„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 5. Dezember 2010

Zum Zerfall der Autoritäten: der eigene Verstand

Helmuth Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit
bürgerlichen Geistes, Frankfurt a.M. 6/1998 (1935/59)
1. Die letzte Autorität
2. Der wissenschaftliche ‚Fortschritt‘
3. Lebenswelt und Nihilismus
4. Postscriptum: Resonanz

Auch in diesem Post wird Plessner im Mittelpunkt stehen, und zwar mit einem Buch, das wieder – wie schon die „Grenzen der Gemeinschaft“ zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg – von einer zeitgeschichtlich aktuellen Thematik ausgeht: der Situation Deutschlands vor und nach dem zweiten Weltkrieg: mit Plessners „Die verspätete Nation“ (Nation). Allerdings habe ich nicht vor, dieses bemerkenswerte Buch mit möglichster systematischer Vollständigkeit zu besprechen. Vielmehr möchte ich einen Aspekt ins Zentrum stellen: die Frage nach der Möglichkeit von individueller Urteilskraft; die Frage nach der Möglichkeit also, dem eigenen Verstand zu trauen.

Diese Problematik hat mich schon immer fasziniert, seit ich Kants Beantwortung der Frage, was Aufklärung ist, kennenlernte: den Mut zu haben, den eigenen Verstand ohne Leitung durch einen anderen Verstand zu gebrauchen. In meinen bisherigen Posts bin ich schon mehrmals darauf eingegangen. Plessners Buch treibt nun die Problematik bis zu einer Grenze, an der jede Autorität schlechthin zweifelhaft wird, auch die des eigenen. Verstandes. Hierbei bedient sich Plessner einer Frageweise, die im weitesten Sinne als ‚historisch‘ gekennzeichnet werden kann. An dem Leitfaden der Frage nach dem Nationalcharakter der Deutschen entwickelt Plessner die ganze europäische und globale Geschichte der letzten fünfhundert Jahre, also der Neuzeit im eigentlichen Sinne.

Diese historische Frageweise unterscheidet sich von Plessners systematischen Büchern, die ich bisher besprochen habe und die von der leiblichen Verfaßtheit des Menschen ausgehen, also von der „Einheit der Sinne“ (Einheit) und von den „Stufen des Organischen“ (Stufen). Einige Aspekte der exzentrischen Positionalität wie z.B. die Expressivität werden aufgrund des anderen systematischen Leitfadens in „Die verspätete Nation“ anders behandelt, als in den genannten Werken. Ich werde auch darauf hier nicht näher eingehen. Im Vordergrund steht die Frage nach der letzten Autorität.

Dazu möchte ich aus den oben erwähnten persönlichen Gründen mit Kant beginnen. Bemerkenswerter Weise ist es gerade Kant, der trotz seiner optimistischen Antwort auf die Frage nach der Aufklärung eine Philosophie des notwendig falschen Bewußtseins entwickelt hat. (Vgl. Nation, S.131f.) Nach Kant ist das Bewußtsein aus zwei Gründen falsch: erstens, weil die Vernunft zwei Möglichkeiten beinhaltet, sie zu gebrauchen, eine theoretische, in der sie dem Verstand bei der naturwissenschaftlichen Untersuchung der Wirklichkeit methodisch zur Seite steht, und eine praktische, in der sie unserem Handeln die moralischen Maximen vorschreibt, nach denen es sich richten muß. (Vgl. Nation S.121ff.) Der Mensch neigt nun dazu, beide Möglichkeiten des Vernunftgebrauchs miteinander zu vermischen und die Unbedingtheit des moralischen Urteils im Handeln auf die Methodik der Wirklichkeitswahrnehmung und -befragung zu übertragen, so daß wir das, was wir naturwissenschaftlich über die Wirklichkeit wissen, fälschlicherweise für die Wirklichkeit selbst halten.

