„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 6. März 2011

Stanislas Dehaene, Lesen. Die größte Erfindung der Menschheit und was dabei in unseren Köpfen passiert, München 2010 (2009)

  1. Beschreibungssubjekt und Handlungssubjekt in der Gehirnforschung
  2. Zur Interdisziplinarität der Gehirnforschung
  3. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Bewußtsein und Verhalten
  4. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Konkurrenz versus Wechselseitigkeit
  5. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Gestaltwahrnehmung
  6. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Protobuchstaben
  7. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Schulunterricht
Bei der Lektüre von Dehaenes Forschungsergebnissen zur Umwandlung der Gegenstandswahrnehmung für die Wahrnehmung von Buchstaben und Wörtern ist mir aufgefallen, daß es auf visueller Ebene eine neurophysiologische Analogie zur phänomenalen Struktur der Gegenstandswahrnehmung gibt, die neben gewissen Ähnlichkeiten interessante Unterschiede zur Gestaltwahrnehmung aufweist. Das Problem, das mithilfe der neurophysiologischen Prozesse gelöst werden muß, um die Funktionalität der Gestaltwahrnehmung zu gewährleisten, besteht darin, daß die Retina als Ort, auf den die Lichtreize eintreffen, diese Lichtreize in viele verschiedene Einzelreize auflöst und so das Objekt „in viele tausend Teile zerlegt“ weiterleitet. (Vgl. Dehaene 2010, S.21, 144) Das Verfahren, in dem aus diesen Einzelteilen wieder ein zusammenhängender Gegenstand zusammengesetzt wird, ähnelt dem Zusammenfügen eines Mosaiks oder eines Puzzles. (Vgl. Dehaene 2010, S.147f.)

Ganz ähnlich wie wir beim Zusammensetzen eines Puzzles uns an den Konturen der Puzzleteile orientieren, sind auch die an der Gegenstandswahrnehmung beteiligten Neuronengruppen auf bestimmte Konturen spezialisiert, z.B. die drei Linien, die bei den Ecken eines Würfels an einem Punkt zusammenlaufen. Von der untersten Ebene einer Hierarchie von Neuronengruppen, die nur auf Striche reagieren, über die immer noch recht tiefe Ebene jener Neuronengruppen, die diese Striche zu komplexeren Konturen zusammenfügen bis hin zur Spitze der pyramidalen Hierarchie, wo ein einzelnes Neuron ausschließlich auf den Anblick der eigenen Großmutter oder auf das Gesicht von Jennifer Aniston reagiert (vgl. Dehaene 2010, S.146), wird dieses Puzzle immer konkreter, um schließlich unsere bewußte Aufmerksamkeit zu wecken.

Interessant ist hier vor allem die Flächigkeit der Gegenstandswahrnehmung. Es ist zwar irritierend, wenn Dehaene hin und wieder auf dieser Ebene von „topologischen und räumlichen Beziehungen“ der Merkmale wahrgenommener Gegenstände spricht (vgl. Dehaene 2010, S.154), aber wenn man genauer hinschaut, so scheint damit nicht die phänomenale Struktur der Gegenstände im Raum gemeint zu sein, sondern die ‚räumliche‘ Verteilung der wahrgenommenen Merkmale auf der Retina, was den flächigen Charakter dieser Wahrnehmungsebene nicht aufhebt. Dehaene hebt sogar eigens hervor, daß diese visuelle Ebene der Wahrnehmung das Erkennen des Gegenstands „von seiner Stellung im Raum“ unabhängig macht. (Vgl. Dehaene 2010, S.153) Allerdings braucht man sich hier nicht nur auf Vermutungen zu stützen, denn Dehaene konkretisiert den Befund der – offensichtlich auch vom stereoskopischen Sehen unbeeinflußten – Flächigkeit der Gegenstandswahrnehmung: „Unser Sehsystem scheint Formen in drei Dimensionen nicht zu kennen – es stützt sich allein auf die gesehenen zweidimensionalen Bilder und rechnet sie dann entsprechend um.“ (Dehaene 2010, S.320)

