„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 7. Dezember 2010

Zum Zerfall der Autoritäten: der eigene Verstand

Helmuth Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit
bürgerlichen Geistes, Frankfurt a.M. 6/1998 (1935/59)
1. Die letzte Autorität
2. Der wissenschaftliche ‚Fortschritt‘
3. Lebenswelt und Nihilismus
4. Postscriptum: Resonanz

Daß Plessner keinen eigenen Begriff für die husserlsch-blumenbergsche ‚Lebenswelt‘ hat – zumindest soweit ich Plessner bislang gelesen habe (vielleicht kann mich da ja jemand eines besseren belehren) –, habe ich schon im letzten meiner Posts (vom 17.11.) zu den „Grenzen der Gemeinschaft“ angemerkt. Aber Plessner verwendet in dem genannten Buch die zum Lebensweltbegriff quer liegenden Begriffe der Gemeinschaft und der Gesellschaft. Auch der von Plessner verwendete Begriff der „Naivität“ beschreibt gewissermaßen die subjektive Innenseite der Lebenswelt, und hinsichtlich der Möglichkeitsbedingungen individueller Urteilskraft besonders aufschlußreich ist dabei Plessners Verhältnisbestimmung von Naivität und Reflexion bzw. Kritik (vgl. Grenzen, S.67), die ich als den kantischen ‚Mut‘ (Naivität), den eigenen Verstand zu gebrauchen (Reflexion), auslege.

Auch in „Die verspätete Nation“ finden sich zu diesem Problemkontext einige interessante Überlegungen, die vor allem mit den Philosophien von Kierkegaard und Nietzsche verknüpft sind. Plessner beschreibt Kierkegaards Philosophie als eine Form des Nihilismus, die ausgehend von der christlichen Glaubenshaltung alle religiösen und kirchlichen ‚Wahrheiten‘ radikal anzweifelt, bis der verzweifelnde Mensch ins entgöttlichte, sinnleere Nichts vorstößt und so vor die letzte Entscheidung gestellt wird: entgegen aller Absurdität der Existenz dennoch zu glauben: „Kierkegaards Bedeutung in diesem Zusammenhang liegt ... nicht darin, daß er als gläubiger Christ argumentiert, sondern in der Erarbeitung jener nihilistischen Grenzlage, von der aus er den Sprung in den christlichen Glauben wagt. Die Begegnung mit einer in jeder Hinsicht entgötterten und von jedem vernünftigen Halt befreiten Welt hat ausschließlich die Funktion, den Mensch auf sich selber in seinem bloßen Dasein zurückzuwerfen und zur Entscheidung zu zwingen, zur Entscheidung zwischen der realen Selbstvernichtung und dem Glauben.“ (Nation, S.171)

Wir sehen hier also den vereinzelten Menschen auf sich und seine Entscheidung gestellt, und damit haben wir eine Situation der individuellen Urteilskraft vorliegen, – auch wenn bei Kierkegaard von ‚Glauben‘ die Rede ist. Zu beidem brauche ich ‚Naivität‘, zum Dennoch-Glauben wie zum Mut, den eigenen Verstand zu gebrauchen. Nur daß wir es hier mit einer „zweiten Naivität“ zu tun haben, die „im Blick Nietzsches“, wie Plessner anmerkt, als „Wiederherstellung des ursprünglich natürlichen Zustandes“ beschrieben werden kann. (Vgl. Nation, S.174)

Was bei Nietzsche im Durchgang durch die tiefste Verzweiflung zu einer gewissen Leichtigkeit führt, zu einem neuen „guten Gewissen“ gleichermaßen selbstbewußten, wie sich selbst begrenzenden Handelns (vgl. Nation, S.174), steht bei Kierkegaard im Zeichen des tiefsten Lebensernstes, der mit dem endgültigen Auszug aus aller behaglichen Alltäglichkeit als „verdeckende(r) Umgänglichkeit und Verständlichkeit des Daseins“ verbunden ist. Die Lebenswelt ist für Kierkegaard keine Option mehr: also keine wechselseitige Ausgeglichenheit von Naivität und Reflexion, – der Ausbruch aus der Lebenswelt ist endgültig und „in vollem Maße ernst zu nehmen“. (Vgl.S.171)

Hier ist es letztlich wohl eine Frage der persönlichen Kraft, ob wir uns eher dem Kierkegaardschen oder eher dem Nietzscheschen Nihilismus zuneigen. Eins ist sicher: übermenschlich ist eher die Kierkegaardsche Christlichkeit als das Nietzschesche Heidentum. Aber es gibt noch andere Optionen, etwa den Weg des Buddha, den mittleren Weg zwischen Naivität und Kritik, ein Weg jenseits des Entweder-Oder und wohl auch nicht weniger heidnisch als Nietzsche.

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