Diese Art des aus einem falschen Gebrauch der Vernunft hervorgehenden falschen Bewußtseins bedarf nun der ständigen Kritik, – der Ideologiekritik. (Vgl. Nation, S.119f.) Diese Ideologiekritik kommt dem am nächsten, was Kant als den Mut bezeichnet, den eigenen Verstand ohne Leitung durch einen anderen zu gebrauchen. Diese Kritik „ist nicht an Geschichte gebunden, weder im Gegenstand noch im eigenen Standort. Sie ist jederzeit möglich.“ (Nation, S.131) – Diese Kritik ist also jedermann zu jederzeit möglich, wie es in Kants Antwort auf die Frage nach der Aufklärung heißt: ohne Anleitung durch einen anderen Verstand.

Nun gibt es aber noch eine zweite Form des falschen Bewußtseins, die im Unterschied zur ersten Form, die immerhin durch beständige Wachsamkeit unter Kontrolle gehalten werden kann, notwendig falsch ist. Hierbei handelt es sich um den Verstand im engeren Sinne, der uns mit seinen Kategorien eine bestimmte Form der Wirklichkeit vorspiegelt, der wir durch keine Kritik und durch keine Wachsamkeit entkommen können. Bei dieser falschen Vorspiegelung von Wirklichkeit handelt es sich um den transzendentalen Schein (vgl. Nation, S.123), also um die erscheinende Wirklichkeit als wirkliche Wirklichkeit, als Ding an sich. Dieses falsche Bewußtsein ist „im Gegensatz zur Ideologie der Vernunft“ in Ordnung; wir dürfen und wir müssen sogar uns ihr unterwerfen, denn hier handelt es sich um die einzige Form von Wirklichkeit, die uns jemals ‚gegeben‘ sein wird. Wir haben keine andere! Diese Wirklichkeit ist „ganz genauso in Ordnung wie der Anblick einer ruhenden flachen Erdscheibe und einer sich bewegenden Sonne darüber.“ (Vgl. Nation, S.132)

Die Konsequenz dieser von Kant aufgedeckten Formen falschen Bewußtseins, insbesondere des notwendig falschen Bewußtseins, das unserem Verstandesgebrauch zugrundeliegt, ist nun allerdings schwerwiegend: „Ein viel fundamentalerer, viel folgenreicherer Verdacht steigt von hier auf, nicht mehr gegen die christliche Transzendenz, sondern gegen jede Objektivität und Wirklichkeitsüberzeugung, schließlich gegen den Wahrheitswert irgendeines Bewußtseins schlechthin.“ (Nation, S.132) – Denn wie kann man da noch guten Gewissens von ‚Aufklärung‘ sprechen, wenn wir uns zu dieser Aufklärung eines Verstandes bedienen müssen, der notwendig falsch ist?

Kants ideologiekritische Analysen des menschlichen Bewußtseins haben im Prozeß der Aufklärung, also der Auf- und Ablösung der kirchlichen, insbesondere römisch-katholischen Autorität einen umfassenden Verdacht gegen das Fundament dieses Prozesses bewirkt, so daß sich der Aufklärungsprozeß schließlich auch gegen sich selbst richten mußte. Das zeigt sich besonders deutlich bei den verschiedenen Versuchen, die Heilsgeschichte durch eine Geschichte der Menschwerdung, auf kultureller wie auch auf biologischer Ebene, zu ersetzen. Plessner beschreibt diese Versuche als eine Geschichte der „Verfalls- und Ersatzform(en) des heilsgeschichtlichen Bewußtseins“ (vgl. Nation, S.116), in der der Geschichtsprozeß insgesamt zu einem Stillstand kommt, zu einem Ende des Geschichtsprozesses.

Die „erste Verfallsstufe“ des heilsgeschichtlichen Bewußtseins, in der die göttliche Autorität abgelöst wird durch die Autorität des Geschichtsprozesses selbst, der aber immer noch am Heilsbewußtsein, d.h. an einer im preußischen Menschen sich vollendenden, insgesamt kosmologischen Entwicklung festhält, bildet das dialektische System von Hegel: „Für Hegel ist sie (die Geschichte – DZ) zu Ende. ... Die letzten Unruhemomente in der Dynamik der Idee sind verschwunden und getilgt. Auf ihnen beruhte Geschichte, und so kann es ‚Geschichte‘ in Zukunft nicht mehr geben. Der Mensch steht an der Schwelle eines zukunftslosen Stillstandes, da ihm zu tun nichts mehr übrig bleibt.“ (S.111) – An Hegel haben sich Kierkegaard und Marx geschult, die beide nicht mehr an den preußischen bzw. bürgerlichen Menschen glauben. Aber im Unterschied zu Kierkegaard hält Marx immer noch an einem Heilsbewußtsein fest.