Die Gegenstände werden über unsere visuelle Wahrnehmung ausschließlich über das flächige, mosaikartige Zusammensetzen von Konturen identifiziert und erst nachträglich mit der dritten Dimension ausgestattet. Diese durch die neurophysiologische Funktionalität der Gegenstandswahrnehmung bestimmte zweidimensionale Ebene mit ihrer Bevorzugung von Konturen (Linien) findet sogar einen spezifisch ästhetischen Ausdruck in der Stilisierung. Dehaene führt dabei als Beispiel die Umwandlung der stilisierten Konturen eines Stierkopfs in den Buchstaben A an. (Vgl. Dehaene 2010, S.212) Mit der Stilisierung reduziert der Mensch seinen Wahrnehmungsgegenstand auf die wesentlichen Merkmale, was Dehaene zufolge eine „Form von ‚Autostimulation‘ für die Sehrinde“ ist. (Vgl. Dehaene 2010, S.203) Auch hier ist man wieder irritiert: was könnte Dehaene wohl mit „Autostimulation“ gemeint haben? Haben vielleicht die Höhlenmenschen von Lascaux beim Malen der Stiere und Pferde ihre linke untere Sehrinde im Hinterhauptschläfenbereich mit Elektroden stimuliert? Oder hat sich ihr Gehirn ‚selbst stimuliert‘, also lediglich nur simuliert, daß die Höhlenwände bemalt wurden? Dann gäbe es aber wohl kaum heute noch Höhlenbilder zu bewundern.

Natürlich verstehe ich Dehaenes Wortspiel bewußt falsch, – aber nur um zu zeigen, welche verfänglichen Konnotationen mit der leichtfertig verkürzenden Redeweise von einer Autostimulation einhergehen.

Die Gestaltwahrnehmung setzt sich also auf der Ebene ihrer neurophysiologischen Funktionalität als Mosaik zusammen. Das ist ein anderes Prinzip als die Verschachtelung innerer und äußerer Horizonte auf der Ebene der Phänomene. Dem neurophysiologischen Mosaik fehlt die Räumlichkeit und mit ihr die Dimension der Nicht-Sichtbarkeit der Rückseiten eines Phänomens. Rotierende Objekte können nicht als dasselbe erkannt werden, weil sie der Retina zu viele verschiedene ‚Seiten‘ zuwenden und andere verbergen. (Vgl. Dehaene 2010, S.320f.) Dieses Rotieren von ‚Seiten‘, dieses Ineinander und Auseinander verschachtelter Horizonte führt über die Anatomie des Gehirns hinaus und vervollständigt diese zur Anatomie des menschlichen Körpers. Denn erst an der Grenze zur eigenen Körperlichkeit entsteht eine Mitte und eine Peripherie, eine Differenz von Innen und Außen, kurz: räumliche Wahrnehmung.

Dehaene zufolge gibt es nun ein zweites, von der Gegenstandswahrnehmung unabhängiges Sehsystem (vgl. Dehaene 2010, S.328f.), und dieses Sehsystem scheint funktional zur Anatomie des Körpers und seiner Bewegung zu sein, also zur Ebene des Verhaltens: „Es gibt indessen noch einen anderen Weg der Verarbeitung visueller Informationen: Es ist der Weg über die Scheitelregion des Hinterhauptes, der sich mit der Programmierung des Handelns befasst. Es kommt allein auf seine (des Gegenstands – DZ) Entfernung, seine Position, seine Geschwindigkeit und die Ausrichtung seiner Umrisse an – all jene Parameter, die festlegen, wie wir hinsichtlich eines Gegenstandes handeln könnten.“ (Dehaene 2010, S.329)

Dieses zweite Sehsystem ermöglicht es uns, uns „rein virtuelle Gesten oder Bewegungen vorzustellen. Über diesen Weg können wir die Objekte im Geist drehen.“ (Vgl. Dehaene 2010, S.329) Das erinnert nicht von ungefähr an Husserls eidetische Variationen, dem Grundprinzip der phänomenalen Analyse. Erst mit der Möglichkeit der Rotation beginnt das eigentliche Sehen, und es ist nicht von ungefähr, daß zu diesem zweiten Sehsystem, das für Rotation empfänglich ist, auch Regionen des Gehirns gehören, die sich „für die Bewegungen der Hand, andere für die der Augen“ interessieren. (Vgl. Dehaene 2010, S.331) Das zweite Sehsystem vervollständigt also, wie ich weiter oben schon anmerkte, die Wahrnehmung mit der Einbeziehung des Körperschemas, jenem Aspekt der menschlichen Körperlichkeit, den Plessner als ‚Leib‘ bezeichnet.

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