„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 25. Januar 2011

Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Bd.1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 7/1988 (1956)

(Über prometheische Scham, S.21-95; Die Welt als Phantom und Matrize. Philosophische Betrachtungen über Rundfunk und Fernsehen, S.97-211; Sein ohne Zeit. Zu Becketts Stück „En attendant Godot“, S.213-231; Über die Bombe und die Wurzeln unserer Apokalypse-Blindheit, S.233-308)

1. Bilder, Phantome und Informationen
2. Falsche Lebenswelten (coram publico)
3. Falsche Lebenswelten (Verbiederung)
4. Falsche Lebenswelten (Produktion)
5. Falsche Lebenswelten (Technik)
6. Falsche Lebenswelten (persönliche Verantwortung)
7. Mensch und Natur
8. homo ‚excentricus‘
9. Skizzen zu einer ästhetischen Bildung

Anders spricht von der Warenproduktion als einem Systemzusammenhang (vgl. Antiquiertheit, S.2, 277f.u.ö.), ausdrücklich auch in dem Sinne einer ‚Welt‘, und er fügt hinzu: „Und ‚Welt‘ ist etwas anderes als ‚Mittel‘. Etwas kategorial anderes.“ (Ebenda, S.2) Inwiefern kategorial anders? Jedenfalls nicht im Sinne einer Welt im eigentlichen Sinne, zu der ja Widerständigkeit gehört. (Vgl. Antiquiertheit, S.194) Wir haben es vielmehr mit einer ‚Welt‘ zu tun, in der die Widerstände selbst „heute zu Produkten geworden sind.“ (Vgl. Antiquiertheit, S.200)

Die Ware in der Warenwelt „tendiert“ dazu, „so zu sein, daß sie bei Verwendung handlich, auf Bedürfnis, Lebensstil und Standard zugeschnitten, mund- oder augengerecht ist. Ihr Qualitätsgrad ist durch den Grad dieser ihrer Angemessenheit definiert; negativ ausgedrückt: er hängt davon ab, wie gering der Widerstand ist, den sie ihrem Verwendetwerden entgegensetzt; und wie wenig unverarbeitbare Fremdreste ihr Genuß übrigläßt.“ (Vgl. Antiquiertheit, S.122) – Mit anderen Worten: die Welt der Warenproduktion tendiert zu vollständigen Virtualisierung der Realität, und so gehorcht auch die Entwicklung einer digitalisierten Welt, des Web 2.0, wie wir sie in den letzten Jahren miterleben konnten, genau dieser Logik.

Auch hier haben wir es also mit einer Lebenswelt zu tun, einer Welt, die, wie Anders schreibt, dem Menschen „paßt“ wie ein „Handschuh“ und die er deshalb mit sich trägt, ohne sie zu spüren. (Vgl. Antiquiertheit, S.194) Aber die Diagnose einer zur maßgeschneiderten Kleidung gewordenen Welt (nicht ohne den ironischen Hinweis auf die Konfektionsware) geht Anders noch nicht tief genug. Nicht nur, daß wir die Produkte konsumieren, ohne daß uns noch irgendein „Fremdrest“ an ihre ursprüngliche Welthaltigkeit, an ihren Gegenstandscharakter erinnern würde, – es ist sogar so, daß wir uns über unseren Konsum am Produktionsprozeß beteiligen. (Vgl. Antiquiertheit, S.103) In der zweiten industriellen Revolution haben wir es nicht mit dem Klassenunterschied von Besitzern der Produktionsmittel und den Arbeitern zu tun, sondern alle, auch die Kapitalisten, nehmen über den Konsum am Produktionsprozeß teil, indem sie sich selbst als Produkt in dieser Produktionskette, als Teil der Welt der Produkte mitproduzieren. Das Ergebnis dieser Produktionskette ist schließlich der Konsument bzw. der Massenmensch, der die Produktionskette zu einem Kreislauf schließt, weil die von ihm konsumierten Produkte wiederum nachproduziert werden müssen.

