„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 24. März 2011

Harald Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2/2008 (2005/2002)

  1. Zum Begriff des „neuronalen Korrelats“
  2. Autobiographisches Gedächtnis und das Prinzip der Narrativität
  3. Lebenswelt und kommunikatives Gedächtnis: Person-Person-Objekt-Spiele, Selbst-im-Zusammensein-mit-anderen
  4. Lebenswelt und kommunikatives Gedächtnis: zum Verhältnis von phylogenetischer Co-Evolution und Psychogenese
  5. Lebenswelt und kommunikatives Gedächtnis: soziale Marker
  6. Emotionalität und Entscheidung: somatische Marker
  7. Körperschleifen und die Entstehung von Innen und Außen
Ich hatte schon im ersten Post zu Welzer darauf hingewiesen, daß auch er die körperlichen Zustände in seine Analysen zum kommunikativen und autobiographischen Gedächtnis mit einbezieht. So verweist er immer wieder auf den notwendigen Zusammenhang von Emotionen und Erinnerungen (vgl. Welzer 2005/2002, S.35f.) und von Emotionen und Entscheidungen. Diese Zusammenhänge beschreibt Damasio mit dem Begriff des „somatischen Markers“: „In der Vorstellung von Damasio ist die jeweilige Aktivität immer körperlich kontextualisiert – eine bestimmte Empfindung löst einen bestimmten Handlungsimpuls aus, der seinerseits zu einer Fülle somatischer Reaktionen führt. Hier fungieren die Körper- und Gefühlszustände als bewertende Marker, die die Handlungen evaluieren und regulieren.“ (Welzer 2005/2002, S.81)

Ohne diese somatischen Marker wären die Menschen schlicht entscheidungsunfähig. (Vgl. Welzer 2005/2002, S.138) Der Begriff selbst ist schon aufschlußreich und sagt viel über Damasios wissenschaftliche Bedeutung in der Gehirnforschung aus. Wohl kaum ein anderer Gehirnforscher hätte den Zusammenhang von Emotionalität und Entscheidung vor allem auf den Körper bezogen, wie es ja im Begriff des somatischen Markers zum Ausdruck gebracht wird. Viele andere Gehirnforscher hätten die Formulierung ‚neuronaler‘ Marker verwendet. Denn obwohl Damasio sicher einer der ersten gewesen ist, der auf die Bedeutung der Gefühle für die kognitiven Funktionen hingewiesen hat, so ist er bis heute, wo so viele andere Gehirnforscher – in seiner Nachfolge – ebenfalls die unter der Schwelle des Bewußtseins liegenden, unbewußten Mechanismen für sich entdeckt haben, fast der einzige geblieben, der die Emotionalität vor allem auf die Körperlichkeit des Menschen bezieht.

Harald Welzer bezieht sich nun in seiner ausführlichen Darstellung des Ansatzes von Damasio ebenfalls auf die Körperzustände, und er beschreibt den Kern dieses Ansatzes auch korrekt als eine spezifische, der bewußten Kontrolle entzogene Form der ‚Kognition‘: „Wie wir uns verhalten, wenn wir einen entfernten Bekannten auf der Straße treffen, zu welcher Entscheidung wir in einer Konfliktsituation kommen, wie wir uns dafür entscheiden, welches Produkt wir kaufen, hängt im Kern vom Signal des somatischen Markers ab. Das heißt nicht, daß unser Verhalten von ihm determiniert wäre – schließlich kann man sich auch ‚gegen sein Gefühl‘ entscheiden (was meist die Entscheidungen sind, die man hinterher bereut) –, es heißt nur: daß wir in der Regel keine rein kognitiven Operationen vornehmen, daß also unser Geist keine Entscheidung fällt, ohne eine körperliche Information dabei berücksichtigt zu haben.“ (Welzer 2005/2002, S.138)

Aus Welzers Darstellung der Funktionsweise des somatischen Markers geht hervor, daß wir es hier mit einer Haltung zu tun haben, mit einer Form von – wie ich es an anderer Stelle formuliert habe – ‚gespeicherter Zeit‘. Frühere Erfahrungen, die wir uns erarbeitet haben, d.h. die wir reflektiert und geübt haben, wie z.B. bestimmte Techniken einer Sportart, werden zu einem organischen Bestandteil unseres Selbst. Feuerwehrleute, Polizisten, Sozialarbeiter, Pädagogen, Seelsorger etc. müssen sich jahrelang und gründlich darin ausbilden lassen, mit ihrer Klientel auf gekonnte, d.h. professionelle Weise umzugehen, damit sie dann, wenn es darauf ankommt, nicht lange überlegen müssen, was zu tun ist, sondern ‚unmittelbar‘ und ‚authentisch‘ aus dem Bauch heraus reagieren und agieren können. Damasio nennt das „rasche Kognition“. (Vgl. Antonio Damasio, Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, Berlin 5/2007, S.V) Ich nenne es „gespeicherte Zeit“, weil sie uns im Notfall hilft, Zeit zu sparen.

So anerkennenswert ich Welzers gründliche Erörterung von Damasios Ansatz finde, so muß ich doch festhalten, daß er keine Schlüsse zum Verhältnis von Gehirn und Körper daraus zieht. Für seine Verhältnisbestimmung von neuronalen Korrelaten und „erwachendem Bewußtsein“ (vgl. Welzer 2005/2002, S.82) bleiben die eigentlich recht häufigen Verweise auf die Bedeutung des Körpers letztlich folgenlos.

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