„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 19. März 2011

Harald Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2/2008 (2005/2002)

  1. Zum Begriff des „neuronalen Korrelats“
  2. Autobiographisches Gedächtnis und das Prinzip der Narrativität
  3. Lebenswelt und kommunikatives Gedächtnis: Person-Person-Objekt-Spiele, Selbst-im-Zusammensein-mit-anderen
  4. Lebenswelt und kommunikatives Gedächtnis: zum Verhältnis von phylogenetischer Co-Evolution und Psychogenese
  5. Lebenswelt und kommunikatives Gedächtnis: soziale Marker
  6. Emotionalität und Entscheidung: somatische Marker
  7. Körperschleifen und die Entstehung von Innen und Außen
In „Das kommunikative Gedächtnis“ (Welzer 2005/2002) beschreibt Welzer das Verhältnis von kommunikativem und autobiographischem Gedächtnis. Dabei zieht Welzer Verbindungslinien zwischen neurologischen, somatischen, sozialen und historischen Befunden, – natürlich nicht ohne zu differenzieren, d.h. die begrenzte Reichweite einzelner Erklärungsmodelle zu thematisieren: „... das Gehirn hat es nur selten mit einfach gegebenen Reizen, Daten oder Werten zu tun, sondern meist mit ‚Informationen‘, die Bedeutung haben, und Bedeutungen entstehen nicht neuronal und individuell, sondern durch Kommunikation.“ (Welzer 2005/2002, S.10)

Diese Differenzierung zwischen Reizen und Informationen ist so notwendig wie schwierig. Schon die grammatische Struktur des Satzes mit dem ‚Gehirn‘ in der Subjektposition erzeugt beim genaueren Hinsehen Verwirrung. Denn auf das Gehirn wird hier in zweifacher Weise Bezug genommen: als Organ der Verarbeitung von ‚Reizen‘ und als Rezipient oder Interpret von ‚Bedeutungen‘. Diese Bedeutungen sollen aber nicht der neuronalen Struktur des Gehirns zu verdanken sein, sondern der zwischenmenschlichen Kommunikation. Das ‚Gehirn‘ ist also Organ und Bewußtsein in einem, und dennoch soll die Ebene der Bedeutung nicht mit der Ebene der Reize gleichgesetzt werden dürfen.

Welzer behilft sich zunächst mit dem philosophischen Begriff der „Substanz“, „die über all die endlosen Kilometer labyrinthischer Netzwerke geschickt wird und uns selbst und damit unser Bewußtsein ausmacht, was also der Stoff ist, den die Millionen und Abermillionen Neuronen so emsig und kreativ verarbeiten. Sowenig dieser Stoff materiell sein kann, so wenig genügt sich doch das Gehirn selbst – denn Gedanken sind etwas anderes als synaptische Verschaltungen, und das ‚Engramm‘, das neuronale Verschaltungsmuster, das etwa einen Vers aus dem ‚Faust‘ repräsentiert, ist nicht identisch mit dem Sinn, den wir diesem Vers beimessen.“ (Welzer 2005/2002, S.8) – Damit gerät Welzer gefährlich nah an einen Dualismus von Geist und Körper, auch wenn er es vermeidet, von einer geistigen Substanz zu sprechen. Welzer verwendet den Substanzbegriff an der erwähnten Stelle nur als Mittel, um die funktionale Verschiedenheit von ‚Reiz‘ und ‚Bedeutung‘, von neuronalem Verschaltungsmuster und ‚Sinn‘ hervorzuheben.

Das Problem, daß bei solchen Differenzierungsversuchen entsteht (und dem sich die meisten Neurophysiologen von vornherein gar nicht erst stellen), besteht darin, daß die jeweilige Differenzierung zwischen Gehirn und Bewußtsein auf der Grundlage einer impliziten, jeder Differenzierung unreflektiert vorausgehenden Verhältnisbestimmung von Gehirn und Bewußtsein vorgenommen wird. Gehirn und Bewußtsein werden einander gegenübergestellt wie früher Welt und Bewußtsein. Und nur bei entsprechend menschenfreundlicher Einstellung bemüht man sich dann – leider vergeblich –, das Bewußtsein nicht ganz im Gehirn und seinen Funktionen verschwinden zu lassen, sondern es irgendwie festzuhalten, was ungefähr so erfolgversprechend ist, wie Wasser mit einem Sieb zu schöpfen.

Was ich meine, läßt sich vielleicht am besten am Begriff des „neuronalen Korrelats“ festmachen. In der Gehirnforschung wird immer nach neuronalen Korrelaten von bestimmten Bewußtseinsfunktionen gesucht (früher hat man nach dem Korrelat des Bewußtseins selbst gesucht, als gäbe es irgendwo ein kleines ‚Männchen‘ zu entdecken, von dem all die geistigen Aktivitäten ausgehen). Natürlich wird in der aktuellen Gehirnforschung immer darauf hingewiesen, daß es bei den Korrelaten natürlich nicht darum geht, solche kleinen Homunculi dingfest zu machen. Dazu ist man – selbst als Gehirnforscher – inzwischen viel zu reflektiert und aufgeklärt. Aber der Begriff des neuronalen Korrelats ist dennoch nur ein Ersatzbegriff für jenen Homunculus, den man früher suchte, und er stammt nicht umsonst aus der Theologie, wo das Verhältnis zwischen Mensch und Gott als Korrelatverhältnis beschrieben wird.

