„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 16. November 2010

Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt a.M. 2001 (1924)

1. Blutsgemeinschaft
2. Sachgemeinschaft
3. Gesellschaft
4. Lebenswelt und das „gemachte Bett der Alltäglichkeit“

In den beiden Formen der Gemeinschaft, der Blutsgemeinschaft als Existenzgemeinschaft und der Sachgemeinschaft als Leistungsgemeinschaft, „bezahlt der Mensch mit seiner individuellen Persönlichkeit“ (vgl. Grenzen, S.56). Da dem seelischen Bedürfnis nach adäquatem Ausdruck mit beiden Gemeinschaftsformen auch nicht geholfen ist und jeder gefundene Ausdruck seelisches Innerstes ans Tageslicht zerrt und auf eine bestimmte Form einschränkt, gibt es Plessner zufolge nur eine Möglichkeit: an die Stelle des Lebensernstes der Blutsgemeinschaft und an die Stelle der kalten Funktionalität der Sachgemeinschaft den Unernst, das Spiel zu setzen. Nach Plessner ist die Gesellschaft der Spielraum, in dem sich die Seele individualisieren kann, ohne sich dabei auf eine gefundene Form festlegen zu müssen: „Die Gesellschaft lebt vom Geist des Spieles. Sie spielt die Spiele der Unerbittlichkeit und die der Freude, denn in Nichts kann der Mensch seine Freiheit reiner beweisen als in der Distanz zu sich selbst.“ (Grenzen, S.94)

In der Gesellschaft gelingt dem Geist das Kunststück, die seelischen und die körperlichen Bedürfnisse miteinander auszugleichen, indem er durch Distanzierung Raum schafft für die Verbindung des „vitalen physischen Spieltrieb(s)“ mit der „dialektische(n) Dynamik des Psychischen“, die „die nach Entladung verlangenden Spannungen der leiblichen Daseinssphäre, da sie mit ähnlichen Formen begabt ist, sozusagen auf höherer Ebene auffängt“ und so „deren mächtige(n) Energien“ benutzt, „um den Menschen als Einheit von Leib, Seele und Geist zu befriedigen“ (vgl. Grenzen, S.94).

Der Spielraum, den die Gesellschaft bietet, bildet eine im Unverbindlichen bleibende Öffentlichkeit, ein „offene(s) System des Verkehrs zwischen unverbundenen Menschen“, in dem die Menschen keine bestimmten Werte miteinander teilen müssen, das aber dennoch aufgrund allgemeiner Werte, die nicht eigens bezeugt und geglaubt werden müssen, eine bestimmte „Ordnung des Verkehrs“ beinhaltet. (Vgl. Grenzen, S.95) In der Öffentlichkeit treten sich die Menschen deshalb nicht als Menschen, als die Personen, die sie sind, gegenüber, sondern als Funktionäre und Amtspersonen: „Eine zwiefache Gebrochenheit steckt in dem Gebaren der Öffentlichkeit, die Unausgleichbarkeit des Gegensatzes von Situation und Norm und Privatperson und ‚Amts‘person, Mensch und Funktionär“ (Grenzen, S.96), – eine Gebrochenheit, die schon Rousseau als Mensch/Bürger-Aporie beschrieben hat.

Es ist diese Gebrochenheit, die das Tragen von Masken, das Spielen von Rollen zum Wesensprinzip des Verhaltens in der Öffentlichkeit macht, die wiederum das Verhalten in der Öffentlichkeit so erst eigentlich zum Spiel werden lassen. Die schon erwähnte Distanz nicht nur zu sich selbst, sondern auch zum anderen Menschen, und nicht nur zum anderen Menschen, sondern auch zu sich selbst, die „Unausgleichbarkeit“ zwischen Mensch und Funktionär, nimmt dem Selbstausdruck, der Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit das Schicksalhafte, läßt sie im Letzten immer noch offen, für einen neuen Versuch, für einen neuen Einsatz, für ein neues Spiel.

Indem also dem gesellschaftlichen Verkehr, der Öffentlichkeit der letzte Ernst der Selbstverwirklichung genommen ist und sich die Menschen dort nicht als Privat-, sondern als Amtspersonen begegnen – ‚Amt‘ im weitesten, im Rousseauschen Sinne als ‚Bürger‘ genommen –, sind die realen Personen „irrealisiert“: „In der Öffentlichkeit ... hat Überzeugung keinen Platz mehr. Ihre Vorgänge vollziehen sich zwischen irrealisierten Funktionsträgern, die ihr Gebaren nicht nach dem Gesinnungswert, sondern nach der geschäftlichen Bedeutung beurteilen.“ (Grenzen, S.101)