‚Die Produkte bilden einen Systemzusammenhang‘ bedeutet jetzt, daß der Konsument nicht mehr das Zentrum des Produktionsprozesses bildet, so daß von einem bedürfnisorientierten Angebot nur noch in dem invertierten Sinne die Rede sein kann, daß die Produkte selbst zum Zentrum von Bedürfnissen geworden sind. Damit ist zunächst gemeint, daß die Produkte voneinander abhängen („Interdependenz“ (vgl. Antiquiertheit, S.178)). Zur Bedienung und zur Wartung erworbener Produkte bedarf es wiederum anderer Produkte, ohne deren Mitfunktionieren nur ein einzelnes, isoliertes Produkt nicht funktionieren würde. Das ist wie in dem alten Schottenwitz: ein Schotte beklagt sich über ein geschenktes Buch, weil er sich nun eine Leselampe dazukaufen muß. Wenn wir aber nur an unsere PCs und an die unübersehbare Vielfalt der Anwendungen denken, die wir ständig erneuern und ergänzen müssen, so wissen wir sehr genau, um wieviel trauriger die Realität der Warenproduktion inzwischen geworden.

Die Waren haben also inzwischen selbst Bedürfnisse, anstatt unsere Bedürfnisse zu befriedigen: „... unsere Bedürfnisse sind nun nichts anderes mehr als die Abdrücke oder die Reproduktionen der Bedürfnisse der Waren selbst.“ (Antiquiertheit, S.178) – Die Bedürfnisse der Produkte werden so zu Geboten, deren kategorischer Imperativ lautet: „Lerne dasjenige zu bedürfen, was dir angeboten wird!“ (Antiquiertheit, S.172) Und damit kommen wir zum Clou der Andersschen Argumentation: Produkte und Konsument passen wie Original und Kopie – Anders spricht von „Matrize“ – zusammen, wobei das Original in den Produkten besteht und der Mensch nur noch als Kopie vorkommt. (Vgl. Antiquiertheit, S.197)

Aber auch diese Darstellung ist Anders noch nicht düster genug; sie kann den Weltverlust noch nicht deutlich genug zum Ausdruck bringen. So spricht er von reliefartigen Matrizen, die wie Hoch- und Tiefrelief, also wie Zahnränder ineinander passen: „Immer ist der Konsument bereits vorverbildet, immer schon vorbildbereit, immer schon matrizenreif; mehr oder minder entspricht er immer schon der Form, die ihm aufgeprägt werden wird. Jede einzelne Seele liegt der Matrize passend auf, gewissermaßen wie ein Tiefrelief einem ihm korrespondierenden Hochrelief ... Das Hin und Her zwischen Mensch und Welt vollzieht sich also als ein zwischen zwei Prägungen sich abspielendes Geschehen, als Bewegung zwischen der matrizengeprägten Wirklichkeit und dem matrizengeprägten Konsumenten; auf höchst gespensterhafte Weise also, da in ihm Gespenster mit (von Gespenstern hergestellten) Gespenstern umgehen.“ (Antiquiertheit, S.197)

Gründlicher kann man die Kluft, den Hiatus zwischen Mensch und Welt, zwischen Innen und Außen, nicht zum Verschwinden bringen als in dem Bild eines fugenlos ineinanderpassenden Tief- und Hochreliefs. So wie Zahnräder ineinander greifen, greift bei Anders die Produktewelt in die menschliche Form und umgekehrt die menschliche Form in die Zahnräder der ‚Welt‘. Das „Hin und Her“ ist dann nur noch ein Mechanismus, der sich vollzieht, in dem sich aber nichts mehr zum Ausdruck bringt.

An dieser Stelle ist Anders sogar noch radikaler als in seinem Aufsatz über die „prometheische Scham“ (vgl. Antiquiertheit, S.21-95), wo sich der Mensch, der Prometheus, der den Göttern das Feuer stahl und so schließlich den Menschen in einem langen Prozeß der Aufklärung und der Technisierung an die Stelle der Götter setzte, seiner Menschlichkeit angesichts der Perfektion seiner Produkte zu schämen beginnt. Weil er selbst in seiner Geburtlichkeit, in seiner nicht-gemachten ‚Natürlichkeit‘ unvollkommen und hinter seinen eigenen Produkten zurückbleiben muß, schämt er sich nun vor ihnen, und erweist ihnen damit eine Ehre, die früher einmal den Göttern vorbehalten gewesen war, die er dann in einem Akt der Befreiung sich selber erwies und auf die er nun in einem Akt der Selbsterniedrigung und Selbstverknechtung so leichtfertig verzichtet.

