„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 14. November 2010

Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt a.M. 2001 (1924)

1. Blutsgemeinschaft
2. Sachgemeinschaft
3. Gesellschaft
4. Lebenswelt und das „gemachte Bett der Alltäglichkeit“

Plessners „Grenzen der Gemeinschaft“ (1924) liest sich wie eine aus aktuellem Anlaß geschriebene, zwischen den systematischen Gedankengang von „Die Einheit der Sinne“ (1923) und die „Stufen des Organischen“ (1928) eingeschobene Gelegenheitsschrift, in der der tragende Grundgedanke einer dreifach zu differenzierenden Einheit der Person zwar überall präsent ist, aber die systematische Rückführung dieser dreifachen Einheit auf die exzentrische Positionalität noch nicht bis zur letzten Konsequenz durchgeführt ist. Der Körperleib und der Geist kommen hier nur am Rande vor, während die Seele in den Fokus der Analyse gerückt wird.

Diese noch nicht zu Ende geführte Systematik beinhaltet einige Verkürzungen, was die Expressivität des Menschen und sein Verhältnis zur Geschichte betrifft. Ist die Expressivität des Menschen in den „Stufen“ aufs Engste mit der Gebrochenheit und Indirektheit der menschlichen Existenz verbunden, so daß diese Gebrochenheit und Indirektheit geradezu die Grundform bilden, in der er sich selbst zum Ausdruck bringt, ohne in dem jeweils gefundenen Ausdruck zur Ruhe zu kommen, woraus eine Kultur-Geschichte der Ausdrucksformen hervorgeht, in denen der Mensch sich vor sich selbst verständlich zu werden versucht, so gesteht Plessner in den „Grenzen“ nur den Tieren echte Expressivität zu, weil die Gebrochenheit und Indirektheit der menschlichen Existenz jede gelingende Expression im vorhinein verunmöglicht: „... käme es auf nicht mehr als Expression an, so bliebe die Natur besser bei den elementaren Lebewesen und ersparte sich die Gebrochenheit des Menschen. Wo finden wir noch solchen Ausdruck reinsten Jubels, reinster Trauer als bei einem Hunde, wo solchen Adel der Haltung als beim Pferde, wo solche göttliche Gewalt als im Haupt des Rindes? Lachen und Weinen des Menschen, sein Minenspiel erschüttern erst da, wo sie die Eindeutigkeit der Natur und des Geistes hinter sich gelassen haben und von jener Unfaßlichkeit umwittert sind, die den Abgrund ahnen läßt, ohne ihn zu öffnen.“ (Grenzen, S.106)

Das Bedürfnis des Menschen nach Geschichte führt Plessner in den „Grenzen“ nicht auf seine spezifische Expressivität zurück, sondern er versteht sie als ein Epiphänomen diplomatischer Aushandlungsprozesse, vor dem Hintergrund einer Militärgeschichte, die mit Kultur nicht das Geringste zu tun hat: „Politik ist immer für eine besondere Lage spezifizierte Diplomatie. Sie braucht also Geschichte, d.h. Einheit des sinnvollen Zusammenhanges zwischen ihren augenblicklichen mit ihren vergangenen Entschlüssen, wie sie selbst, indem sie vergeht, zur Geschichte wird. In dieser höchsten Konzentration gibt es nur eine politisch-militärische Geschichte und keine Kulturgeschichte.“ (Grenzen, S.124)

Weiter auseinander können die grundlegenden Aussagen zur Expressivität und Geschichtlichkeit des Menschen in den „Grenzen“ und in den „Stufen“ kaum treten. Dennoch bieten die „Grenzen“ erhellende Einblicke in Plessners Konzept von der ‚Seele‘. Weder in der „Einheit der Sinne“ noch in den „Stufen“ geht Plessner so detailliert auf die speziellen Bedürfnisse dieses „Zwischenreiches“ (Grenzen, S.79) ein. Manches, was mir in diesen Schriften noch dunkel geblieben ist, ist mir erst beim Lesen der „Grenzen“ wirklich verständlich geworden.

Der aktuelle, zeitgeschichtliche Anlaß für diese Schrift sind die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Den Kern dieses bürgerkriegsähnlichen Konflikts führt Plessner auf den unterschiedlichen Gemeinschaftsbegriff zurück, den Nationalsozialisten und Kommunisten vertreten. Man könnte auch noch weiter gehen und auf große Teile der reformpädagogischen Bewegung verweisen, in der der Gemeinschaftsbegriff und seine unterschiedlichen Definitionen ebenfalls eine zentrale Rolle spielt.

