„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 5. Februar 2011

Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, München 3/2007 (2000)

(Einführung: Was ist das „kulturelle Gedächtnis“?, S.11-44; Unsichtbare Religion und kulturelles Gedächtnis, S.45-61; Monotheismus, Gedächtnis und Trauma. Reflexionen zu Freuds Moses-Buch, S.62-80; FünfStufen auf dem Wege zum Kanon. Tradition und Schriftkultur im alten Israel und frühen Judentum; S.81-100; Erinnern, um dazuzugehören. Schrift, Gedächtnis und Identität, S.101-123; Kulturelle Texte im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, S.124-147; Text und Ritus. Die Bedeutung der Medien für die Religionsgeschichte, S.148-166; Officium memoriae: Ritus als Medium des Denkens, S.167-184; Zitathaftes Leben. Thomas Mann und die Phänomenologie der kulturellen Erinnerung, S.185-207; Ägypten in der Gedächtnisgeschichte des Abendlandes, S.210-222)

1. Oberfläche und Tiefe
2. Haltung und „vertikale Verankerung“
3. Lebenswelt und Gedächtnis

In diesem Post möchte ich näher auf die Exzentrizität des kulturellen Gedächtnisses eingehen. Dazu gehört allererst, daß wir uns klar darüber werden, daß es trotz dessen im folgenden aufgezeigten, insbesondere über die Schrift ermöglichten Exzentrizität nur einen realen Träger dieses Gedächtnisses gibt: „Weder die Gruppe, noch gar die Kultur ‚hat‘ in diesem Sinne ein Gedächtnis. So zu reden, wäre eine unzulässige Mystifikation. Nach wie vor ist der Mensch der einzige Träger des Gedächtnisses. Worum es geht, ist die Frage, in welchem Umfang dieses einzelne Gedächtnis sozial und kulturell determiniert ist.“ (Kulturelles Gedächtnis 2000, S.19)

Wenn wir also von einem universalisierten Bindungsgedächtnis im Sinne des kulturellen Gedächtnisses sprechen und damit von der Möglichkeit eines bestimmten, in der Vergangenheit verankerten Zukunftsbezugs, so heißt dies, daß wir es hier mit einer Extension der im Körperleib begründeten exzentrischen Positionalität des individuellen Menschen als Person zu tun haben. Mit der individuellen Person ist aber nach Plessner ein Ganzes aus Körper, Seele und Geist gemeint, wofür ich bislang den Begriff der Haltung verwendet habe und auch weiterhin verwenden werde. Den Begriff der Haltung möchte ich nun aber im Sinne des kulturellen Gedächtnisses mit dem Begriff der „vertikalen Verankerung“ (vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.189, 199f., 202f., 206f.) ergänzen.

Als ‚Haltung‘ hatte ich bisher die mit der exzentrischen Positionalität des Menschen verbundene Notwendigkeit bezeichnet, sich zu seiner Körperlichkeit zu verhalten. Dabei ging es zum einen um den konkreten Bezug zu bestimmten Situationen und zum anderen um die grundsätzliche ‚Verhältnismäßigkeit‘ des Bezugs zur Welt, d.h. zur Sinnhaftigkeit der Welt, wobei ich hier noch nicht eigens zwischen Erinnerung (Gedächtnis) und Wahrnehmung differenziert hatte. Mit ‚Haltung‘ meinte ich ein sich-Halten im sinnleeren und insofern einem impliziten Nihilismus durchaus nahestehenden ‚Raum‘, dem ich keine eigene Substanz zusprechen möchte. Denn die Grenze zwischen Körper und Leib, an der sich diese exzentrische Position, dieser leere Raum eröffnet, hat zwar ihre materielle (biologische) Grundlage am Körper, aber mit der exzentrischen Positionierung zu dieser Grenze ergibt sich weder eine neue ‚Materie‘ noch eine metaphysische Substanz, sondern lediglich eine neue Struktur bzw. eine ‚Gestalt‘.

