergrund von Wertentscheidungen argumentieren und die höchstgebildete Indifferenz durch normative Unterscheidungsfähigkeit ersetzen.“ (Welzer 2008, S.267)

Über Lebensqualität entscheiden Individuen, die ihr Leben führen und verantworten müssen, mit all den damit verbundenen Risiken bis hin zu Krankheit und Tod. Die Gesellschaft kann ihnen dabei zwar solidarisch zur Seite stehen, aber im Ertragen der Folgen ‚unserer‘ Entscheidungen – gleichgültig ob es nun wirklich unsere eigenen Entscheidungen sind oder die uns von anderen, z.B. ‚der‘ Gesellschaft aufgezwungenen – stehen wir allein da und müssen damit alleine fertig werden.

Und was die Gerechtigkeitsfrage betrifft, hat ja Welzer in seinem Buch keinen Zweifel daran aufkommen lassen, daß moralische Probleme sich nur auf individueller Ebene stellen, niemals aber auf kollektiver Ebene. Insofern ist es für mich überhaupt nicht nachvollziehbar, wenn Welzer der von ihm genannten ersten Handlungsalternative nur eine sedative Funktion zubilligt.

Als zweite Handlungsalternative nennt Welzer den Staat (vgl. Welzer 2008, S.255), nicht ohne auch diese sogleich abzuwerten: „Innovative Strategien einzelner kollektiver Akteure verändern die Verhältnisse in der Figuration, die Gesellschaften miteinander bilden, wenigstens graduell, und die Rolle des Vorreiters ist inspirativ. ... Gleichwohl sollte die systematische Begrenztheit solcher Strategien gesehen werden; zur ‚Klimawende‘ können nationale Lösungen nicht führen, weil ihr quantitativer Einfluss zu gering bleibt.“ (Welzer 2008, S.255f.) – Auch hier dominiert also wieder die deprimierende statistische Perspektive auf die begrenzte Reichweite staatlichen Handelns.

Aber im Vergleich zur internationalen Politik bevorzugt Welzer immerhin dann doch das einzelstaatliche Handeln: „Die Ebene der internationalen Politik lässt nur zeitferne Veränderungen zu. Daher bleibt als kulturelles Handlungsfeld die mittlere Ebene, die der eigenen Gesellschaft, und damit die demokratische Arbeit an der Frage, wie man in Zukunft leben will.“ (Welzer 2008, S.268) – Da bleibt nur hinzuzufügen, daß die „demokratische Arbeit“ am eigenen Lebensstil wiederum in erster Linie eine Frage individuellen Urteilens und Handelns ist.

Als dritte Handlungsalternative nennt Welzer wie zu erwarten die „zwischenstaatliche Ebene“: „Deshalb lautet auch hier der Befund, dass alles gut ist, was auf der internationalen Ebene dem Klimaschutz dient, aber es ist illusionär zu glauben, dass damit bis zum Jahr 2020 das für eine Abbremsung der Erwärmung nötige Niveau an Emissionsreduzierungen erreicht werden kann.“ (Welzer 2008, S.257) – Also auch hier wieder eine eher pessimistische Bewertung, wie insgesamt „Klimakriege“ mit einer sehr düsteren Aussicht auf das wahrscheinliche Scheitern der europäischen Aufklärung endet.

Ich möchte hierzu festhalten, daß ich sehr viel Sympathie für gleichzeitig realistische und radikale Analysen und Bewertungen des europäischen Fortschritts und der europäischen ‚Aufklärung‘ habe. Auch ich neige insgesamt zu einem aufgeklärten Nihilismus. Aber dabei bin ich mir dessen bewußt, daß dieser Nihilismus selbst wiederum ‚naiv‘ ist, weil kein Mensch hinter seine eigene Sinnbedürftigkeit zurück kann (und auch nicht über sie hinaus!), so daß wir noch in die absurdesten und destruktivsten Handlungszusammenhänge einen guten Sinn hineinlesen, um überhaupt den nächsten Schritt im Alltag tun zu können, zum Bäcker oder zur Zahnhygiene, wie unangemessen auch immer dieses Verhalten angesichts des absurden Ganzen erscheinen mag. Und genau deshalb halte ich an der Autonomie des eigenen Verstandesgebrauchs fest und auch daran, daß die Aufklärung niemals scheitern wird, solange es auf diesem Planeten noch Menschen gibt, die ihren eigenen Kopf haben.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen