„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 6. März 2011

Stanislas Dehaene, Lesen. Die größte Erfindung der Menschheit und was dabei in unseren Köpfen passiert, München 2010 (2009)

  1. Beschreibungssubjekt und Handlungssubjekt in der Gehirnforschung
  2. Zur Interdisziplinarität der Gehirnforschung
  3. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Bewußtsein und Verhalten
  4. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Konkurrenz versus Wechselseitigkeit
  5. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Gestaltwahrnehmung
  6. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Protobuchstaben
  7. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Schulunterricht

In diesem Post möchte ich noch einmal detailliert auf Dehaenes These eingehen, daß sich die begrenzte Plastizität des Gehirns auch begrenzend auf die individuelle Lernfähigkeit und auf den kulturellen Spielraum des Menschen auswirkt. (Vgl. Dehaene 2010, S.16, 164f., 197u.ö.) An mehreren Stellen äußert Dehaene den Verdacht, daß mit dem Lesenlernen ein Verlust an anderen Fähigkeiten einhergeht, weil diese neue kulturelle Fähigkeit Schaltkreise besetzt, die bis dahin für andere Funktionen vorgesehen gewesen waren: „Hat der Wettbewerb zwischen dieser neuen kulturellen Funktion und den älteren aus der Evolution geerbten Funktionen innerhalb unseres Gehirns vielleicht dazu geführt, dass wegen der zunehmenden Alphabetisierung unserer Kultur manche Kompetenzen verloren gingen – etwa das visuelle Erkennen gewisser Kategorien von Gegenständen?“ (Dehaene 2010, S.195f., 247 u.ö.)

Abgesehen davon, daß die betreffenden Schaltkreise im linken hinteren Schläfenbereich generell für die Wahrnehmung von Gegenständen spezialisiert sind und beim Lesenlernen eine Umwidmung und Spezialisierung auf das Erkennen von Buchstaben und Wörtern erfolgt, wird Dehaene aber nur an einer Stelle konkreter, was für ein Verlust das sein könnte. Denn daß das Erkennen von Gegenständen durch die neue Fähigkeit, Buchstaben und Wörter zu erkennen, beeinträchtigt würde, kann man ja nicht wirklich behaupten. Dehaene schlägt als Kandidaten für einen solchen Verlust im Wettbewerb um die evolutionsbedingt begrenzte Menge an zur Verfügung stehenden Schaltkreisen das Spurenlesen vor: „Alle Anthropologen, die einige Zeit bei Sammlern und Jägern in Amazonien, Neuguinea oder im afrikanischen Busch verbracht haben, kehren mit einem Gefühl der Unterlegenheit zurück. Ihre Gastgeber, sagen sie, würden es so gut verstehen, die natürliche Welt zu lesen. Besonders virtuos beherrschen sie es, Tierspuren zu deuten.“ (Dehaene 2010, S.241)

Die neue kulturelle Fähigkeit, Texte zu lesen, soll also mit der älteren kulturellen Fähigkeit, die Natur zu lesen, in Konkurrenz treten und diese schließlich aus den Schaltkreisen verdrängen, die sie bisher genutzt hatte. Um diese These empirisch zu belegen, müßte Dehaene nicht nur die Gehirnfunktionen von spurenlesenden Analphabeten mit im Textelesen gleich gut geübten Alphabeten vergleichen, sondern darüberhinaus ‚Spurenleser‘ und ‚Textleser‘ in der jeweils konkurrierenden Fähigkeit unterrichten, um die Möglichkeiten des gleichzeitigen Lesens von Spuren und Texten zu eruieren. Damit diese Vergleichsstudie aber auch wirklich aussagekräftig wäre, dürfte das keinesfalls in einer Laborstudie stattfinden, sondern es müßte sich um eine Feldstudie handeln. Dafür müßte es aber für die Spurenleser ein gleichwertiges kulturelles Umfeld für das Textelesen geben, und für die Textleser müßte es ein gleichwertiges kulturelles Umfeld für das Spurenlesen geben. Es müßte also eine Kultur geben, in der Spuren lesen und Texte lesen als gleichermaßen wertvoll erachtet wird, um wirklich beurteilen zu können, ob und inwiefern Spuren lesen und Texte lesen um ein begrenztes Repertoire an neurophysiologischer Funktionalität konkurrieren!

Aber erstens gibt es eine solche Kultur nicht, so daß solche Experimente nicht durchführbar sind. Noch kann man zweitens das Fehlen so einer Kultur als Beleg für die These werten, daß die begrenzte Plastizität des Gehirns auch den zur Verfügung stehenden kulturellen Spielraum begrenzt. Man kann lediglich daraus schließen, daß Kulturen, die das Textlesen präferieren, nur ein geringes Interesse am Spurenlesen haben, und daß Kulturen, die das Spurenlesen präferieren, nur ein geringes Interesse am oder auch nur kaum Gelegenheiten zum Texte lesen haben. Wenn also ein kulturelles Interesse an einer gleichzeitigen Nutzung dieser Fähigkeiten bestünde, so spricht erstmal nichts dagegen, daß sich Spuren lesen und Texte lesen wechselseitig genauso ergänzen könnten, wie Geige spielen, sticken und Maschine schreiben. (Vgl. Dehaene 2010, S.241)

