„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 17. November 2010

Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt a.M. 2001 (1924)

1. Blutsgemeinschaft
2. Sachgemeinschaft
3. Gesellschaft
4. Lebenswelt und das „gemachte Bett der Alltäglichkeit“

Plessners Begriffe der Gemeinschaft und der Gesellschaft liegen quer zum Bedeutungsfeld des Lebensweltbegriffs, der in dieser Ausformulierung erst mit dem Beginn der 30er Jahre im Umkreis der Husserlschen Phänomenologie gebildet wurde. Einen kritischen Vergleich hinsichtlich des Lebensweltbegriffs, aus der Perspektive von Plessner, habe ich in meinem zweiten Post vom 8. August unternommen. Nun möchte ich das lebensweltliche Bedeutungsgeflecht der Plessnerschen Begrifflichkeiten kritisch beleuchten. Mir drängte sich bei der Lektüre der „Grenzen der Gemeinschaft“ der Eindruck auf, daß Plessners die menschliche Leiblichkeit fokussierende Anthropologie zu einem Heroismus von aus dem menschlichen Durchschnitt ‚herausragenden‘ Individuen verleitet, – in gewisser Weise eine weitere Spielform der ‚exzentrischen‘ Positionalität: eine Positionalität, die allerdings nicht alle Menschen gleichermaßen verbesondert, sondern nur eine besondere gesellschaftliche Elite betrifft. (Vgl. Grenzen, S.38f., 43, 69f., 78, 92) Ich habe jedenfalls den Eindruck gewonnen, daß es dabei nicht nur um eine nüchterne Beschreibung von Gemeinschaftsstrukturen geht, sondern um eine durchaus zustimmende Beschreibung notwendiger politischer wie gesellschaftlicher Handlungstypen.

Die Verknüpfung lebensweltlicher Phänomene mit einer derartigen elitären Verantwortungsethik wird im folgenden Zitat besonders deutlich: „Da die Menschen des Durchschnitts in der glücklichen Lage sind, keiner besonderen Entwicklung ihrer Seele zu bedürfen, und mit einem Minimum an Psychischem sich in die gemachten Betten der Alltäglichkeit legen können, wird sich das Getriebe durch sein eigenes Schwergewicht mehr als durch die individuelle Anspannung seiner Handwerker erhalten.“ (Grenzen, S.69)

Die „gemachten Betten der Alltäglichkeit“ und das „eigene Schwergewicht“ des „Getriebes“ sind wunderbare Metaphern für die alle Menschen gleichermaßen – ohne Unterschied der Herkunft, des Status und der Person – umfassende Lebenswirklichkeit der Lebenswelt. Diese reserviert Plessner nun im Unterschied zu Blumenberg ausschließlich für die „Menschen des Durchschnitts“, denen er „die heroischen Optimisten des Maschinenzeitalters“ gegenüberstellt (vgl. Grenzen S.38), die die Verantwortung für die gesellschaftliche Entwicklung übernehmen, als trüge nicht die Technik selbst zu der Aufrechterhaltung genau jenes „Getriebes“ bei, das Blumenberg als „Lebenswelt“ bezeichnet (vgl. meinen ersten Post vom 8. August) und das Plessner als gemachtes Bett der Alltäglichkeit beschreibt.

Gerade Plessners Zuordnung der Technik zur Gesellschaft zeigt, wie sehr seine Differenzierung zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft quer zum Lebensweltbegriff steht. Lebensweltlichkeit im eigentlichen Sinne müßte man nämlich vor allem der Gemeinschaft zuordnen, während die Technik als ‚Infrastruktur‘ eindeutig zur Gesellschaft gehört. Gemeinschaften brauchen keine ‚Infrastruktur‘, weil Unmittelbarkeit und Authentizität im Zentrum gemeinschaftlicher Beziehungsformen stehen, Infrastruktur aber genau jenes „offene System des Verkehrs zwischen unverbundenen Menschen“ (vgl. Grenzen, S.95) ermöglicht, als das Plessner die Gesellschaft definiert (vgl. Grenzen, S.80). Zugleich gilt aber Blumenbergs Feststellung, daß wir die Technik in der Art und Weise ihres Funktionierens nicht mehr durchschauen können und sie so zu einem Teil der unreflektierten Lebenswelt wird. (Vgl. Theorie der Lebenswelt, S.206f.) Man kennt den Spruch, daß gute Technik der Magie ähnelt. Wenn also Technik als Infrastruktur der Gesellschaft zuzuordnen ist, in ihrem unreflektierten, undurchschaubaren Mechanismus aber ein Moment der Lebenswelt ist, so gehört auch die Gesellschaft zur Lebenswelt, so wie die Gemeinschaft.