Plessner führt die Sozialform der Gemeinschaft auf ein Grundbedürfnis der Seele zurück, das zugleich eine Grundangst der Seele beinhaltet, was die Gemeinschaft zu einer höchst ambivalenten Angelegenheit macht: die Seele will als Individualität gesehen und anerkannt werden und sucht deshalb nach außen den ihrer Individualität entsprechenden, adäquaten Ausdruck. Da aber jeder Ausdruck aufgrund der Gebrochenheit und Indirektheit der menschlichen Existenz (vgl. Grenzen, S.106) zweideutig ist und deshalb mißverstanden werden kann (vgl. Grenzen, S.79) und die „seelische Seinsfülle“ außerdem „sich nie im Gewordenen“ erschöpfen kann, sondern nach jeweils gefundener Form erneut ins Werden übergehen muß (vgl. Grenzen, S.62), sucht sie nach gleichermaßen rückhaltloser wie grundloser Anerkennung in der Intimität der Gemeinschaft, die nach dem Prinzip der Blutsverwandschaft in der Familie jedem ihrer Mitglieder voraussetzungslos das Recht auf seine individuelle Existenz gewährleistet.

Das verdeutlicht übrigens noch einmal – nebenbei gesagt –, was Plessner in den „Stufen“ meint, wenn er die grundlegende Differenz wischen den Phänomenen der Außenwelt und der seelischen Innenwelt daran festmacht, daß die seelischen Phänomene kein starres, dingliches Sein, sondern eine „Skala des Seins“ beinhalten. (Vgl. Stufen, S.296) Die erläuternden Ausführungen zu dieser Feststellung bleiben insgesamt unklar. Nimmt man aber Plessners Darstellungen zur seelischen Seinsfülle als „Werden und Sein in einem“ und „zugleich die Genesis von beiden“ (vgl. Grenzen, S.62) hinzu, so werden Plessners entsprechenden Differenzierungen zwischen Außen- und Innenwelt in den „Stufen“ klarer.

Doch zurück zum Grundbedürfnis der Seele nach adäquatem Ausdruck, die zugleich eine Grundangst beinhaltet. Scheint nämlich die Gemeinschaft der Seele den ersehnten Raum zu geben, in dem sie sich ungehemmt in ihrer Individualität entfalten kann, so beinhaltet genau diese Ungehemmtheit eine große Gefahr. Denn die bedingungslose Anerkennung des Individuums durch die Gemeinschaft bedeutet zugleich die völlige Selbsthingabe des Individuums an die Gemeinschaft und damit seine Selbstauslöschung, seine Opferung. (Vgl. Grenzen, S.44f.) Diese Bereitschaft, sich selbst im Dienst der Gemeinschaft aufzuopfern, ist so grundlegend für die Gemeinschaftsbildung, insbesondere für die Blutsgemeinschaft, daß sie an die Stelle der wirklichen Blutsverwandtschaft tritt. (Vgl. Grenzen, S.44) Die völlige Distanzlosigkeit, die Intimität der Blutsgemeinschaft (vgl. Grenzen, S.92) rührt zudem an einer ständigen Urangst der Seele, die einem Tabu gleichkommt und die Plessner als „Noli me tangere“ beschreibt. (Vgl. Grenzen, S.65) Die rückhaltlose Intimität der Blutsgemeinschaft beraubt die Seele ihrer besten Seiten, mit denen sie dazu beiträgt, in der Verbindung von Körperleib und Geistigkeit die dreifache Einheit der Person auf einzigartige, individualisierende Weise zu verwirklichen.

Ist nämlich die Natur bzw. die Außenwelt „allemal eindeutig“ und liegen „ihre Geheimnisse, ... offen dem Auge da“ (vgl. Grenzen, S.62), geht es im Geist um „restlose Funktionalisierung“ der Subjekte im Dienst einer Sache (vgl. Grenzen, S.56), so verbindet die Seele als „Quellnatur“ (vgl. Grenzen, S.62) des jede starre Form aufbrechenden Werdens den sichtbaren und wägbaren Körper und den kalten, dünnen „Hauch des Geistes“ (vgl. Grenzen, S.51f.) zur Individualität der nie auslotbaren Person: „Geist wird von einem individuellen, unvertretbaren, sich wenigstens so wissenden Seelenzentrum erfaßt und wirkt auch so allein auf die physische Daseinssphäre. Diese Einzigartigkeit ist es, die ihn nicht in Ruhe läßt und allen Konstruktionen und Harmoniesystemen einen Strich durch die Rechnung macht.“ (Vgl. Grenzen, S.103)

Unverzichtbar für diese seelische Wirkungsweise ist aber das erwähnte „Noli me tangere“, die „Weisheit des Verborgenen“ (vgl. Grenzen, S.16) oder der „Schlaf der Welt“ (vgl. Grenzen, S.31). Die so sehr nach Ausdruck und Anerkennung strebende Seele verliert im gefundenen Ausdruck ihre schöpferische Potenz, die nur im Verborgenen wirken kann. Als „Geschöpf der Nacht“ (vgl. Grenzen, S.32) flieht sie die Berührung und das Tageslicht: „Der sichtbare Zorn, die sichtbare Trauer, der sichtbare Widerwillen, das ganz offenkundige Zeigen seelischen Gehaltes in Gedanke und Handlung verrät immer zu viel und verrät deshalb die ganze Seele. Dieser plötzliche Gewichtsverlust, den die Psyche im Heraustreten erleidet, ein noch mit der ganzen aus der unsichtbaren Tiefe seines Hervorbrechens stammenden Kraft geladene Ausdruck, der bei der Umsetzung in die Entladung hohle Geste wird, eine Geste, die mehr ambitioniert als was sie faktisch noch hat und ist und so gewissermaßen in der Luft stecken bleibt, dieses Zergehen in die Abbreviatur der Erscheinung macht Seelisches, wenn es nackt hervortritt, lächerlich.“ (Vgl. Grenzen, 71)