In der Öffentlichkeit leben die Menschen nun ein zweites, ‚unernstes‘, unwirkliches Leben, das sie den Erwartungen der Öffentlichkeit an sie anpassen. Dabei bemühen sie sich, wie Plessner es ausdrückt, eine „Linie“ einzuhalten, „welche der Resultante aus den verschiedenen Rücksichten auf Wert oder Mensch und auf Nimbus entspricht.“ (Vgl. Grenzen, S.96) Gemeint ist damit ein Lebenslauf, wie man ihn Bewerbungen beifügt, also auch eine Art ‚Ausdruck‘ unserer selbst, der den Erwartungen der Öffentlichkeit an das Individuum entspricht. Plessner bezeichnet diese Linie auch als „Nimbus“ und als „Prestige“. Dabei versuchen wir, nachträglich unsere Taten im Sinne der öffentlichen Funktionserwartungen an uns – z.B. eines Arbeitgebers an einen Bewerber – eindeutiger erscheinen zu lassen, als sie es tatsächlich sind. (Vgl. Grenzen, S.88)

Letztlich zwingt also die Gesellschaft ihre Mitglieder, sich im wechselseitigen Umgang zu ‚individualisieren‘, indem sie einander bestimmte ‚Seiten‘, also Masken zuwenden. Zugleich sind diese Masken aber wertneutral, insofern sie zwar ‚Geltung‘, eben Prestige und Nimbus, beanspruchen, aber doch keine verbindlichen Wertüberzeugungen zum Ausdruck bringen. Hier siegt mit einer Vielfalt individuellen Ausdrucks im gesellschaftlichen Verkehr das Spiel „ über den Ernst“ (vgl. Grenzen, S.38). Als solcher Spielraum ermöglicht die Gesellschaft einen „tänzerischen Geist“, ein „Ethos der Grazie: das gesellschaftliche Benehmen, die Beherrschung nicht nur der geschriebenen und gesetzten Konventionen, die virtuose Handhabung der Spielformen, mit denen sich die Menschen nahe kommen, ohne sich zu treffen, mit denen sie sich voneinander entfernen, ohne sich durch Gleichgültigkeit zu verletzen.“ (Vgl. Grenzen, S.80) – In Anlehnung an das „Noli me tangere“ der Seele bezeichnet Plessner dieses „Benehmen“ feinsinnig als „Takt“, das vom Lateinischen her auf die vermiedene ‚Berührung‘ verweist. (Vgl.S.105f.)

Genau diesen tänzerischen Geist, diesen Unernst, verachtet der Gemeinschaftsmensch, und mit ihr verachtet er auch die ‚individualisierten‘ Funktionsträger, die – so Plessner – in einem heroischen Akt die ganze Last zivilisatorischer Folgeprobleme, die „unendlich zu steigernde Anspannung des Intellekts“, die „Bejahung“ der „Maschinen“ mit ihren sozialen Folgen, „die ganze Pflichtenlast der Zivilisation“ (vgl. Grenzen, S.38) übernehmen und gewissermaßen stellvertretend für all die Privatmenschen, die sich den Luxus einer moralischen Prinzipientreue, den Luxus einer persönlichen Authentizität leisten dürfen, auf sich nehmen und verwalten. (Vgl. ebenda) Die Politiker und ‚Führer‘ treffen die notwendigen, moralfernen Entscheidungen, vor denen der Privatmensch zurückschreckt. Den „Herrschern und Führern“ spricht Plessner ein „Ethos“ zu, das „(n)icht als Tugend aller gedacht“ ist (vgl. ebenda), also eine Spezialtugend, – die deshalb, sokratisch genommen, keine Tugend ist. Für alle anderen gilt: „Die Mehrzahl bleibt unbewußt und soll es bleiben, nur so dient sie.“ (Grenzen, S.38f.)

So teilt Plessner also die Menschen letztlich in zwei Klassen, in die unbewußt bleibenden Gemeinschaftsmenschen und in diejenigen, die den Mut und die Stärke aufbringen, „aus der Verzweiflung einer Innerlichkeit sich zu erlösen, von der Sphäre der Lebensgemeinschaft in die der Gesellschaft über(zu)gehen, um schließlich in der Sphäre der Sachgemeinschaft des Geistes und der Kultur die definitive Ruhe (ihres) Selbstbehauptungsdranges zu finden.“ (Vgl. Grenzen, S.92) Es gibt die „Menschen des Durchschnitts“. die „in der glücklichen Lage sind, keiner besonderen Entwicklung ihrer Seele zu bedürfen“ (vgl. Grenzen, S.69), und diejenigen die „zu voller Bewußtheit durchdring(en)“ und sich der Verantwortung stellen (vgl. Grenzen, S.39), „die heroischen Optimisten des Maschinenzeitalters“ (vgl. Grenzen, S.38).

An dieser Stelle setzt meine Kritik an Plessner ein, und dieser Kritik werde ich mich im nächsten Post zur Lebenswelt und dem „gemachten Bett der Alltäglichkeit“ zuwenden.

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