Das macht auch Plessners mit der Differenzierung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft zusammenhängende Differenzierung von menschlichen Persönlichkeitstypen fragwürdig. Denn sowohl die Gemeinschaftsmenschen (als Durchschnittsmenschen) als auch die Gesellschaftsmenschen (Politiker, Diplomaten und Kulturheroen des tänzerischen Geistes und des Taktes), ein Typus, dem Plessner auch die Sachgemeinschaft zuordnet, gehören gleichermaßen einer undurchschauten Lebenswelt an, – gleichgültig, ob wir sie als ‚Gemeinschaft‘ oder als ‚Gesellschaft‘ kennzeichnen. Alle Menschen sind gleichermaßen der Lebenswelt verbunden und in ihr befangen. Kein Intellektueller und kein Kulturheroe kann sich kraft eigener Entscheidung aus der Lebenswelt befreien. Das ist auch der Grund, warum Blumenberg glaubt, von so etwas wie einer „Autodestruktion“ der Lebenswelt ausgehen zu müssen, weil sonst die Geschichtlichkeit des Menschen nicht zu ihrem Recht käme: Geschichte kann der Mensch nur haben, wenn er die Lebenswelt verläßt. Dabei übersieht Blumenberg wiederum die exzentrische Positionalität des Menschen, wie sie Plessner beschrieben hat und die den Menschen immer schon aus seiner Lebenswelt herausfallen läßt.

Die Herausforderung, die in diesen unterschiedlichen Anthropologien der Lebenswelt und der exzentrischen Positionalität liegt, besteht nun meiner Ansicht nach darin, zu zeigen, daß beide – Blumenberg und Plessner – Recht haben. Dabei muß aber vermieden werden, die Menschen in zwei Klassen zu teilen, von denen die einen unbewußt bleiben und ‚dienen‘ und die anderen ‚führen‘ bzw. ‚herrschen‘. (Vgl. Grenzen, S.38f.)

Eine mögliche Antwort auf diese Herausforderung sehe ich in Plessners arbeitsteiliger Differenzierung zwischen „Naivität“ und „Reflexion“. (Vgl. Grenzen, S.67) Als Naivität bezeichnet Plessner die vitale Lebenskraft des Menschen, die ihm hilft, sein Leben zu leben, ohne zurückzuschauen: „Nur was vom Leben fort lebt, wahrt ihm seine Kraft; wer zu ihm zurückschaut fällt der Erstarrung anheim.“ (Grenzen, S.30) Die Naivität entspricht der seelischen Wirkungsweise, die im Verborgenen wirkt und an Spontaneität und Kreativität verliert, je mehr sie an Sichtbarkeit und Ausdruck gewinnt. Das „Gesetz der Naivität“ besteht darin, das Bewußtsein des Menschen von allen lebenshinderlichen Erfahrungen, Reflexionen und Umständen zu entlasten, sie ins Unbewußte absinken zu lassen, als gewissermaßen sich ständig vergrößernde Basis einer Pyramide, deren Spitze unser Bewußtsein bildet: „Als aktive Wesen müssen wir den Abgrund der Vergangenheit wie unserer Zukunft, den Reichtum der Zeit und des Raumes zudecken, und nur soviel davon übrig lassen als wir brauchen. Hierin liegt das Gesetz der Naivität beschlossen. Je mehr der Mensch von sich fortlebt, desto ursprünglicher weiß er sein Leben zu gestalten. Ungebrochen strömt die Energie in seine Taten ein und verleiht ihnen Frische und fortwirkende Kraft. Die Tatbereitschaft wächst mit der Unbewußtheit.“ (Grenzen, S.66)

Die so beschriebene ‚Naivität‘ entspricht in ihrer Wirkungsweise nun exakt der Husserlschen Lebenswelt. Und erstaunlicherweise läßt sich diese Naivität, die ja letztlich die seelische Sphäre meint, auch mit der exzentrischen Positionalität vereinbaren, denn was von diesem gigantischen unbewußten Potential zum Ausdruck kommt, im Sinne eben der expressiven Struktur der menschlichen Exzentrizität, bleibt immer unvollständig und fragmentarisch, und es hat gerade in dieser Gebrochenheit des Ausdrucks seine Form, in der es sich zeigt. Denn fände die Seele ihren vollständigen, ihr vollkommen adäquaten Ausdruck, so gäbe sie sich darin völlig auf; sie löste sich als Seele auf und wäre nicht mehr.

Letztlich ist es doch erstaunlich wie das Husserlsche Konzept der Lebenswelt und Plessners Konzept der exzentrischen Positionalität zusammenpassen! Wie steht es aber nun mit Plessners Zweiteilung der Menschheit in Gemeinschaftsmenschen und Gesellschaftsmenschen? Diese Zweiteilung ist sogar nach Plessners eigener Anthropologie völlig überflüssig, – abgesehen davon, daß ich sie auch für politisch wie pädagogisch für wirklich verheerend halte. Nach Plessners eigenen Worten „strebt der Mensch ... nach zwei Seiten, in die Unbewußtheit, Ursprünglichkeit, Naivität und in die Bewußtheit, in das Raffinement der Überlegung, der Selbstbeobachtung und Selbstbeherrschung.“ (Vgl. Grenzen, S.66) Diese Arbeitsteilung zwischen Naivität und Reflexion beinhaltet keine Arbeitsteilung der Persönlichkeiten, daß also die einen, die Gemeinschaftsmenschen, „in die Unbewußtheit, Ursprünglichkeit, Naivität“ und die anderen, die Gesellschaftsmenschen, „in die Bewußtheit, in das Raffinement der Überlegung, der Selbstbeobachtung und Selbstbeherrschung“ streben. Vielmehr ist es so, daß sich alle Menschen immer schon in „Rücksicht auf Erkenntnis“ „in dem Antagonismus von Eitelkeit und Schamhaftigkeit“ und in „Rücksicht auf Praxis in dem Antagonismus von Naivität und Reflexion“ befinden (vgl. Grenzen, S.67), und zwar nicht je nach Persönlichkeitstyp, sondern eben als Mensch!