Die zweite Verfallsstufe des heilsgeschichtlichen Bewußtseins besteht im bürgerlichen, von Darwin hergeleiteten evolutionären Fortschrittsoptimismus: „Die Fortschrittstheorie stellt die zweite Verfalls- und Ersatzform des heilsgeschichtlichen Bewußtseins dar.“ (Nation, S.113)) – Dieser Evolutionsprozeß transportiert zwar keine transzendenten Werte mehr, aber er läßt den Kapitalismus immerhin als biologisch gerechtfertigt erscheinen. Auf dieser Verfallsstufe haben wir also schon den bewußten Verzicht auf eine Heilsgeschichte vorliegen, aber der Geschichtsprozeß selbst taugt immer noch zur Rechtfertigung und Aufwertung des europäischen Sonderweges: „Im Geschichtsprozeß geschieht nicht noch ein Anderes und Eigentliches, für das nun erst die Philosophie die Augen öffnen müßte. In ihm erfüllt sich nichts.“ (Nation, S.113)

Die dritte und letzte Verfallsstufe des heilsgeschichtlichen Bewußtseins besteht im Nihilismus: „Nachdem Geschichte und Biologie ihre letzten romantischen Perspektiven durchschaut und verlassen haben, d.h. zu nüchternen Einzelwissenschaften geworden sind, die Geschichte ihren Europäismus und die Biologie ihren Anthropozentrismus sozusagen als Kinderkrankheiten überwunden haben, ist die letzte Schranke vor der totalen Relativierung des Menschen gefallen. Der Perspektivismus im Horizont der Geschichte und der Biologie, der Wettstreit der innerweltlichen Sehfelder ist da. Alle billigen Widerlegungen des Historismus und Biologismus, die nach dem Schema ablaufen: man kann nicht an der Idee der Wahrheit zweifeln, denn eben diese skeptische These macht selber den Anspruch auf Wahrheit, führen an dem unabweisbaren Faktum des Ideologieverdachts gegen das menschliche Bewußtsein vorbei.“ (Nation, S.137)

Philosophische Interpreten dieser Verfallsstufe sind Kierkegaard und Nietzsche. Und von ihnen her ergeben sich Ausblicke auf eine letzte Autorität, auf die Autorität des für sich selbst urteilenden und die Gültigkeit seiner Urteile und Handlungen selbst begrenzenden individuellen Menschen. Bevor ich darauf aber näher eingehe, möchte ich an dieser Stelle noch einmal kurz auf Kant verweisen.

Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten, menschliches Handeln zu begründen: von der Vergangenheit her (a) und auf die Zukunft hin (b). Von der Vergangenheit her versuchen wir die Gründe des menschlichen Handelns zu bestimmen, auf die Zukunft hin versuchen wir die Folgen des menschlichen Handelns zu rechtfertigen. Kant hat nun den rückwärts gerichteten Begründungsversuch, die „regressive Synthesis“ als einziges vernunftadäquates Begründungsverfahren bezeichnet, während es sich bei dem vorwärts gerichteten Begründungsversuch, der „progressiven Synthesis“, um ein „willkürliches und nicht notwendiges Problem der reinen Vernunft“ handelt, „weil wir zur vollständigen Begreiflichkeit dessen, was in der Erscheinung gegeben ist, wohl der Gründe, nicht aber der Folgen bedürfen.“ (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Werke in sechs Bänden, hrsg.v. Wilhelm Weischedel, Bd.II, Darmstadt 1983, S.403 (B438))

Regressive Begründungsverfahren sind natürlich zunächstmal historisch: im Sinne des rückwärts gerichteten Blicks des Historikers auf zurückliegende Entwicklungszusammenhänge, zu denen übrigens neben der Kulturgeschichte immer auch die Naturgeschichte gehörte. Sie sind aber nicht minder auch im engeren Sinne naturwissenschaftlich, insofern das rückwärts gerichtete Begründungsverfahren hier im Zeichen des Reduktionismus steht, also in der Rückführung der Phänomene auf ‚tiefer‘ liegende Ursachen.

Seit Kants Kritik des kosmologischen Gottesbeweises können Autoritäten nicht mehr durch Verweis auf metaphysische Quellen gerechtfertigt werden. Der Versuch, Autoritäten durch Verweis auf die Zukunft zu begründen, ist aber seit Kants Verdikt über die nicht vernunftsfähigen Folgen ebenfalls verwehrt, weil die Reihe der Folgen menschlichen Handelns ins Unabsehbare führt und deshalb der Willkür (z.B. im Sinne von Wahrsagerei) Tür und Tor öffnen. Wir kennen das aus der Politik: Politiker begründen ihre Haushaltspolitik immer gerne mit Verweisen auf die Zukunft, – die aber leider keiner kennt! Wenn also Bürger, vorzugsweise aus den unteren Einkommensschichten oder Sozialhilfeempfänger, Kürzungen in Kauf nehmen müssen, so müssen sie sich mit ungedeckten Schecks auf eine Zukunft trösten lassen, in der aufgrund der gegenwärtigen Haushaltspolitik alles besser sein wird. Kurz gesagt: der Demagogie sind hier keine Grenzen gesetzt.

Wenn nach rückwärts keine transzendenten Mächte und nach vorwärts keine bekannte Zukunft das gegenwärtige Handeln rechtfertigen können, so bleibt nur die Rückführung menschlichen Handelns auf die Reihe der empirischen Erscheinungen, die in den Aufgabenbereich der Naturwissenschaft fällt. Und genau diesen Rückführungsversuchen entsprechen die beschriebenen Verfallsstufen des heilsgeschichtlichen Bewußtseins. Hatte Hegel zunächst noch versucht, die Natur- und Kulturgeschichte des Menschen zu einem einzigen umfassenden kosmologischen Entwicklungsprozeß zusammenzufassen, so deutete man nach ihm die bürgerliche Gesellschaft im Rahmen einer biologischen Evolutionstheorie. War diese zunächst noch als Fortschrittsgeschichte gedacht, so wurde diese schließlich zu einem zufälligen, wertfreien, blinden Naturprozeß umgedeutet.

Der rückwärts, d.h. auf die Gründe gerichtete Prozeß der Entlarvung von Werten und Autoritäten kennt prinzipiell kein Ende: es wird immer noch ‚tiefer‘ liegende Ebenen unterhalb der derzeitig beobachtbaren und berechenbaren Erscheinungen geben, auf die diese zurückgeführt und in diesem Sinne ‚entlarvt‘ werden können. Was den Menschen und sein Verhalten betrifft, ist es derzeit die Neurophysiologie, die am tiefsten zu graben scheint, – doch schon taucht die Epigenetik der neurophysiologischen Mechanismen am Horizont auf, um diese in ihrer Mechanik erneut zu ‚entlarven‘ und auf etwas anderes zurückzuführen. Niemand kann zur Zeit ahnen, was auf die Epigenetik folgt.

Im Grunde ist es also insgesamt ein historischer, weil auf vorausliegende ‚Gründe‘ gerichteter Prozeß, der zunächst im Prozeß der Aufklärung von den Göttern und der Metaphysik auf die Ebene menschlichen Handelns zurückführt, dann aber dort nicht zur Ruhe kommt, sondern weiter auf unterhalb der Menschlichkeit liegende, materielle Ebenen vordringt. Insofern ist Plessners Buch „Die verspätete Nation“ von vornherein darauf angelegt, die eingangs angesprochene organische Ebene der Menschlichkeit hinter sich zu lassen und zum Nihilismus vorzudringen. Der Körperleib, das Thema der „Einheit der Sinne“ und der „organischen Stufen“, ist niemals nihilistisch. Nur dort, wo wir nach den Gründen fahnden, also die regressive Synthesis, ist der Nihilismus das unausweichliche Resultat.