Nun gibt es aber nicht nur eine Haltung im ‚Raum‘, sondern auch in der ‚Zeit‘, und damit ist eben der Bezug zum kulturellen Gedächtnis gemeint. Das kulturelle Gedächtnis beinhaltet für unsere erweiterte Sicht auf die Haltung zwei wesentliche Momente: ein kulturelles bzw. kollektives Unbewußtes und eine Erweiterung des Situationsbegriffs: die „zerdehnte Situation“ (vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.126-130, 141f., 144f.)

Das Unbewußte und die zerdehnte Situation ergeben sich aus dem Übergang von mündlichen zu schriftlichen Kulturen. Ein kollektives bzw. kulturelles Unbewußtes gab es zwar auch schon in mündlichen Kulturen, da es auch hier schon spezifische Mnemotechniken gab, zu denen nur ausgewählte Gedächtnisspezialisten wie z.B. Priester und Barden Zugang hatten, so daß der übrigen Bevölkerung eine Teilnahme am kulturellen Gedächtnis nur an bestimmten Festtagen möglich war und ihnen auch dann nur eine Auswahl des kulturellen Gedächtnisses vergegenwärtigt wurde. Aber erst die Schrift ermöglichte es, ‚Texte‘ aufzubewahren, die wirklich in Vergessenheit geraten konnten. Assmanns Textbegriff beinhaltet, daß nur jene Zeichensysteme als ‚Text‘ bezeichnet werden dürfen, die wirklich gelesen bzw. vorgetragen werden. Der Textbegriff hängt an der Wiederholung. Wird er nicht wiederaufgegriffen, also wiederholt, handelt es sich nicht um einen Text. (Vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.127u.ö. (Interessant wäre es hier übrigens, diesen Textbegriff auch auf den Hypertext und auf das Internet zu beziehen und entsprechend zu variieren. Schließlich hat auch das Internet ein Gedächtnis!))

Bei vergessenen ‚Texten‘, an die sich nicht einmal mehr Schriftgelehrte und andere Schriftexperten erinnern, handelt es sich also gar nicht mehr um Texte in diesem Sinne. Dennoch besteht aufgrund der Schriftlichkeit die Möglichkeit, daß sie wiederentdeckt werden und dann aufgrund ihrer Unzeitgemäßheit – weil sie eben nicht mehr zum kulturellen Kanon gehören – eine ‚subversive‘ Wirkung entfalten können: „Das kulturelle Gedächtnis umfaßt im Gegensatz zum kommunikativen Gedächtnis das Uralte, Abgelegene, Ausgelagerte und im Gegensatz zum kollektiven und Bindungsgedächtnis das Nichtinstrumentalisierbare, Häretische, Subversive, Abgespaltene. Mit dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses ist die äußerste Entfernung von dem erreicht, was unseren Ausgangspunkt gebildet hat: das individuelle Gedächtnis in seinen neuronalen und sozialen Bedingungen.“ (Kulturelles Gedächtnis 2000, S.41)

Mit dieser Qualität der speziell der Schriftlichkeit verdankten Aufbewahrung von nicht mehr gelesenen und schließlichen vergessenen ‚Texten‘ hängt der Begriff der „zerdehnten Situation“ zusammen. Zur unmittelbaren Situation gehört die konkrete beidseitige Anwesenheit von Sprecher und Hörer. Wo diese nicht mehr gegeben ist, und das beginnt schon beim Boteninstitut (vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.130), bei dem es sich darum handelt, Botschaften mithilfe eines Kuriers über einen räumlichen Abstand hinweg zu ‚senden‘, wird die unmittelbare Situation ‚gedehnt‘. Mit der Schriftlichkeit besteht nun nicht nur die Möglichkeit, große räumliche Strecken, sondern auch große zeitliche Strecken zu überwinden, sich also einerseits als Autor an potentielle Leser in einer fernen Zukunft zu richten oder als Leser verlorengegangene Schriften wiederzuentdecken und als bedeutsam für die eigene Zeit wahrzunehmen und wiederzubeleben. Solche Schriften wurden z.B. zur Zeit des Alten Testaments im Rahmen des Deuteronomiums ‚wiederentdeckt‘. (Vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.120) Und im Mittelalter wurden die Schriften des Aristoteles ‚wiederentdeckt‘, mit allen damit verbundenen sozialen und kirchenpolitischen Folgen.

