„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 1. Januar 2011

Helmuth Plessner, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen des menschlichen Verhaltens, München 1950 (1941)

1. Positionalität und Haltung
2. Positionalität und Situation
3. Gefühl und Sinn
4. Verstand und Herz
5. Dummheit und Intelligenz

Wenn ich im letzten Post Plessners Feststellung: „Nur wo ein Verstand ist, kann auch ein Herz sein.“ – gerne ergänzen wollte durch ein: „Nur wo ein Herz ist, kann auch Verstand sein.“ – so hat das seinen Grund in meiner Bestimmung individueller Urteilskraft als ein Wechselverhältnis von Naivität und Reflexion bzw. Kritik. Ich will in diesem Post jetzt noch einmal eigens darauf zu sprechen kommen, weil Plessner selbst eine eigene Problematik der Gefühlsbestimmung in „echte“ und „unechte“ Gefühle eröffnet. Demnach soll das „echte Gefühl“ als „durch und durch sachverhaftete Angesprochenheit“ zu verstehen sein, während unechte Gefühle „nichts mit mir selber zu tun“ haben sollen: „Im unechten Gefühl fehlt das Angesprochensein in der Sachbindung, und nur die Durchstimmtheit füllt den Menschen aus.“ (Vgl. Lachen/Weinen, S.172)

Hier bewegt sich Plessner – offenbar ohne es zu merken (vgl. meinen Post vom 17.11.2010, wo ich mich gegen Plessners Rousseaubild wende) – auf Rousseauschem Niveau. Gefühle, die deshalb ‚unecht‘ sind, weil sie nichts mit mir zu tun haben und, was offensichtlich die andere Seite derselben Medaille ist, keine Sachbindung aufweisen, erinnern an Rousseaus falsche Bedürfnisse, vor denen er Emile dadurch zu bewahren versucht, daß sein Erzieher Jean-Jacques mit ihm in die Provinz zieht, möglichst weit weg von der verdorbenen Stadtgesellschaft und ihren falschen Bedürfnissen. Auch die falschen Bedürfnisse bei Rousseau sind die Bedürfnisse der Anderen, die wir uns aneignen, als wären sie unsere eigenen. Und diese falschen Bedürfnisse hindern uns am Gebrauch unseres Verstandes.

Die richtigen, weil ursprünglichen Bedürfnisse aber hindern uns nicht am Verstandesgebrauch. Wir lernen den richtigen Umgang mit ihnen im Umgang mit der ‚Natur‘, die bei Rousseau alles ist, was Emile nicht unmittelbar auf ihn einredend beeinflußt, also alle nichtmenschlichen ‚Gegenstände‘ natürlicher wie artifizieller Art seiner Umwelt, in der er aufwächst. Rousseaus Erziehungskonzept besteht also darin, daß Emile sich seinen eigenen Sachbezug erarbeiten muß, sprich: selber denken zu lernen, ohne sich der Autorität anderer zu unterwerfen.

Auch hier haben wir also dieselbe Kombination wie bei Plessner: echte Bedürfnisse bzw. Gefühle haben etwas mit mir zu tun, weil sie einen Sachbezug haben, während falsche Bedürfnisse lediglich die von jedem Sachbezug ablösbare und unabhängige Einstimmigkeit mit den Anderen, letztlich der Gesellschaft zum Ausdruck bringen. Demnach haben wir es bei der individuellen Urteilskraft mit der Wechselseitigkeit von: kein Verstand ohne Herz und kein Herz ohne Verstand zu tun. Das Herz aber, bzw. das Gefühl, besteht in der Bindung an die Sache.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen