„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 15. November 2010

Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt a.M. 2001 (1924)

1. Blutsgemeinschaft
2. Sachgemeinschaft
3. Gesellschaft
4. Lebenswelt und das „gemachte Bett der Alltäglichkeit“

Es gibt aber nicht nur eine Grenze der Gemeinschaft nach außen, in der die Liebesmöglichkeit mit wachsender Zahl und Distanz Ihrer Mitglieder untereinander abnimmt und schließlich verschwindet. Es gibt auch eine Grenze innerhalb der Gemeinschaft selbst, nach der sich zwei verschiedene Gemeinschaftsformen ausdifferenzieren lassen. Hat nämlich die Blutsgemeinschaft als wechselseitige Liebesgemeinschaft eher enge Grenzen, so läßt sich die Idee der ‚Bluts‘-Verwandtschaft auf die ganze Menschheit ausdehnen. Das alle Menschen verbindende Prinzip besteht dann in der Gattung selbst, in der Menschlichkeit bzw. Humanität. (Vgl. Grenzen, S.49f.)

So kann an die Stelle der „Personmitte“ in der über die Liebe vermittelten Blutsgemeinschaft die „unpersönliche Sachmitte“ treten: „... die einheitliche Menschennatur verbürgt ... in allen Streitfällen gewaltlose Einigung durch das Mittel der Überzeugung. So liegt im Medium der Vernunft und des Verstandes, in dem schließlich alle Überzeugungen gesucht und gefunden werden müssen, das verbindende Element der Menschheit.“ (Grenzen, S.50) – Dabei kommt es weniger auf die Überzeugungen als solche an als vielmehr auf die Mittel, d.h. daß überhaupt argumentiert wird. (Vgl. Grenzen, S.51)

Kommt also in der Blutsgemeinschaft der Liebe vor allem die Seele zu ihrem Recht, so ist die Sachgemeinschaft das Medium des Geistes: „„Wenn sich einzelne Menschen einigen, und wir erleben das täglich in der Wissenschaft, im Rechtsleben, ja selbst im Kunstgenuß, wenn die ganze Fülle der Werte unseres Denkens, Fühlens, Wollens bindend in Aktion tritt, echte Wirkung vom einen zum andern über das überpersönliche Sachzentrum des Wertgehalts möglich ist, dann gibt es echte Gemeinschaft und sie ist grenzenlos ausdehnungsfähig, wie der Geist, wie die Möglichkeit, in irgendeinem Sinne zu überzeugen, grenzenlos ist.“ (Grenzen, S.51)

Mit der Blutsgemeinschaft im engeren Sinne teilt die Sachgemeinschaft, daß ihre Glieder auf ihre Individualität verzichten: „Gemeinschaft, nach dem Sinne des Blutes wie der Sache, wurzelt in schrankenlosem Vertrauen ihrer Glieder. Von demselben durchdrungen, zu wissen, daß man dazugehört kraft Geburt, Einweihung, Überzeugung, Wahlverwandtschaft, bedeutet Geborgenheit im Gemeinschaftskreis den Verzicht auf Behauptung des eigenen Selbst. ... Gemeinschaft des Blutes fordert Preisgabe letzter Intimität, weil das Ganze aus substantiellen Beziehungen von Person zu Person, um personhafte Mitte geschart, die jedem Gliede unvertretbare Stellung verleiht, in pulsierender Lebendigkeit sich aufbaut. Gemeinschaft der Sache schont die Intimität der Personen, die ohne Stellenwert, gänzlich vertretbar, in dem bloßen Hingeordnetsein auf die Sache zur funktionellen Einheit der Leistung zusammengeschlossen sind. Hier wie dort bezahlt der Mensch mit seiner individuellen Persönlichkeit, doch in verschiedenem Geist, den Eingang in die Gemeinschaft.“ (Grenzen, S.56)

An die Stelle unverwechselbarer, seelischer Einzigartigkeit treten mit Verstand und Vernunft geistige Qualitäten, die die Menschen im Sinne einer allgemeinen Menschennatur alle gemeinsam haben. (Vgl. Grenzen, S.51f., 56) Dadurch wird das gemeinsame Fundament der Sachgemeinschaft unpersönlich und unendlich ausdehnungsfähig und die Gleichberechtigung aller Mitglieder wird über deren Leistungsfähigkeit, über die Funktionalität vermittelt. Die Sachgemeinschaft bildet keine „Existenzgemeinschaft“, sondern eine „Leistungsgemeinschaft“. (Vgl. Grenzen, S.52)

Während die Blutsgemeinschaft ihre Grenze also im Wachstum nach außen hat, in Richtung auf die Gesellschaft, hat die Sachgemeinschaft ihre Grenze in Richtung auf die „individuelle Lebenswirklichkeit“, auf die persönliche Existenz ihrer Mitglieder (vgl. Grenzen, S.53): „In der Konfrontation der beiden Ideale des Gemeinschaftsethos zeigen sich die Wesensgrenzen, die jeder Panarchie der Gemeinschaft im Wege sind: die Unaufhebbarkeit der Öffentlichkeit und die Unvergleichlichkeit von Leben und Geist. Öffentlichkeit beginnt da, wo Liebe und blutsmäßige Verbundenheit aufhören. Sie ist der Inbegriff von Möglichkeitsbeziehungen zwischen einer unbestimmten Zahl und Art von Personen als ewig unausschreitbarer, offener Horizont, der eine Gemeinschaft umgibt.“ (Grenzen, S.55) – In ihr weht „kalte, dünne Luft“, der „Hauch des Geistes“. (Vgl. Grenzen, S.52)

Die im letzten Post angesprochenen wesentlichen Unterschiede im Gemeinschaftsbegriff der Nationalsozialisten und der Kommunisten lassen sich also daran festmachen, daß erstere auf der seelischen Klaviatur der Blutsgemeinschaft im engeren Sinne spielten, während die Kommunisten für sich die intellektuellen Qualitäten einer Sachgemeinschaft in Anspruch nahmen, wie ja überhaupt der Kommunismus sich immer gerne als Wissenschaft verstanden hat und versteht. Beide aber nutzen den Gemeinschaftsbegriff als radikalisierendes Instrument, um damit die eigene Macht gesellschaftlich zu monopolisieren und überhaupt die Gesellschaft in den Dienst ihres partikularen gemeinschaftlichen Ethos zu stellen, – partikular auch dort, wo der Kommunismus die Menschheit insgesamt für seine Sache in Anspruch nimmt. Zwar hat die Sachgemeinschaft den Vorzug, die „Intimität der Personen“ zu schonen, aber hier wie dort „bezahlt der Mensch mit seiner individuellen Persönlichkeit, doch in verschiedenem Geist, den Eingang in die Gemeinschaft.“ (Vgl. Grenzen S.56)

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