„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 24. März 2011

Harald Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2/2008 (2005/2002)

  1. Zum Begriff des „neuronalen Korrelats“
  2. Autobiographisches Gedächtnis und das Prinzip der Narrativität
  3. Lebenswelt und kommunikatives Gedächtnis: Person-Person-Objekt-Spiele, Selbst-im-Zusammensein-mit-anderen
  4. Lebenswelt und kommunikatives Gedächtnis: zum Verhältnis von phylogenetischer Co-Evolution und Psychogenese
  5. Lebenswelt und kommunikatives Gedächtnis: soziale Marker
  6. Emotionalität und Entscheidung: somatische Marker
  7. Körperschleifen und die Entstehung von Innen und Außen
Zur Thematik der Lebenswelt gehören auch die sozialen Marker, wie sie Welzer im Anschluß an Damasios somatische Marker konzipiert. (Vgl. Welzer 2005/2002, S.171, 179f., 229f.) Letztlich handelt es sich bei den sozialen Markern um nichts anderes als um aus früheren kommunikativen Erfahrungen hervorgegangene, soziale Urteilsbilder, die wir nun als Vorurteile auf andere, unserer unmittelbaren Erfahrung unzugängliche Lebenszusammenhänge übertragen: Welzer verweist auf das Beispiel der Persönlichkeit ‚unseres‘ Großvaters, wie wir ihn aus eigener Erfahrung kennen und das wir auf die Geschichten übertragen, die er selbst oder andere in der Familie uns über sein früheres Leben erzählen: „In diesem Sinne wird das Bild, das sich von dieser ‚moralischen Wesensart‘ des Vorfahren an jener Zeitstelle hergestellt hat, von der aus man ihn kennt, auch auf jene vorausliegenden Abschnitte seiner Lebensgeschichte ausgedehnt, die man aus eigener Erfahrung und Anschauung nicht kennt, weil man zu dieser Zeit noch gar nicht auf der Welt war.“ (Welzer 2005/2002, S.171)

Die sozialen Marker bewirken also, daß wir das, was wir schon kennen, auf das übertragen, was wir noch nicht kennen. Insofern also haben soziale Marker etwas Lebensweltliches und zugleich – in Analogie zu den ‚somatischen‘ Markern, auf die ich im nächsten Post zu sprechen kommen werde – etwas Habituelles: „Damasio hatte ... die Möglichkeit für intuitives Handeln mit dem Wirken von ‚somatischen Markern‘ erklärt, die eine Art körperlichen Index für das Treffen von Entscheidungen liefern. Im gleichen Sinn sind solche Entscheidungen, wie ich glaube, durch ‚soziale Marker‘ bestimmt, also an kulturelle, historische und soziale Indices gebunden.“ (Welzer 2005/2002, S.229f.)

Die Trennlinie zwischen sozialen und somatischen Markern ist also unscharf, denn bei beiden läuft es wohl auf die Notwendigkeit „rascher Kognition“ hinaus, also auf die Möglichkeit einer unbewußter Entscheidungsfindung, wie wir sie in Form einer ‚inneren Haltung‘ gespeichert haben, um uns im Bedarfsfall ganz auf unsere ‚Intuition‘ verlassen zu können. (Vgl. Antonio Damasio, Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, Berlin 5/2007, S.V) Ich frage mich jedenfalls, ob es wirklich notwendig ist, den somatischen Markern noch einmal eigens soziale Marker zur Seite zu stellen, denn im Sinne einer Handlungshilfe läuft es wohl doch auf dasselbe hinaus.

Da leuchtet mir schon eher die Funktion sozialer Marker ein, wenn man sie auf die narrative Ebene bezieht. Insofern wäre es vielleicht sogar besser von ‚narrativen‘ Markern zu reden. An Familiengeschichten kann Welzer zeigen, daß es weder die Logik noch die inhaltliche Vollständigkeit ist, die eine gute Geschichte ausmacht. Insofern nämlich Familiengeschichten, in denen vom früheren Leben des schon erwähnten Großvaters die Rede ist, „unvollständig, widersprüchlich, lückenhaft, historisch disparat“ sind, kann jeder der Zuhörer „jede Bruchstelle, jeden Widerspruch dafür nutzen, seinen eigenen Sinn in die Geschichte hineinzutragen ...“ (vgl. Welzer 2005/2002, S.179f.) – Dabei sichern die sozialen Marker bei den Zuhörern das Gefühl, daß es dieselbe Geschichte ist, der sie zuhören: in diesem Fall also der Großvater heute, wie wir alle ihn kennen, und der Großvater damals, wo die Geschichte spielt. Und jeder füllt dabei die Verständnislücken auf seine Weise „nach dem Prinzip des Lücken-Auffüllens und Montierens“. (Vgl. ebenda)

Soziale Marker helfen also dabei, Sinnfragmente so zusammenzufügen, daß sich die Zuhörer der Illusion hingeben können, trotz je individueller Sinngebung dieselbe Geschichte zu hören. Insofern sind die sozialen Marker Teil der extravaganten Syntax, die Tomasello beschrieben hat und deren Aufgabe ja ebenfalls darin besteht, den Zuhörer über einen größeren Kontext hinweg, in diesem Fall die Verbindung zwischen heute und damals, bei der Referenzverfolgung, in diesem Fall der Großvater, zu unterstützen. Dabei unterstützen die sozialen Marker allerdings weniger das individuelle Verstehen – das folgt ja nach dem Prinzip der Montage seinen eigenen Bahnen –, sondern das gemeinsame, soziale Verstehen. Und da dies weitgehend intuitiv, d.h. hinter unserem Rücken geschieht, haben wir es bei den sozialen Markern mit einem lebensweltlichen Mechanismus zu tun.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen