„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 5. März 2011

Stanislas Dehaene, Lesen. Die größte Erfindung der Menschheit und was dabei in unseren Köpfen passiert, München 2010 (2009)

  1. Beschreibungssubjekt und Handlungssubjekt in der Gehirnforschung
  2. Zur Interdisziplinarität der Gehirnforschung
  3. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Bewußtsein und Verhalten
  4. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Konkurrenz versus Wechselseitigkeit
  5. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Gestaltwahrnehmung
  6. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Protobuchstaben
  7. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Schulunterricht
Trotz meiner Kritik an der verkürzten Darstellung des Verhältnisses phylogenetischer (biologischer und kultureller) und ontogenetischer (individueller) Bedingungszusammenhänge möchte ich doch Dehaenes Interesse an einer umfassenderen, auch andere Fachgebiete in ihrer Eigenständigkeit mit einbeziehenden Perspektive anerkennen. Es ist äußerst selten, daß ein Gehirnforscher die Fachkompetenz der Pädagogen hervorhebt und ihr gegenüber die eigene Fachkompetenz begrenzt: „Im Klassenzimmer ist allein der Lehrer die maßgebliche Person.“ (Dehaene 2010, S.379) – Allerdings beinhaltet der Tonfall, in dem Dehaene den eigenen neurophysiologischen Beitrag zur Pädagogik umschreibt, eine kokette, den geäußerten Respekt unglaubwürdig machende Nuance: „Meine Botschaft ist bescheidener: Ein wenig Wissenschaft kann nicht schaden ...“ (Dehaene 2010, S.379) – Hier ist man als kurz zuvor so gelobter Pädagoge doch etwas irritiert, denn daraus kann man eigentlich nur schließen, daß die Pädagogik gar keine richtige Wissenschaft ist.

Das ist natürlich keine gute Grundlage für eine echte Interdisziplinarität, in der sich die in Frage kommenden Disziplinen auf Augenhöhe gegenübertreten. Und darauf will Dehaene ja seinen eigenen Worten zufolge hinaus, denn er schlägt, um die „Forschung“ zu „bündeln“ und „um die Wissenschaft des Lesens auszuweiten“, so etwas wie eine Triangulation aus „Pädagogik, Psychologie und Neurowissenschaften“ vor. (Vgl. Dehaene 2010, S.379) Das erinnert an Damasios Triangulation aus „Geist, Verhalten und Gehirn“ (vgl. Antonio R. Damasio, Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, Berlin 8/2009, S.25)), eine Triangulation, die zur Ermittlung des Bewußtseins nicht nur einzelne Fachdisziplinen, sondern das ganze System der Wissenschaft miteinbezieht, wenn man sich klarmacht, daß unter ‚Geist‘ die subjektive Perspektive der ersten Person, unter ‚Verhalten‘ alle Lebensäußerungen des Menschen und unter ‚Gehirn‘ die spezifisch neurophysiologische Perspektive zu verstehen ist.

Bei Damasio haben wir es also mit einer wirklichen Interdisziplinarität zu tun, – nicht mit einer nur eingeschränkten Perspektive unter der Dominanz der Gehirnforschung. In die gleiche Richtung zielt Dehaenes etwas schwammige Formulierung von einer „vereinheitlichte(n) und kumulative(n) Wissenschaft, in der die Freiheit des Lehrers nicht verneint, sondern auf die pragmatische Suche nach einem besser strukturierten und effizienteren Unterricht gelenkt wird.“ (Vgl. Dehaene 2010, S.380)

Aber auch in dieser Formulierung schleichen sich wieder einige unklare, der weiteren Präzision bedürftige Begriffe ein: offen bleibt, was unter ‚pragmatisch‘ und unter ‚effizient‘ zu verstehen ist. In den folgenden Posts werden wir noch sehen, daß Dehaene dazu neigt, die begrenzte Plastizität des Gehirns dahingehend auszulegen, daß im Rahmen der neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns die verschiedenen kulturellen Fähigkeiten des Menschen miteinander um die vorhandenen, biologisch evolvierten Schaltkreise konkurrieren. Daraus könnte man dann die pädagogische Schlußfolgerung ziehen, daß der klassische, von Humboldt stammende Grundsatz, daß der Mensch eine größtmögliche Vielseitigkeit der Bildung anstreben solle, nicht besonders ‚pragmatisch‘ sei und deshalb nicht ‚effizient‘ umgesetzt werden könne. An dessen Stelle müßte dann so etwas wie eine ‚produktive Einseitigkeit‘ treten, was das ganze Kerncurriculum in Frage stellen würde.

Wir haben also bei Dehaene, trotz aller anerkennenswerten, vergleichsweisen ‚Bescheidenheit‘, ein weiteres Beispiel für die verbale Sorglosigkeit, mit der viele Gehirnforscher mit Begrifflichkeiten umgehen, die allererst einer sorgfältigen pädagogischen Analyse und Kritik bedürfen, bevor sie auf erzieherische Institutionen wie den Schulunterricht angewandt werden dürfen.

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