Im folgenden argumentiert Dehaene dann auch nicht so sehr im Sinne einer Konkurrenz zwischen Spuren lesen und Wörter lesen, sondern mehr in Richtung auf eine Vorläuferfunktion des Spurenlesens für das spätere Textlesen, was etwas völlig anderes ist. Dann hätte das Spurenlesen die Fähigkeit, Wörter zu lesen, lediglich angebahnt (vgl. Dehaene 2010, S.242), ohne damit zwangsläufig in Konkurrenz zu stehen (vgl. Dehaene 2010 S.243). Am Ende bleibt also nicht viel übrig von Dehaenes These einer Konkurrenz kultureller Fähigkeiten um eine begrenzte Menge zur Verfügung stehender funktionaler Schaltkreise.

Hinzu kommen eine Vielzahl von Gegenargumenten und Gegenbeispielen, die Dehaene selber aufführt und die viel eher von einer wechselseitigen Unterstützung unterschiedlicher kultureller Fähigkeiten sprechen als für einen Verdrängungswettbewerb. So hält Dehaene erstens fest, daß der „Umfang unserer Lernprozesse“ keineswegs „absolut“ festgelegt ist: „Die beträchtliche Zunahme der Synapsen wie auch der Verzweigungen von Axonen und Dendriten am Anfang der Entwicklung bietet einen Spielraum des Lernens, dessen Umrisse wir nicht kennen.“ (Dehaene 2010, S.240) – Zweitens scheinen die „‚assoziativen‘ Neuronen der Großhirnrinde im präfontalen Bereich sowie in der Scheitel- und Schläfenregion ... zu mehreren manchmal sehr unterschiedlichen Gruppierungen zu gehören.“ (Ebenda) Die Spezialisierung bestimmter Neuronen und Schaltkreise wird also durch die Fähigkeit anderer Neuronen, zwischen verschiedenen Schaltkreisen zu vermitteln, ergänzt.

Drittens „kann Lernen die Präzision des neuronalen Kodes schärfen – dieser geht von einer redundanten Kodierung, bei der die meisten Neuronen die gleichen groben Unterscheidungen treffen, zu einer differenzierten Repräsentation der Umgebung über, bei der jedes Neuron präzise auf einen je eigenen Satz von Reizen reagiert. ... Mit dem Lernprozess wächst auf der kortikalen Karte die Fläche der linken Hand (z.B. bei Pianisten und Geigern – DZ). Die stimulierte Karte kann dann auch auf benachbarte Gebiete der Hirnrinde übergreifen, die normalerweise der Repräsentation von Arm und Gesicht gewidmet sind. “ (Dehaene 2010, S.240f.) Hier ist nicht etwa von Konkurrenz die Rede, sondern eher von einer zusätzlichen Stimulierung „benachbarter Gebiete“, die durchaus einen positiven Einfluß auf die Gesamtaktivität dieser Bereiche haben kann: „Verändert diese Besetzung die Genauigkeit, mit der wir diese anderen Körperregionen wahrnehmen? Das ist möglich, aber man kann sich ebenso vorstellen, dass es zu einer positiven Übertragung kommt: Was die Neuronen für die Funktion A (Geige spielen – DZ) gelernt haben, könnte sich schließlich als nützlich für die Funktion B (Sticken oder Maschine schreiben – DZ) erweisen.“ (Dehaene 21010, S.241)

Ein weiterer Beleg, daß das Lesenlernen nicht einfach nur eine isolierte, potentiell mit anderen im Verdrängungswettbewerb stehende kulturelle Fähigkeit ist, sondern daß mit ihr ein ganzer Komplex weiterer geistiger Kompetenzen einhergeht, besteht darin, „dass die Stunden, die man damit zubringt, winzige Unterschiede zwischen den Buchstaben zu erkennen, auch die analytischen Fähigkeiten unserer Sehrinde zunehmen lassen. Beim Vergleich mit Analphabeten zeigt sich in der Tat, dass die Wahrnehmung geometrischer Formen mit dem Leseerwerb besser wird.()“ (Dehaene 2010, S.241)

Letztlich kommt Dehaene nicht darum herum – auch wenn diese Schlußfolgerung bei ihm nicht explizit wird –, seiner eigenen „sehr spekulativen“ These (vgl. Dehaene 2010, S.240) selbst den Todesstoß zu versetzen: „Das Gehirn ist ein plastisches und ständig im Umbau befindliches Organ, in dem Erfahrungen ebenso viel festlegen wie Gene ... das Gehirn des Kindes umfasst Millionen redundanter Schaltkreise, die einander wechselseitig kompensieren können. ... Jeder neue Lernvorgang modifiziert die Expression unserer Gene und verwandelt unsere neuronalen Schaltkreise.“ (S.291f.) – Da bleibt dann nicht mehr viel übrig von der angeblich durch die neurophysiologische Funktionalität bedingten kulturellen Begrenztheit unserer „Erfindungsfähigkeit“ (vgl. Dehaene 2010, S.352).

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