„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 9. März 2011

Stanislas Dehaene, Lesen. Die größte Erfindung der Menschheit und was dabei in unseren Köpfen passiert, München 2010 (2009)

  1. Beschreibungssubjekt und Handlungssubjekt in der Gehirnforschung
  2. Zur Interdisziplinarität der Gehirnforschung
  3. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Bewußtsein und Verhalten
  4. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Konkurrenz versus Wechselseitigkeit
  5. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Gestaltwahrnehmung
  6. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Protobuchstaben
  7. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Schulunterricht
Das gewichtigste Argument für die Bedeutung, die die individuelle Lernfähigkeit und das kulturelle Umfeld als prägende Faktoren für die neurophysiologische Funktionalität des Gehirns haben, ist sicher der Schulunterricht. Und es ist wiederum Dehaene selbst, der das entscheidende Argument in der Verknüpfung des Lesenlernens mit der Plastizität des Gehirns liefert: „Durch die Alphabetisierung werden also die beim Hören von Sprache aktivierten Regionen verändert, aber auch die Hirnanatomie wandelt sich: Der Balken verdickt sich im hinteren Abschnitt, der die Scheitelregionen beider Hirnhälften miteinander verbindet.() Manche dieser Hirnveränderungen sind sicher für eine der wichtigsten Auswirkungen des Schulunterrichts verantwortlich: die vergrößerte Spanne des Gedächtnisses speziell für neue oder wenig vertraute Wörter.“ (Dehaene 2010, S.238) – Und weiter: „... der Erwerb des Lesens verbessert das Gedächtnis. Wenn Kinder das Lesen lernen, kommen sie buchstäblich verwandelt aus der Schule – ihr Gehirn ist nicht mehr dasselbe.“ (Dehaene 2010, S.239)

Hier haben wir alle Ebenen der menschlichen Entwicklung angesprochen, von der biologischen (Neurophysiologie) über die kulturelle (Schriftgebrauch) bis hin zur individuellen (Schulbildung). Das Thema, um das es hier geht, der Schulunterricht, ist ein weiterer Beleg dafür, wie sehr – abgesehen von der individuellen Lernfähigkeit – kulturelle Übung die Funktionalität unseres Gehirns beeinflußt und verändert: „Die tief reichenden Auswirkungen der bewussten Wahrnehmung von Phonemen unterstreichen, wie sehr der Erwerb des Alphabets die Art beeinflusst, in der wir das gesprochene Wort verarbeiten. Mit dem alphabetischen Lesen gewinnen wir eine verbale Gewandtheit, die den Analphabeten unbekannt ist.“ (Dehaene 2010, S.229) – Und weiter: „Es besteht kaum ein Zweifel, dass die Stunden, die man damit zubringt, winzige Unterschiede zwischen den Buchstaben zu erkennen, auch die analytischen Fähigkeiten unserer Sehrinde zunehmen lassen.“ (Dehaene 2010, S.241)

Die Frage, ob nun die begrenzte Plastizität des Gehirns oder das kulturelle Umfeld den größere Einfluß auf das Lesenlernen ausübt, ist ähnlich müßig, wie die uralte Frage nach dem Einfluß der Gene. Dehaenes Hinweise auf den Nutzen von Methoden, die die verschiedenen Analyseebenen von „Graphemen, Silben, Vorsilben, Nachsilben und Wortstämmen“ berücksichtigen (vgl. Dehaene 2010, S.21) und auf den beiden den „Gehirnnetzwerken für Laut und Bedeutung“ entsprechenden „Wegen des Lesens“ (S.118) aufbauen, nämlich dem Erwerb phonologischer und lexikalischer Kompetenzen, liefern sicher neue Argumente gegen die Ganzwortmethode, die den Leseanfängern aus falsch verstandener Fürsorge die Mühen alphabetischen Zergliederns und Zusammensetzen ersparen will (vgl. Dehaene 2010, S.253ff.) und sie damit zugleich der „Freiheit des Lesens“ und des „Zugang(s) zu neuen Wörtern“ beraubt (vgl. Dehaene 2010, S.258).

Aber daß es Methoden des Lesenlernens gibt, die der neurophysiologischen Funktionalität mehr entsprechen als andere, heißt eben nicht, daß die begrenzte Plastizität des Gehirns zugleich die individuelle und kulturelle Lernfähigkeit begrenzt. Welchen Nutzen wir aus einem ‚Organ‘ (und ‚Organ‘ heißt so viel wie ‚Werkzeug‘!) wie dem Gehirn ziehen, hängt nicht von diesem Organ ab, so wenig wie es von der Ausstattung meines Werkzeugkastens abhängt, ob ich einen Nagel in die Wand schlage oder nicht, sondern allein von meinem Willen.