So kraß diese Entwicklung der erneuten Unterwerfung und Entmündigung des nunmehr „antiquierten“ Menschen auch erscheinen mag, – sie ist doch noch nicht so radikal, wie die Darstellung des Menschen und seiner Produkte als ineinandergreifende Zahnräder, die für ein in der prometheischen Scham zum Ausdruck kommendes technisches Ungenügen des Menschen gar keinen ‚Raum‘ mehr läßt. Umso erstaunlicher ist es, daß Anders dennoch einen ‚Rest‘ eines ungestillten Bedürfnisses auf Seiten des Menschen übrigläßt. Er spricht von einem „zweiten Hunger“: „... werden wir so befriedigt, daß die Befriedigung des ersten Bedürfnisses nicht mehr das Ergebnis unserer eigenen Tätigkeit ist, dann fühlen wir uns getäuscht ... dann bricht das ‚zweite Bedürfnis‘, der ‚zweite Hunger‘ aus: nicht Hunger nach Beute, sondern nach Mühsal, nicht nach Brot, sondern nach dessen Beschaffung; nicht nach dem Ziel; sondern nach dem, nun zum Ziel werdenden, Wege.“ (Antiquiertheit, S.199)

Aber auch durch diesen zweiten Hunger wird der Virtualisierungsprozeß von Welt und Lebenswelt nicht wirklich unterbrochen. Denn nun werden die vermißten Widerstände künstlich erzeugt; sie werden, wie schon eingangs erwähnt, selbst zu Produkten. Zu diesem Zweck gibt es Sport und Hobby, wo der Mensch stellvertretend für die verlorengegangene Welt Widerstände überwinden und selbst Dinge produzieren (basteln) kann, als wäre er nicht längst selbst ein Produkt. (Vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.201f.)

Auch hier können wir in der Gegenwart problemlos Weiterungen, Steigerungen dieses Virtualisierungsprozesses finden. Abgesehen von Computerspielen, in denen wir auf Abenteuerreise gehen oder in virtuellen Welten virtuelle Alltagsprozesse durchspielen und durchleben, möchte ich nur auf das Web 2.0 verweisen. Dieses ist nun wirklich nicht nur an die Stelle der alten, widerständigen Welt getreten, sondern es ist sogar längst selbst eine Ersatzform der ‚alten‘ Lebenswelt geworden, in der sich Menschen noch als Menschen begegnen und nicht als Avatare.

Aber dennoch ist der von Anders beschriebene zweite Hunger, der Hunger nach Wirklichkeit, ein viel zu interessantes Phänomen, als daß man wie Anders dabei nur so kurz und relativ oberflächlich verweilen sollte. Schließlich eröffnet sich hier, wie Anders ausdrücklich festhält, „(e)ine gewisse Kluft zwischen angebotenem Produkt und Bedürfnis“; eine Kluft, die, so Anders, stets offenbleibt, denn „restlose Kongruenz der Nachfrage mit dem Angebot gibt es niemals.“ (Vgl. Antiquiertheit, S.171) Von einem nicht nur naht- und fugenlosen, sondern wie Zahnräder ineinandergreifenden Übergang zwischen Produkt und Konsument kann also keine Rede sein.

Was Anders hier entgeht, ist, daß dieser „Hiatus“, diese stets offenbleibende Kluft, so klein und fugenlos er sie sich auch denken mag, dennoch eine Kluft bleibt, eine Grenze zwischen Innen und Außen, an der sich bei Plessner die exzentrische Positionalität des Menschen zeigt. Deshalb mag die Virtualisierung der Lebenswelt noch so sehr die Welt zum Verschwinden bringen, – die Leiblichkeit des Menschen läßt sich nicht zum Verschwinden bringen, und diese wird immer als ein Stück nicht gemachter Welt in den künstlichen Produktionszusammenhang hineinragen. Wo sonst sollte der von Anders angesprochene zweite Hunger nach Selbstwirksamkeit herkommen? Dieser zweite Hunger würde sich selbst dann nicht endgültig stillen lassen, wenn wir den Menschen komplett genetisch manipulieren könnten, weil jede genetische Manipulation die Leiblichkeit des Menschen zugleich voraussetzen und erneuern würde, und der aus ihr, der genetischen Manipulation, hervorgegangene Mensch hätte wieder einen Leib und wäre damit exzentrisch positioniert.

So düster also die Virtualisierung der Lebenswelt (und ich meine Lebenswelt, nicht Welt) als Verhängnis über den Menschen gekommen sein mag, – seine Freiheit ist damit nicht beschädigt worden. Und diese Freiheit ist individuell und mit einem Niesen (Nishitani) oder mit einem Lachen oder Weinen (Plessner) jederzeit aufs Neue gegeben.

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