Diese „wesenhafte Zweideutigkeit“ (vgl. Grenzen, S.64) der Seele entspricht Kierkegaards „Krankheit zum Tode“! Denn alles „Seelische“, das weder Urteil noch Definition zu ertragen vermag (vgl. Grenzen, S.64) und doch nach „Bekleidung mit Form“ strebt, „damit es“ – mit der Form wie mit einer Maske vor allzu zudringlichen Blicken geschützt – „auch an der Oberfläche bleibt, was es, in seiner unsichtbaren Tiefe genommen, ist“ (vgl. Grenzen, S.72), schwankt zwischen verzweifelt es selbst sein wollen und verzweifelt nicht es selbst sein wollen.

Kommen wir abschließend zu den „Grenzen der Gemeinschaft“. Plessner übersetzt das „Blut“, das die Glieder der Gemeinschaft miteinander verbindet, mit „Liebe“. (Vgl. Grenzen, S.45) Diese „Liebe“ funktioniert, wie es das romantische Vorbild intimster Zweierbeziehung zeigt, nur in engsten Nähebeziehungen. Sie ist zwar nicht auf realisierte Gegenseitigkeit angewiesen – es gibt auch unglückliche Liebe –, aber sie bedarf der Gegenseitigkeit zumindest der Möglichkeit nach: „Wo dieses Gegenverhältnis nicht sein kann, da gibt es auch keine Liebesmöglichkeit, sondern höchstens Liebesgesinnung.“ (Vgl. Grenzen, S.46) – Daraus folgt, daß nur konkrete Individuen lieben und geliebt werden können. Es gibt zwar eine Übertragbarkeit der Liebe von konkreten Individuen auf etwas Allgemeines wie z.B. das Vaterland oder auf eine Sache wie die Befreiung der unterdrückten Arbeiterklasse. Aber das Allgemeine kann nicht am Anfang der Liebe stehen und z.B. den Weg von dort in Richtung auf konkrete Individuen nehmen. Denn das Allgemeine kann nicht zurücklieben: „Liebe kann sich, wofern sie nur von Konkretem getragen wird, in Individuellem fundiert, durchaus auf Irreales und Abstraktes richten. Aber die Umsetzung von dem Übergreifenden in alles einzelne, in dem es verankert ist, vermag echte Liebe nicht zu vollziehen. ... Zu einem Ganzen wird die Liebesintention immer gehen können, zu allen Elementen dieses Ganzen niemals.“ (Vgl. Grenzen, S.47)

Die Gemeinschaft findet also in ihrer schieren Erweiterung nach außen, in ihrer Größe ihre Grenze: „Die Chance ihrer Verwirklichung nimmt mit der Wahrscheinlichkeit der Liebe, d.h. mit wachsender Distanz zu individueller Wirklichkeit ab.“ (Vgl. Grenzen, S.47) – Es gibt allerdings eine Kompensation der allzu großen Distanzen in Gemeinschaften, deren Mitglieder sich untereinander aufgrund zunehmender Zahl aus den Augen verlieren. An die Stelle des direkten Kontaktes untereinander kann ein Führer treten, der in seiner Person „alle Liebesstrahlen am leichtesten vereint und abstoßende Kräfte zwischen den Gliedern“ auszugleichen vermag. (Vgl. Grenzen, S.48) Der Sinn einer Gemeinschaft kann also durch Symbolisierung vermittelt und auf gesellschaftliche Einrichtungen, wie z.B. über die Person des Papstes auf die katholischen Kirche übertragen werden.

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2 Kommentare:

  1. Ich fand das Buch sehr pessimistisch.Wen man das Buch liest, ist es sehr aktuell,und gerade das macht mir Angst.Es verändert sich in der Welt eigentlich nichts zu Positivem sondern umgekehrt.

    lg Lika

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  2. Eigentlich geht es in Plessners "Grenzen der Gemeinschaft" nur darum, Gemeinschaft und Gesellschaft so voneinander abzugrenzen, daß die Gesellschaft der Gemeinschaft gegenüber nicht mehr von vornherein als das Schlechte und die Gemeinschaft nicht von vornherein als das Gute wahrgenommen wird. In der Weimarer Republik galt die (demokratische) Gesellschaft als korrupt und verdorben. Es war eine Demokratie ohne Demokraten. Plessners Buch ist also eine Art Ehrenrettung der Gesellschaft und der Demokratie. Natürlich haben wir es hier mit einer schwierigen Epoche der Entwicklung des deutschen Staates zu tun, insbesondere wenn man dabei an die Machtergreifung des Nationalsozialismus denkt. Vielleicht kommt daher Ihr Eindruck, daß es sich um ein pessimistisches Buch handelt.

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