Dennoch gibt es Stellen in diesem Buch, die über den Zerfall der Autoritäten hinausweisen auf eine letzte, unüberbietbare Autorität. So ist z.B. von der Nachkriegsgeneration als einer Generation die Rede, die aus allem rückwärtsgerichteten Traditionszusammenhang herausfällt: „Immer noch besser, einer Generation in vielleicht zu hohem Maße Selbständigkeit und Ursprünglichkeit einzuräumen, als sie ihr aus Schulmeisterei zu bestreiten. Dafür spricht schon die Tatsache, daß jede Generation zum erstenmal auf der Welt ist, daß sie von Unverhersehbarem bestimmt und bedrückt wird. ... Herausgehoben durch die Macht des Schicksals, durch die Größe des Unglücks hat sie Anspruch darauf, für sich gesehen zu werden.“ (Nation, S.159) – Mit anderen Worten: wir haben es mit einer Generation zu tun, auf die das Verfahren der regressiven Synthesis nicht mehr anwendbar ist, mit einer Generation, die sich nicht aus ihren ‚Gründen‘, also aus den Taten ihrer Vorfahren heraus ‚erklären‘ läßt. Was aber bleibt dieser Generation zu ihrem Selbstverständnis, wenn sie sich nicht auf die Trostlosigkeit ihrer Gegenwart beschränken lassen möchte? Mit Adorno können wir versuchsweise antworten: alles zu tun, daß sich Auschwitz nicht mehr wiederholen wird. Also: ihr Zukunftsbezug!

Und noch eine Bemerkung Plessners gehört in diesen Zusammenhang: der Hinweis auf die reservatio mentalis: „Gesehen auf dem Hintergrund einer Zeit, in der alles fraglich und unsicher geworden ist, bedeutet dieser letzte Vorbehalt die reservatio mentalis des persönlichen Geistes, der sich in der Verflachung durch Industrialismus, Staat, Politik und Wissenschaft die Würde und Unverlierbarkeit des Seins, das sich selbst und als Selbst besitzt, retten will. Gesehen auf dem Hintergrund der sich alles unterwerfenden Wissenschaft bedeutet die reservatio mentalis zugleich die Erkenntnis einer Grenze der Vergegenständlichung und Relativierung, eine äußerste Grenze für jede Zersetzung geistigen Lebens ...“ (Nation, S.185)

Hier haben wir einen Punkt, der aller historischen Relativierung und aller naturwissenschaftlichen Reduzierung, letztlich also dem Prinzip der regressiven Synthesis schlechthin widersteht: das Individuum in seiner Alleinstellung, als Unterbrechung der historischen und empirischen Reihen, als Selbstbesitz, – was letztlich nur heißen kann: als individuelle Urteilskraft, als Mut, sich seines eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen, also als letzte Autorität. Die Legitimität dieser Selbstermächtigung finden wir im Modell jener Nachkriegsgeneration, die „durch die Macht des Schicksals, durch die Größe des Unglücks ... Anspruch darauf“ erheben kann, „für sich gesehen zu werden“. Dieses Legitimationsprinzip finden wir wieder in Ulrich Becks Beschreibung der „Risikogesellschaft“. Denn auch hier haben wir es mit Generationen zu tun, deren Handeln die Zukunft aller nachfolgenden Generationen auf irreversible Weise bedingt. Was wir heute zu tun versäumen, wird die zukünftige Welt auf fundamentale Weise zu einer weniger menschlichen machen. Was wir heute tun – im eigenen Interesse und gegen die Interessen der Wachstums- und Konsumgesellschaft –, wird der künftigen Welt Möglichkeitsräume eröffnen, die sie menschlicher machen werden.

Kants Bewertung der regressiven und der progressiven Synthesis muß also umgekehrt werden. (Vgl. hierzu auch Wiesings Konzept der „inversen Transzendetalphilosophie“ in „Das Mich der Wahrnehmung“) Nicht die Gründe, die historisch in die Vergangenheit zurückführen und die die phänomenale Ebene menschlichen Handelns auf untermenschliche, biologische oder physikalische Mechanismen hin gleichzeitig unterschreiten und unterbieten, sind die eigentlich vernunftsfähigen, sondern der Blick auf die über das individuelle Handeln vermittelten Folgen, also die progressive Synthesis. Nur dort, wo wir auf diese Weise unsere Menschlichkeit bewähren, als reservatio mentalis – die Entwicklungspsychologie spricht hier auch von „Resilienz“ –, beweist sich die Vernunftsfähigkeit des Menschen.

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