Ich vermeide es, von ‚Korrelaten‘ zu sprechen. Bei Korrelaten wird die Vorstellung von den zwei Seiten einer Münze hervorgerufen, bei denen es sich eigentlich um dieselbe Sache handelt. Wenn Welzer also von „neuronalen Korrelaten“ „interpersonelle(r) Erfahrungen“ (vgl. Welzer 2005/2002, S.57) oder von „Korrelate(n) des erwachenden Bewußtseins“ (vgl. Welzer 2005/2002, S.82) spricht, gewinnt man irrigerweise den Eindruck, daß wir uns hier auf einer Ebene bewegen, daß also neuronale Schaltkreise und Bewußtsein letztlich dasselbe sind. Aber das Gehirn ist so wenig ein Korrelat des Bewußtseins wie die Leber oder das Herz oder die Hände. Man könnte sonst auch die Leber als ein Korrelat der staatlichen Zensur bezeichnen oder das Herz als ein Korrelat der Liebe. Wir können Leber und Herz allenfalls als Metaphern für diese geistigen und seelischen Phänomene verwenden.

Ich selbst habe den Begriff des Korrelats immer auf das Verhältnis von Mensch und Welt bezogen: Mensch und Welt sind zueinander korrelativ, so wie Bewußtsein und Gegenstand oder Denken und Gedanke zueinander korrelativ sind. Es handelt sich um Denknotwendigkeiten: ich kann den Menschen nicht denken ohne die Welt, und ich kann die Welt nicht denken ohne den Menschen. Dabei geht es nicht um die physische Vorausgesetztheit, also daß es keine Naturwelt ohne den Menschen geben kann, sondern um die geistige Vorausgesetztheit: eins kann ohne das andere nicht gedacht werden.

In diesem Sinne ist das Korrelat des Bewußtseins also nicht etwa das Gehirn, sondern der Gegenstand: ich kann das Bewußtsein nicht denken, ohne es auf Gegenstände zu beziehen. Und ich kann Gegenstände nicht denken, ohne sie auf ein Bewußtsein zu beziehen.

Das Gehirn ist nur ein Organ, so wie die Leber, das Herz und die Hände. Es erfüllt für das Bewußtsein eine physische Funktion. Wäre es für das Bewußtsein nicht in diesem Sinne funktional, gäbe es kein Bewußtsein. Das Gehirn ist also eine fundamentale, aber dennoch nur funktionale Voraussetzung des Bewußtseins. Es ist ein Teil der funktionellen Anatomie unseres Körpers. Wenn wir Gehirn und Bewußtsein korrelieren – und das tun wir, wenn wir von neuronalen Korrelaten sprechen –, so ist das ein Kurzschluß im prägnanten Sinne: Der ganze ‚Rest‘ des Körpers wird ausgeblendet, als hätte er für das Bewußtsein keine Bedeutung.

Auch ich will hier nicht wieder auf den alten cartesianischen Dualismus von Körper und Geist hinaus. Ich halte es für völlig ausreichend, das Bewußtsein aus der Grenzbestimmung des Körperleibs hervorgehen zu lassen und es als ein Epiphänomen oder vielleicht besser als ein ‚emergentes‘ Phänomen der Struktur der menschlichen Anatomie zu verstehen. Dazu brauche ich aber den ganzen Körper, nicht nur einen Teil, – und sei es auch das Gehirn.

Das Gehirn ist nicht das Ganze dieses Körpers, und es ist schon gar nicht die Welt, die, wie schon erwähnt, als für sich sinnhaftes Ganzes ein Korrelat des sinnbedürftigen Menschen bildet. Kurz gesagt: die neuronalen Schaltkreise sind organisch funktional für das Bewußtsein; sie sind aber nicht dessen Korrelate. Sie als Korrelate des Bewußtseins zu bezeichnen, führt dazu, aus Teilen ein Ganzes zu machen und die anderen Teile der menschlichen Anatomie, die zu diesem Ganzen dazugehören, auszublenden.

Auch Damasio spricht von neuronalen Korrelaten. (Vgl. Damasio 8/2009 (1999), S.302f.) Allerdings in einem sehr einschränkenden Sinne. Damasio bezeichnet es als „schlüssigen Befund“, daß das Bewußtsein aus „physiologischen Prozessen“ entsteht (vgl. Damasio 8/2009, S.302): „Meiner Meinung nach liefern sie die neuronalen Korrelate für die wache, aufmerksame Haltung, in der Vorstellungen gebildet und manipuliert und motorische Reaktionen organisiert werden können. Die bloße Beschreibung dieser elektrophysiologischen Muster liefert keinen Beitrag zum Selbst und Erkennen, das nach meiner Meinung die zentrale Frage des Bewusstseins ist. Diese Muster bilden nur das Schlussstück des Bewußtseinsprozesses, so wie ich ihn verstehe – den Teil des Prozesses, bei dem Objektkarten verstärkt werden und das Objekt hervorgehoben wird.“ (S.301f.)

Gerade Damasio, der wie kein anderer Gehirnforscher auf die Bedeutung des Körpers im Verhältnis zum Gehirn für das Verständnis der Entstehung von Bewußtsein hingewiesen hat, nehme ich es ab, daß er den Begriff des Korrelats nicht im abkürzenden, den Körper vergessen machenden Sinne verwendet. Ganz im Gegenteil bilden diese neuronalen Korrelate für Damasio nur das „Schlussstück des Bewußtseinsprozesses“, was eben die ganze menschliche Anatomie voraussetzt, auf deren Grundlage diese Schlußstücke erst ihre Aktivitäten entfalten.

Auch Welzer bezieht sich, wie wir noch sehen werden, immer wieder auf die körperlichen Zustände, – aber wenn es darum geht, soziale, kommunikative Prozesse auf die menschliche Anatomie zu beziehen, reduziert er diese Anatomie immer wieder auf die neuronalen Korrelate, wozu, wie ich inzwischen glaube, uns diese Begrifflichkeit selbst verleitet.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen