„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 22. März 2011

Harald Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2/2008 (2005/2002)

  1. Zum Begriff des „neuronalen Korrelats“
  2. Autobiographisches Gedächtnis und das Prinzip der Narrativität
  3. Lebenswelt und kommunikatives Gedächtnis: Person-Person-Objekt-Spiele, Selbst-im-Zusammensein-mit-anderen
  4. Lebenswelt und kommunikatives Gedächtnis: zum Verhältnis von phylogenetischer Co-Evolution und Psychogenese
  5. Lebenswelt und kommunikatives Gedächtnis: soziale Marker
  6. Emotionalität und Entscheidung: somatische Marker
  7. Körperschleifen und die Entstehung von Innen und Außen
Nachdem ich schon in zwei Posts vom 05.02.2011 und 07.02.2011 zum Zusammenhang von Lebenswelt und kommunikativem Gedächtnis geschrieben habe, möchte ich auch hier wieder darauf zu sprechen kommen. Ich hatte schon die Differenz zwischen diesen Begriffen mit gleichem Inhalt vor allem daran festgemacht, daß man zum Lebensweltbegriff vom individuellen Bewußtsein her kommt, während das kommunikative Gedächtnis vor allem von der sozialen Mitwelt her konzipiert wird. Das wird noch einmal bei Welzers Anschlußkonzeption zu Assmanns Gedächtnisbegriff besonders deutlich. Er schließt über den Begriff des neuronalen Korrelats das Gehirn mit seiner sozialen Umwelt kurz: „Das Gehirn ist ein auf erstaunliche Weise erfahrungsabhängiges Organ. Während das neuronale Netzwerk im Erwachsenenalter beständigen Veränderungen unterliegt, die aus der Verarbeitung von körperinternen und -externen Informationen hervorgehen, liefern Signale aus der Umwelt beim Säugling, Kleinkind, Heranwachsenden und noch beim jungen Erwachsenen Modifikationsanlässe für neuronale Systeme, die in Entwicklung begriffen sind. Sie wirken damit direkt auf die sich entwickelnde Organisationsstruktur des Gehirns ein und somit auf die Möglichkeiten der sich entwickelnden Persönlichkeit zur Problembewältigung und Weltaneignung.“ (Welzer 2005/2002, S.66f.)

Welzer spricht von „körperinternen und -externen Informationen“. Der in seiner Darstellung unauffällig bleibenden Differenz zwischen Innen (körperintern) und Außen (körperextern) verleiht Welzer für die Verhältnisbestimmung von Gehirn und Umwelt keinerlei Relevanz. Das führt dazu, daß Welzers andere Äußerungen zu dieser Differenz in sich widersprüchlich bleiben. So heißt es z.B. an einer Stelle in prägnanter Formulierung – mit Bezug auf Norbert Elias, Lev Wygotsky, Daniel Stern und Michael Tomasello –, „daß Menschen nichts ‚verinnerlichen‘, wenn sie sich entwickeln, sondern daß sie im Zusammensein mit anderen praktisch lernen, was sie brauchen, um in einer gegebenen Sozialität zu funktionieren und zu einem vollwertigen Mitglied dieser Sozialität zu werden.“ (Vgl. Welzer 2005/2002, S.120) – Mit Bezug auf Damasios an Plessner erinnernde Verhältnisbestimmung von Gehirn und Körper heißt es dann aber in deutlichem Widerspruch dazu, „daß das Gehirn über eine Repräsentation des Körpers verfügen muß, daß es also die unterschiedlichen Einzelprozesse, Subsysteme, Funktionsabläufe des Organismus, die es überwacht und von denen es selbst ein Teil ist, auf eine Entität beziehen kann, die klare Innen- und Außengrenzen aufweist – in gewisser Weise also auf so etwas wie ein Körper-Selbst, das in bezug auf die und in Abgrenzung von der Umwelt operiert.“ (Vgl. Welzer 2005/2002, S.141f.)

Dieser Widerspruch, daß es einerseits im Zuge der individuellen Entwicklung keine ‚Verinnerlichung‘ (was aber bedeutet das Wort ‚Erinnerung‘ anderes als das Zurückholen von Verinnerlichtem?) gibt, daß aber das „Körper-Selbst“ andererseits „klare Innen- und Außengrenzen“ hat, wird von Welzer nicht reflektiert. Die damit verbundene Frage nach einer Grenzbestimmung von Körper und Leib spielt für seine primär soziale Konzeption des kommunikativen Gedächtnisses keine Rolle.

Der lebensweltliche Charakter des kommunikativen Gedächtnisses wird besonders deutlich bei der Bedeutung, die die „Person-Person-Objekt-Spiele“ für der Entwicklung eines „Selbst-im-Zusammensein-mit-anderen“ haben. (Vgl. Welzer 2005/2002, S.74f.) Im letzten Post hatte ich auf die Bedeutung der kommentierenden Begleitung von alltäglichen Aktionen zwischen Mutter und Kind hingewiesen, aus denen schon der Säugling, noch bevor er diese verbalen Kommentare überhaupt verstehen kann, Hinweise auf die Bewertung von Emotionen als gut oder schlecht entnehmen kann.