Und gerade der Antagonismus von Naivität und Reflexion ist es, der uns etwas über die Unangemessenheit jedes Heldentums, insbesondere des Führertums zu lehren vermag. Dieser Antagonismus steckt nämlich schon in der Kantischen Formel für Aufklärung, d.h. in dem Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, ohne sich der Autorität eines anderen Verstandes zu unterwerfen. ‚Verstand‘ heißt in diesem Fall ‚Reflexion‘, also die Fähigkeit, die scheinbar offensichtlichen Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, also das, was alle anderen für richtig halten, auf die Probe zu stellen. Kurz: einen Blick über den Vorgartenzaun der Lebenswelt zu werfen.

Aber woher kommt die Kraft, diesen Blick über den Zaun zu riskieren? Aus der Naivität natürlich, oder anders formuliert: aus dem naiven Mut, innezuhalten, wenn man etwas nicht verstanden hat, zurück zu fragen, auch wenn unser Gegenüber so liebenswert, so überzeugend und so einschüchternd zu ‚argumentieren‘ scheint, daß wir uns dumm vorkämen, wollten wir ihm widersprechen. Genau dafür braucht es Mut. Und für diesen Mut braucht es wiederum Naivität, denn wer von all’ den klugen, ironischen, zynischen ‚Intellektuellen‘ wäre schon bereit, zu glauben, daß es so etwas wie Spontaneität und individuelle Urteilskraft überhaupt geben kann? Der Zweifel, die Reflexion, ist die Sache des Geistes. Der Glaube aber, daß man selbst etwas wissen kann, daß man selbst etwas bewirken kann, – das ist die Sache der Naivität und damit etwas Seelisches. Kant aber war so naiv, hier von Verstand zu sprechen.

Das alles steckt hinter dem Antagonismus von Naivität und Reflexion: der Antagonismus von Seele und Geist, – auf der Basis unserer Sinnesorgane, und damit wären wir beim kantischen Verstand.

Genau hier aber habe ich ein weiteres Problem mit Plessner. Außer Kant wüßte ich keinen in der Philosophiegeschichte, der den Verstand des Menschen so gestärkt hat, wie Rousseau. Was aber weiß Plessner zu Rousseau zu sagen? Plessner macht aus Rousseau „etwas Furchtbares“, nämlich einen radikalen Rationalisten, was ich überhaupt nicht nachvollziehen kann. (Vgl. Grenzen, S.25) Es sei denn, der Mut, den eigenen Verstand zu gebrauchen, beinhaltete einen solchen Radikalismus.

Plessner könnte aber in Rousseau einen Verbündeten haben, denn in allen seinen wesentlichen Aussagen finde ich Entsprechendes bei Rousseau. Stattdessen wiederholt Plessner zu Rousseau nur die verbreiteten Halbwahrheiten und Unrichtigkeiten á la „Rückkehr zum entkomplizierten Urleben“ (vgl. ebenda), also jener ominösen (weil nirgendwo bei Rousseau vorfindbaren) „Rückkehr zur Natur“. Alles Vorwürfe, die noch nie gestimmt haben und durch die ständigen Wiederholungen auch nicht richtiger werden. Dabei hätte Plessner gerade von Rousseaus Konzept der Stärke und Schwäche als einem Naturprinzip der Bedürfnisbefriedigung viel lernen und für sich übernehmen können. Bei Rousseau haben wir es hier mit einem egalitären Prinzip der Menschwerdung zu tun, das alle Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten unabhängig von ihren individuellen Persönlichkeiten auf eine Stufe stellt. Stark ist, wer seine Bedürfnisse ohne Hilfe von anderen (wie war das noch mit dem Verstand? – Hat Kant hier von Rousseau gelernt?) selbst zu befriedigen vermag. Schwach ist, wer zur Befriedigung seiner Bedürfnisse der Hilfe seiner Mitmenschen bedarf. Bei Plessner ist stark „wer die Gesellschaft beherrscht, weil er sie bejaht“, und schwach ist, „wer sie um der Gemeinschaft willen flieht, weil er sie verneint.“ (Vgl. Grenzen, S.31f.) Ein im Vergleich mit Rousseau völlig verdrehtes Konzept von Stärke und Schwäche, bei dem es nicht verwundert, daß es zu einem elitären Prinzip ausgebaut wird, zu einem „Ethos der Herrscher und Führer“. (Vgl. Grenzen, S.38)

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