Man kann also mit guten Gründen von einem kulturellen Unbewußten sprechen: „Mit dem kulturellen Gedächtnis eröffnet sich die Tiefe der Zeit.“ (Kulturelles Gedächtnis 2000, S.37) – Schon diese über die Schrift vermittelte Trennung von Sprecher und Hörer in Autor und Leser berechtigt, wie ich finde, von einer dem kulturellen Gedächtnis eigenen exzentrischen Positionalität zu sprechen, wobei an die Stelle des Körperleibs die Schrift als materielle Basis dieser neuen Grenzbestimmung tritt. Und die Grenze verläuft hier zwischen dem (noch) ungelesenen Textkörper und dem durch das Lesen wiederaufgenommenen, zum ‚Leben‘ erweckten Text. Hier haben wir eine wirkliche Analogie vorliegen.

Der Begriff der zerdehnten Situation trifft sich übrigens mit Plessners Beschreibung des Geistes. So wie der kulturelle Text sich über die raumzeitlichen Begrenzungen der unmittelbaren Kommunikationssituation erhebt (vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, 127) und einen Standort oberhalb (wahlweise auch ‚unterhalb‘, eben exzentrisch) konkreter Situationen einnimmt, hebt auch der ‚Geist‘ bzw. – bei ihm gleichbedeutend – die ‚Kultur‘ die „raumzeitliche Verschiedenheit der Standorte“ auf. (Vgl. „Stufen“, S.304f.)

Kommen wir nun zur vertikalen Verankerung als Form einer Haltung in der Zeit. Assmann greift in diesem Zusammenhang eine Begriffsbildung von Ernst Kris, einem Thomas-Mann-Interpreten, auf: die „gelebte Vita“. (Vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.188) Dabei geht es darum, daß Thomas Mann in seinem Joseph-Roman ein Konzept des „zitathaften Lebens“ entwickelt. (Vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.186, 189, 199f.) Dieses zitathafte Leben besteht darin, daß wir uns in unserer Lebensführung an Vorbildern orientieren. Man kennt das auch schon vom kommunikativen Gedächtnis her, so wie es Assmann selbst beschreibt und auch Harald Welzer in seinem Buch „Das kommunikative Gedächtnis“ (2002). Wir erinnern uns an unsere Erlebnisse nicht so, wie sie sich tatsächlich ereignet haben, sondern wir orientieren uns bei unseren Erinnerungen an Büchern, die wir gelesen, und an Filmen, die wir gesehen haben, oder auch einfach nur, indem wir uns an Vorbildern, die uns geprägt haben, orientieren. So funktioniert auch das zitathafte Leben, indem wir uns unsere Biographie selber ‚basteln‘, also sie uns so zurechtlegen und auch leben, wie es uns vor dem Hintergrund einer kulturellen Folie als richtig erscheint.

So funktionierte schon der Mythos: „Der Mythos kennzeichnet zwar, Thomas Mann zufolge, in der Menschheitsgeschichte ein frühes Stadium, in der Entwicklungsgeschichte des Einzelnen dagegen ein spätes und reifes.() Gemeint ist das bewußte Begreifen, Vertiefen und Ausleben der vertikalen Verankerung des eigenen Daseins, eben das zitathafte Leben, das neben Überblick und Erinnerung auch Distanz zur Gegenwart, zur ‚horizontalen Vernetzung‘ erfordert. Die Idee des Zitathaften Lebens geht noch einen Schritt über die Stufe halbbewußten oder ‚träumerischen‘ Lebens im Mythos hinaus. Sie bezieht sich auf das Subjektiv- und Reflexiv-Werden des Mythos im lebenden Ich, das ihn dann nicht mehr einfach ausagiert, sondern – mit Thomas Mann zu reden – ‚zelebriert‘ ...“ (Kulturelles Gedächtnis 2000, S.199f.)