Die vor allem in den Person-Person-Objekt-Spielen mit der Mutter und anderen zentralen Bezugspersonen mitgegebenen Informationen überschreiten zwar auch in der weiteren Entwicklung des Kindes immer sein jeweiliges entwicklungsbedingtes Fassungsvermögen: „„Der soziale Prozeß des Selbst-im-Zusammensein-mit-anderen stellt grundsätzlich mehr bereit, als das Kind kognitiv und operativ bewältigen kann. Das wirkt aber nicht als Überforderung und damit entwicklungshemmend, sondern äußerst produktiv ...“ (Welzer 2005/2002, S.88)

Mit Hilfe des narrativen Prinzips der Montage (vgl. Welzer 2005/2002, S.90) ‚montiert‘ das Kind seinen eigenen Sinn in die Verständnislücken, so daß es über altersgemäße Sinnhorizonte und zahlreiche Verkürzungen und Mißverstände allmählich zu einem kompetenten, lebensweltlich orientierten Teilnehmer seiner sozialen Mitwelt, zu einem „Selbst-im-Zusammensein-mit-anderen“ heranwächst: „Die Elemente seiner Mikroumwelt, die das Kind multimodal erfährt, werden durch die aktive Hinzufügung von Beiträgen zusammengeschlossen, die dafür sorgen, daß das Kind aus dem Ganzen ‚Sinn machen‘ kann. Dieser Vorgang ist in der vorsprachlichen Entwicklungsphase weder zu beobachten noch zu messen, sondern nur zu erschließen – es wird aber an späterer Stelle anhand von Interviewmaterialien gezeigt werden, daß Kommunikation darin besteht, daß die Beteiligten an jeder Stelle der sich vollziehenden Interaktion eigenen Sinn hinzufügen, so daß (wie in der Interaktion zwischen Mutter und Kind) ein gemeinsames Ergebnis erzielt wird, das in den Beteiligten unterschiedliche Repräsentationen hinterläßt.“ (Welzer 2005/2002, S.90)

Vor diesem Hintergrund einer rein sozialen, lebensweltlichen Formung verschmelzen kommunikatives und autobiographisches Gedächtnis zu „einem beständig sich wandelnden Ich, ... dessen autobiographische Gestalt genau aus jenen zahllosen Interaktionserfahrungen besteht, in denen irgendeine Form von Identität thematisiert wird. ... Das autobiographische Gedächtnis ist insofern kommunikativ, als es sich in Form eines Wandlungskontinuums über verschiedenste Ich-konkrete Interaktionssituationen herstellt und seine (fiktive) Einheit sich darüber realisiert, daß der Ich-Erzähler von allen Interaktionspartnern als authentischer und legitimer Ich-Erzähler, als Autobiograph, akzeptiert und bestätigt wird.“ (Vgl. Welzer 2005/2002, S.217f.)

Individualität droht vor dem Hintergrund dieses Entwicklungsprozesses zur Fiktion zu werden: „Die Autobiographie als situationsabhängige, asoziale, wirklich gelebte Lebensgeschichte ist ja nichts als eine Fiktion; in der autobiographischen Praxis selbst realisiert sie sich nur als jeweils zuhörerorientierte Version, als aktuell angemessene Montage lebensgeschichtlicher Erinnerung.“ (Welzer 2005/2002, S.213)

Die einzige Perspektive auf die Individualität, die sich unter diesen Bedingungen noch bietet, ist eine statistische: „Und in der Tat besteht seine (unseres Selbst – DZ) Einzigartigkeit für jeden einzelnen der Milliarden Menschen im Zusammentreffen all jener genetischen, historischen, kulturellen, sozialen und kommunikativen Bedingungen, die so, in dieser Summe und Gestalt, nur er allein erfährt.“ (Welzer 2005/2002, S.223) – Diese statistische Perspektive vermag aber keinen Raum mehr für die individuelle Urteilskraft zu bieten. Der Gebrauch des eigenen Verstandes wird zu einem bloßen Willkürakt. Alles worauf es ankommt, ist nur die Geschichte, die wir uns erzählen, zu der wir aber keine exzentrische Position mehr einnehmen können.

Insofern verdeckt das Prinzip der Montage jene Struktur von Äußerungen, wie sie Plessner beschreibt: Form und Inhalt finden ja auch Plessner zufolge in unseren Äußerungen nie zu einer vollständigen Deckung. Auch Plessner beschreibt Äußerungen als Mischungen aus Verstandenem und Unverstandenem. (Vgl. meinen Post vom 28.10.2010) Anstatt sich nun aber damit zu begnügen, diese Mischung als Montage zu beschreiben, erhebt Plessner das Mißlingen der Äußerungsform selbst zum Formprinzip: nur insofern sich der Mensch in seiner Äußerung verfehlt bzw. nur insofern ihm die Verwirklichung seiner ursprünglichen Intention mißlingt, ist die so zustandegekommene Form, ob sprachliche Äußerung oder Handlung, ‚authentisch‘.

Ich halte nun die von Welzer beschriebene Montagetechnik des kommunikativen und autobiographischen Gedächtnisses und die von Plessner beschriebene Differenz von Gesagtem und Gemeintem keineswegs für unvereinbar. Denn auch Plessners Anthropologie beinhaltet letztendlich den fiktiven Charakter jeder Identitätsbehauptung. Aber dieser fiktive Charakter ist durchschaubar, sowohl in seiner Unvermeidbarkeit wie auch in seiner Notwendigkeit. Und die Position, von der aus wir unsere Fiktionen durchschauen können, ist die exzentrische.

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