„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 23. März 2011

Harald Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2/2008 (2005/2002)

  1. Zum Begriff des „neuronalen Korrelats“
  2. Autobiographisches Gedächtnis und das Prinzip der Narrativität
  3. Lebenswelt und kommunikatives Gedächtnis: Person-Person-Objekt-Spiele, Selbst-im-Zusammensein-mit-anderen
  4. Lebenswelt und kommunikatives Gedächtnis: zum Verhältnis von phylogenetischer Co-Evolution und Psychogenese
  5. Lebenswelt und kommunikatives Gedächtnis: soziale Marker
  6. Emotionalität und Entscheidung: somatische Marker
  7. Körperschleifen und die Entstehung von Innen und Außen
Von Kultur spricht Welzer im Rahmen einer Verhältnisbestimmung von kulturellern Gedächtnis („Alltagsferne“) und kommunikativem Gedächtnis („Alltagsnähe“ (vgl. Welzer 2005/2007, S.14f., 98, 235)) und im Rahmen einer Verhältnisbestimmung von „Soziogenese“ und „Ontogenese“ (vgl. Welzer 2005/2007, S.116f.) Im letzteren Sinne kennzeichnet er die Kultur als „co-evolutionäre Umwelt“ des Menschen. (Vgl. ebenda) Darin kommt zum Ausdruck, daß sich die Kultur als „Soziogenese“ und die Individuen in ihrer „Ontogenese“ in beständiger Wechselwirkung ‚entwickeln‘: „Alles, was sie (die Individuen – DZ) sich in Praxis aneignen, sind gewissermaßen symbolische Formen auf dem neuesten Stand. Sie verwenden das Material, das ihnen ihre jeweilige Vorgängergeneration zur Verfügung stellt, und modifizieren es umstandslos, weil sie ihre Umwelt aktiv erschließen und sich eben nicht an sie adaptieren.“ (Welzer 2005/2007, S.116f.)

Wenn wir also zu unserer biologischen Natur nur ein weitgehend passives, nur in epigenetischen Grenzen aktives Verhältnis haben, haben wir zur Kultur, also zu unserer ‚zweiten Natur‘ ein weitgehend aktives Wechselverhältnis. Diese „co-evolutionäre Entwicklungsumwelt“ ermöglicht es den Menschen, sich besser „an sich verändernde Umwelten“ – gemeint ist wohl die Naturumwelt – anzupassen, als es ohne sie möglich wäre: „Diese Emanzipation wurde möglich durch zwei humanspezifische Gedächtnisfunktionen: erstens durch die Fähigkeit zum autonoetischen Erinnern, das ein Arbeitsgedächtnis mit einer gewissen Kapazität voraussetzt, und zweitens durch die Auslagerung von Gedächtnis in andere Personen, in Institutionen oder in Medien. Ein Gedächtnis, das autonoetisch, also sich seiner selbst bewußt und daher reflexiv ist, ermöglicht das Warten auf bessere Gelegenheiten, das Überstehen problematischer Situationen, das Entwickeln effizienterer Lösungen, kurz, es erlaubt Handeln, das auf Auswahl und Timing geruht. Ein solches Gedächtnis schafft Raum zum Handeln und entbindet vom unmittelbaren Handlungsdruck; es schafft genaugenommen erst jenen Unterschied zum Agieren und reagieren, den wir als ‚Handeln‘ bezeichnen.“ (Welzer 2005/2007, S.111)

Was an dieser Verhältnisbestimmung von Soziogenese und Ontogenese zunächst vor allem auffällt, ist Welzers evolutionärer Optimismus: denn die Annahme, daß die kulturelle Entwicklung des Menschen, also die co-evolutionäre Entwicklungsumwelt, sich derart gutartig auf das Mensch-Naturumwelt-Verhältnis auswirkt, ist – gelinde gesagt – wenig begründet. Der Hinweis auf den durch kulturelle Institutionen geschaffenen ‚Handlungsraum‘ überzeugt nicht so recht, wenn Welzer an anderer Stelle glaubt, dem in Frage kommenden Handlungssubjekt, das diesen Handlungsraum nutzen könnte, das autobiographische Gedächtnis als „Relais“ einpflanzen zu müssen, um seine Soziabilität sicherzustellen: „Eine Spezies, die eine co-evolutionäre Entwicklungsumwelt nutzt, braucht ein Relais, das seine Mitglieder für sich erweiterende und diversifizierende soziale Gruppen anschlußfähig, ‚soziabel‘ macht. Das autobiographische Gedächtnis ist ein solches Relais, eine psychosoziale Instanz, die subjektive Kohärenz und Kontinuität sichert, obwohl die sozialen Umwelten und mit ihnen die auf das Individuum gerichteten Anforderungen fluktuieren.“ (Welzer 2005/2007, S.119)

Eine mit einer co-evolutionären Umwelt ausgestattete „Spezies“ scheint also weniger an der Ausweitung des individuellen Handlungsraums als an der sozialen Berechenbarkeit ihrer „Mitglieder“ interessiert zu sein. Die einerseits angedeutete erhöhte Entwicklungsdynamik wird also andererseits gleich wieder zurückgenommen zugunsten von Stabilität.

Von dem evolutionären Optimismus, daß die Kultur das Mensch-Welt-Verhältnis zugunsten einer besseren Anpassung an „sich verändernde Umwelten“ verändern könnte, bleibt also letztlich nicht viel übrig. Und Welzer selbst wird in seinem Buch „Klimakriege“ (2008) eine gegenteilige Auffassung vertreten, nach der die Kultur vor allem als ein Hindernis in der notwendigen Neuanpassung des Menschen an die von ihm selbst geschaffene katastrophenträchtige Umwelt dargestellt wird.

Auch an dieser Stelle habe ich den Eindruck, daß der Grund, warum Welzer zu keiner überzeugenden Klärung des menschlichen Handlungsspielraums kommt, vor allem darin liegt, daß er das Verhältnis von Ontogenese und Soziogenese auf den Kurzschluß zwischen neuronalen Korrelaten und ‚interpersonellen‘ Erfahrungszusammenhängen (vgl. Welzer 2005/2002, S.57) reduziert.

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