„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 30. März 2011

Harald Welzer, Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird, Frankfurt a.M. 2008

1. Prolog: Welzer und Plessner im Vergleich
2. shifting baselines
3. Arbeitsteilung und Verantwortung
4. Totale Situationen und partikulare Rationalität
5. Zur Kontinuität gesellschaftlicher Entwicklung
6. Drei Handlungsalternativen

Plessner verortet Geschichte auf zwei verschiedenen, zu einander völlig disparaten Ebenen. Zum einen haben wir die Ebene, auf der wir eine objektive Perspektive auf die menschliche Geschichte einzunehmen versuchen. Das ist die Geschichte der ‚objektiven‘ Daten und Jahreszahlen. Diese in Geschichtsbüchern zusammengefaßte und aufbereitete Geschichte (vgl. Einheit der Sinne, S.144f.) bietet aber letztlich nur einen winzigen, und dazu noch völlig willkürlich zusammengestellten Bruchteil der tatsächlichen Geschichte, in derem nach Epochen gegliederten Rhythmus wir uns mit unserem eigenen Lebenslauf einordnen: „Wir neigen dazu, unsere eigene Lebenserinnerung zum Bruchteil aller jemals möglich gewesenen Lebenserinnerungen von Menschen zu machen und einen fast substantiellen Strom der Vergangenheit zu substituieren.“ (Einheit der Sinne, S.148)

Dieser verbreiteten Vorstellung von Geschichte hält Plessner entgegen, daß wir es hier mit einer „Konstruktion“ von Geschichte „aus den Überresten, durch Einfügungen von Motivationsketten in freier Sinngebung des überlieferten Stoffs“ zu tun haben, also mit Geschichte nach dem Montageprinzip, wie es Welzer in „Das kommunikative Gedächtnis“ (2005/2002) beschreibt: „Geschichte hat also überhaupt keine vorgegebene Grundlage in einem intuitiv einheitlichen Ganzen. Also fehlt die letzte Kontrollmöglichkeit der historischen Reihenbildung (durch Motivationszusammenhänge) an zusammenhängenden Erscheinungen in einer Anschauung.“ (Einheit der Sinne, S.147)

Das ist im Grunde der Todesstoß für jede objektive Geschichtswissenschaft: wenn ihr keine „Anschauung“ zugrundeliegt, heißt das letztlich, daß sie keine „Gegenstände“ hat, denn Gegenstände sind immer „Phänomene“ und müssen als solche einer „Anschauung“ gegeben sein, um mehr zu sein als nur subjektive Einbildung. Allerdings bezieht Plessner hier die Geschichtswissenschaft vor allem auf die antreffende Anschauung mit ihren Möglichkeiten schematischer Darstellung, wie sie vor allem in den Naturwissenschaften gebräuchlich ist. (Vgl. Einheit der Sinne, S.154f.)

Es gibt aber noch zwei andere Ebenen der Anschauung, und hier eröffnet vor allem die innewerdende Anschauung eine völlig andere Perspektive auf die Geschichte. (Vgl. Einheit der Sinne, S.99f.u.ö.) Der ‚Gegenstand‘ der innewerdenden Anschauung sind die Gefühle und Empfindungen, und diese sind Plessner zufolge einer „syntagmatischen Gliederung“ zugänglich. (Vgl. Einheit der Sinne, S.154f., 170f.)

Was das bedeuten könnte, wird in den „Stufen des Organischen“ deutlich. Dort nämlich verknüpft Plessner die Geschichte mit der exzentrischen Positionalität des Menschen: der Mensch ist ein geschichtliches Wesen, weil er exzentrisch positioniert ist, d.h. weil er in seiner ‚Mitte‘ nur auf vermittelte Weise sein kann. Und die vermittelte Weise, in der er in seiner Mitte sein kann, ist die Geschichte, die „nur die ausgeführte Weise (ist), in der er über sich nachsinnt und von sich weiß.“ (Vgl. Stufen, S.31) In seiner Geschichte ‚drückt‘ sich der Mensch ‚aus‘, sie gehört zur expressiven Struktur seines Handelns: „Durch seine Expressivität ist er also ein Wesen, das selbst bei kontinuierlich sich erhaltender Intention nach immer anderer Verwirklichung drängt und so eine Geschichte hinter sich zurückläßt.“ (Stufen, S.338)

Wir haben also auf dieser Ebene einer Geschichtswissenschaft – mit „syntagmatischer Gliederung“ und „Expressivität“ – eine Geschichte, in der das Material der Anschauung der Mensch selbst ist, – und zwar, das scheint mir deutlich genug zu sein, in Form von ‚Erzählungen‘ gemäß dem Prinzip der Narrativität. Denn die syntagmatische Gliederung scheint mir bei Plessner genau für diese Möglichkeit zu stehen, daß nämlich das seelische Material vor allem in ‚Geschichten‘ seinen ‚Ausdruck‘ findet, so daß also ‚Geschichte‘ vor allem die erzählte Geschichte meint.

Alles das finden wir auch in Welzers „Das kommunikative Gedächtnis“. Und gerade das Montageprinzip, nach dem bei Welzer die Erinnerungssubjekte sich den jeweiligen Sinnzusammenhang mehr recht als schlecht zusammenbasteln, paßt wiederum sehr gut zu Plessners Form-Inhalt-Bestimmung der menschlichen Expressivität: daß wir nämlich in der Form des jeweils gefundenen Ausdrucks den ursprünglichen Inhalt, sowohl das, was wir selbst meinen und wollen, als auch das, was wir verstehen wollen (nämlich das, was unsere Mitmenschen meinen und wollen), notwendigerweise verfehlen. (Vgl. Stufen, S.336ff.)

Die logische Schlußfolgerung ist also, daß die Geschichte des Menschen weder einen substantiellen noch einen kontinuierlichen Entwicklungsprozeß darstellt. Es gibt keine Richtung, auf die hin Geschichte ‚stattfindet‘, und es gibt keine kulturellen ‚Ungleichzeitigkeiten‘, daß etwa manche Kulturen weniger entwickelt wären als andere: „Offensichtlich ist die Annahme falsch, dass unterschiedliche Entwicklungsverläufe von Gesellschaften lediglich unterschiedliche Entwicklungsstände in Modernisierungsprozessen widerspiegeln. Es könnte sein, dass Gesellschaftsentwicklungen ganz unterschiedlichen Pfaden folgen können, die sich klassischen Vorstellungen von Vor- und Rückentwicklungen gar nicht fügen – dass hier etwas anderes entsteht, als westliche Theorien der Gesellschaft zu denken erlauben.“ (Welzer 2008, S.106f.)

Ganz ähnlich wie Plessner hinsichtlich der scheinbaren Objektivität von Geschichte hält Welzer „Kausalität“ nicht für „eine Kategorie sozialen Handelns“. (Vgl. Welzer 2008, S.124f.) – Welzers Schlußfolgerung aus der fehlenden Kausalität sozialen Handelns für die Geschichte klingt zunächst wertneutral: „Das bedeutet aber zugleich, dass eine Geschichte nie alternativlos so verlaufen musste, wie sie tatsächlich verlaufen ist. Dass die ‚Endlösung der Judenfrage‘ in einer Radikalität ausbuchstabiert wurde, die schließlich in Menschenvernichtungsanlagen endete, war keine historische Zwangsläufigkeit ...“ (Welzer 2008, S.124)

Von hier ist also jeder Geschichtsverlauf möglich, und die Frage, die sich hier allererst stellt, ist die nach der Freiheit menschlichen Urteilens und Handelns. Welzer beantwortet diese Frage anhand der Möglichkeit, aus der Geschichte z.B. des Holocaust zu lernen, von vornherein negativ: „Warum aber, so könnte man fragen, sollte etwas ‚nie wieder‘ geschehen, wo doch die Beispiele zeigten, dass Menschen noch die radikalsten Abweichungen vom humanistischen Denken, die gegenmenschlichsten Theorien, Definitionen, Schlussfolgerungen und Handlungen sinnhaft finden und in Konzepte integrieren können, die ihnen vertraut sind – auch Menschen übrigens, deren Intelligenz und humanistisches Bildungsniveau nichts zu wünschen übrig lässt.“ (Welzer 2008, S.39)

Mit Plessner ist darauf zu verweisen, daß die Menschen aufgrund der exzentrischen Positionalität, also eben weil alles menschliche Handeln expressiv ist, „noch die radikalsten Abweichungen vom humanistischen Denken, die gegenmenschlichsten Theorien, Definitionen, Schlussfolgerungen und Handlungen sinnhaft finden und in Konzepte integrieren können“: und die Geschichte hat selbstverständlich auch an dieser Expressivität teil. Es gibt deshalb immer sehr viel aus der Geschichte zu lernen, denn in ihr begegnet sich der Mensch selbst, und nur vor ihrem Hintergrund wird er sich in seinem eigenen Sinnstreben und Handeln verständlich. Weder ein Geschichtsoptimismus (Fortschrittsgeschichte) noch ein Geschichtspessimismus (Verfallsgeschichte) ist angebracht. Denn die jeweiligen Maßstäbe, nach denen ‚Fortschritt‘ und ‚Verfall‘ zu deuten wären, hängen unmittelbar vom Handeln der geschichtlichen Subjekte in ihrer jeweiligen Gegenwart ab.

Der Grund, warum ich hier in einem eigenen Post auf dieses Thema zu sprechen komme, liegt darin, daß es in den folgenden Posts um Welzers „Klimakriege“ (2008) gehen soll. Und zwischen seinen Büchern „Das kommunikative Gedächtnis“ und „Klimakriege“ gibt es vor allem einen auffälligen Unterschied: nämlich einen mit dem Prinzip der Narrativität verbundenen evolutionären und geschichtlichen Optimismus hinsichtlich der Menschwerdung und einen mit der Katastrophenträchtigkeit menschlicher Technik verbundenen geschichtlichen Pessimismus hinsichtlich der Zukunft des Menschen. Der Pessimismus in den „Klimakriegen“ hat darüberhinaus seine an Günther Anders erinnernde umstürzende Radikalität darin, daß Welzer nunmehr davon ausgeht, daß es für den Menschen angesichts des Niedagewesenen menschengemachter Katastrophen aus der bisherigen Geschichte nichts Brauchbares mehr für seine Zukunft zu lernen gibt. (Vgl. Welzer 2008, S.36f., 200f.)

In den folgenden Posts werde ich weniger auf die im Buchtitel angesprochenen „Klimakriege“ selbst eingehen, sondern vor allem bestimmte Argumentationsstränge aufgreifen, die mir in bezug auf meine bisherigen Posts bedeutsam zu sein scheinen, und ich werde versuchen, Welzers Argumentation mit Hilfe des hier von mir entwickelten Standpunkts zu korrigieren und zu ergänzen.

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