Die horizontale Vernetzung bezieht sich auf den Gegenwartsbezug des Menschen, und die vertikale Verankerung bezieht sich auf den über die Vergangenheit vermittelten Zukunftsbezug des Menschen. Wir haben es hier mit einer recht seltsamen Zeitdimension zu tun, die ich wiederum am besten als exzentrische Positionalität beschreiben kann. Normalerweise stellt man sich die Zeitlinie ja nicht als Vertikale, sondern als Horizontale vor, in dem Sinne, daß sich ein Gegenwartspunkt auf einem waagerechten Zeitpfeil ständig ‚vorwärts‘ bewegt. Auf der Vertikalen bewegt sich aber gar nichts, weshalb ja auch von einer ‚Verankerung‘ die Rede ist. Es ist vielmehr die Vertikale selbst, die sich bewegt, nämlich mit dem jeweiligen Menschen, der mit Hilfe dieser Vertikalen seine jeweilige biographische Gestalt zu verwirklichen versucht. Er führt diese Vertikale in seinem Lebenslauf mit sich und versucht sich dabei möglichst immer auf dem selben Punkt zu ‚halten‘, dem Punkt auf der Vertikalen nämlich, an dem er sich orientiert.

Die Vertikale besteht in einem Vergangenheitsbezug und in einem Zukunftsbezug: „Was Gleichzeitigkeit oder Zeitlosigkeit, das Ineinanderblenden von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Zeit, das sind Spiegelung und Entsprechung von Oben und Unten im Raum. ... Das Mythische oder Wirkliche ist am Anbeginn (also ‚unten‘ – DZ), und es ist ‚oben‘, es ‚kehrt wieder‘ und es ‚kommt herab‘.“ (S.192) – Wer sich auf dieser vertikalen Linie ‚verortet‘, lebt also in zwei Dimensionen: in der nach ‚unten‘, auf den Anbeginn der Zeit gerichteten Dimension und in der nach ‚oben‘, auf die „ebensoferne Zukunft“ gerichteten Dimension. (Vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.192) Er orientiert sich an irgendeinem, für ihn bedeutsamen mythischen „Muster“ (vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.189) und versucht dieses in seinem Leben ‚erstmalig‘ wiederzubeleben.

Für dieses scheinbare Paradox von Erstmaligkeit und Wiederholung steht der Mythos. (Vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.191) Der Mythos besteht darin, daß er immer wieder wiederholt wird, daß zugleich aber das, was wiederholt wird, sich jeweils erstmalig und einzigartig ereignet. Mythen erzählen immer von Erstmaligkeiten, die dann zum Muster werden, die in ihrer Wiederverlebendigung wiederum zu Erstmaligkeiten werden. Das hört sich seltsam an, aber jede Beispielgeschichte lebt von dieser Struktur: als einmaliger Fall für viele Fälle zu stehen, die jeder für sich wieder anders sind. Beispielgeschichten vereint das Paradox, über Individuelles zu reden, ohne es zu verallgemeinern. (Vgl. Günther Buck, Lernen und Erfahrung – Epagogik. Zum Begriff der didaktischen Induktion, Darmstadt 3/1989)

Haben wir es hier also schon von der narrativen Struktur her mit einem seltsamen Zeitmuster zu tun – das übrigens nicht nur ein Grundmuster des Mythos, sondern von Narrativität schlechthin bildet! –, so mutet es noch seltsamer an, wenn Assmann ‚Auschwitz‘ zu einem Grenzdatum unserer Erinnerungskultur erhebt, das nicht wiederholt werden darf. (Vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.36f.) Hier muß also ein narrativer Textkorpus eine gegen sein eigenes Grundprinzip gerichtete Rezeptionswirkung entfalten: nicht wiederholt zu werden!

Die vertikale Verankerung bezeichnet also eine zeitliche, die eigene Biographie formende Haltung, die darin besteht, daß wir uns auf einen Punkt auf dieser Achse hin ‚halten‘, uns also an einem bestimmten mythischen Muster orientieren. So eröffnet sich uns ein über die Vergangenheit vermittelter Zukunftsbezug, d.h. ein Lebenssinn. Wie ich schon im letzten Post anmerkte: als Altertumswissenschaftler kann man schon aus beruflichen Gründen kein Nihilist sein. Denn wer sich mit dem kulturellen Gedächtnis befaßt, befaßt sich notwendigerweise mit ‚Sinn‘. Sonst gäbe es keinen Gegenstand, den man als kulturelles Gedächtnis beschreiben könnte.

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