Wenn also zwar der Nutzen, den wir für das Lesenlernen aus Dehaenes neurophysiologischen Forschungsergebnissen ziehen können, unbestreitbar ist, so müssen wir uns doch davor hüten, den Sinn und Zweck des Schulunterrichts davon abhängig zu machen. Dehaene selbst hat – wie eingangs zitiert – eine wunderbar einfache Formel für diesen Zweck gefunden: die Verwandlung der neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns in Richtung auf ein besseres Gedächtnis und auf eine größere Wortgewandtheit. Das gilt nun insbesondere für das Lesenlernen, aber das kann nur einen Teil des Kerncurriculums für den Grundschulunterricht bestimmen. Was sollen die Kinder und später die Jugendlichen über den Grundschulunterricht hinaus lernen?

Hier könnte nun Dehaenes Kernthese, daß verschiedene kulturelle Fähigkeiten miteinander um die begrenzte Plastizität des Gehirns konkurrieren (vgl. Dehaene 2010, S.195f., 241f., 245, 247), zu der bedenklichen Schlußfolgerung führen, daß man das Kerncurriculum, das seit Humboldts Zeiten am Prinzip der Vielseitigkeit orientiert ist, stattdessen auf produktive Einseitigkeit ausrichten müsse und daß wir in Deutschland noch mehr selektieren müssen, als es ohnehin schon geschieht. Zumindestens dürften sich die Befürworter einer frühen Trennung der ‚Begabungen‘ nach Schulformen durch solche Thesen bestärkt fühlen.

Solche Fragen eines Kerncurriculums dürfen keinesfalls durch die Gehirnforschung beantwortet werden. Hier geht es nicht mehr um die Frage, welche Methode ‚effizienter‘ ist, sondern darum, was überhaupt sinnvoll ist, also um Bildungsziele. Wilhelm v. Humboldts Problem war nicht, wie man den Schulunterricht an die Tatsache, daß das Handeln des Menschen begrenzt ist, anpassen könne, sondern wie man ihn gestalten muß, um diese Begrenzung zu überwinden. Daß jedes Handeln des Menschen ihn vereinseitigt, war für Humboldt eine unbestreitbare Tatsache. Dafür nannte Humboldt zwei Gründe: (a) die begrenzte Aufmerksamkeit des Menschen – er kann sich mit voller Aufmerksamkeit immer nur einem Gegenstand zuwenden und muß diese Aufmerksamkeit deshalb von allen anderen Gegenständen abwenden – und (b) die begrenzte Lebenszeit des Menschen – um so viele Interessen wie möglich zu entwickeln und zu verwirklichen und damit größtmögliche Vielseitigkeit anzustreben, steht dem Menschen nur eine begrenzte Lebenszeit zu Verfügung.

Das Mittel, die eigene begrenzte Lebenszeit zu transzendieren, lag für Humboldt im geselligen Umgang mit anderen Menschen, die jeweils eigene, je individuelle Modelle des Menschseins verwirklichen, also verschiedene Formen von Vielseitigkeit, und die uns so eine Vorstellung davon geben, was ein Mensch sein kann, jenseits dessen, was wir für uns selbst als sinnvoll und als wertvoll erachten. Den Menschen zu dieser Selbstbildung und zu diesem geselligen Umgang zu befähigen, dafür nahm Humboldt den Schulunterricht in Anspruch. Und dieser Schulunterricht war nicht nach Begabungsformen aufgeteilt auf verschiedene Schulformen. Humboldt hielt es nicht für sinnvoll, den künftigen Tischler nur tischlern lernen zu lassen und den künftigen Philologen nur antike Sprachen lernen zu lassen, abgesehen davon, daß er auch nicht glaubte, daß beim Menschen in jungen Jahren schon irgendeine künftige Bestimmung sichtbar werden könne.

Dehaenes Forschungsprogramm, eine entsprechenden Differenzierung der Plastizität des Gehirns nachzuweisen, ist auf das Ganze des menschlichen Verhaltens, seiner individuellen und kulturellen Lernfähigkeit gesehen, weniger plausibel als das Humboldtsche Konzept von der begrenzten Aufmerksamkeit und der begrenzten Lebenszeit. Wenn also geübte Spurenleser keine guten Textleser und geübte Textleser keine guten Spurenleser sind, so liegt allemal die Vermutung näher, daß sie nicht die Zeit und nicht die Gelegenheit hatten, beide Fähigkeiten gleich gut auszubilden, was dann wiederum mehr am kulturellen Umfeld und nicht zuletzt dem Schulunterricht liegt als an der begrenzten Plastizität des Gehirns. Und angesichts der Wechselseitigkeit neurophysiologischer Funktionen scheint es mir überhaupt eher so zu sein, daß verschiedene kulturelle Fähigkeiten sich wechselseitig unterstützen als miteinander zu konkurrieren. Wenn es jedenfalls um die Frage geht, welche Menschen im Alter geistig die höhere Beweglichkeit und Gesundheit an den Tag legen, so sind die einseitig Gebildeten immer im Nachteil.

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