„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 17. November 2010

Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt a.M. 2001 (1924)

1. Blutsgemeinschaft
2. Sachgemeinschaft
3. Gesellschaft
4. Lebenswelt und das „gemachte Bett der Alltäglichkeit“

Plessners Begriffe der Gemeinschaft und der Gesellschaft liegen quer zum Bedeutungsfeld des Lebensweltbegriffs, der in dieser Ausformulierung erst mit dem Beginn der 30er Jahre im Umkreis der Husserlschen Phänomenologie gebildet wurde. Einen kritischen Vergleich hinsichtlich des Lebensweltbegriffs, aus der Perspektive von Plessner, habe ich in meinem zweiten Post vom 8. August unternommen. Nun möchte ich das lebensweltliche Bedeutungsgeflecht der Plessnerschen Begrifflichkeiten kritisch beleuchten. Mir drängte sich bei der Lektüre der „Grenzen der Gemeinschaft“ der Eindruck auf, daß Plessners die menschliche Leiblichkeit fokussierende Anthropologie zu einem Heroismus von aus dem menschlichen Durchschnitt ‚herausragenden‘ Individuen verleitet, – in gewisser Weise eine weitere Spielform der ‚exzentrischen‘ Positionalität: eine Positionalität, die allerdings nicht alle Menschen gleichermaßen verbesondert, sondern nur eine besondere gesellschaftliche Elite betrifft. (Vgl. Grenzen, S.38f., 43, 69f., 78, 92) Ich habe jedenfalls den Eindruck gewonnen, daß es dabei nicht nur um eine nüchterne Beschreibung von Gemeinschaftsstrukturen geht, sondern um eine durchaus zustimmende Beschreibung notwendiger politischer wie gesellschaftlicher Handlungstypen.

Die Verknüpfung lebensweltlicher Phänomene mit einer derartigen elitären Verantwortungsethik wird im folgenden Zitat besonders deutlich: „Da die Menschen des Durchschnitts in der glücklichen Lage sind, keiner besonderen Entwicklung ihrer Seele zu bedürfen, und mit einem Minimum an Psychischem sich in die gemachten Betten der Alltäglichkeit legen können, wird sich das Getriebe durch sein eigenes Schwergewicht mehr als durch die individuelle Anspannung seiner Handwerker erhalten.“ (Grenzen, S.69)

Die „gemachten Betten der Alltäglichkeit“ und das „eigene Schwergewicht“ des „Getriebes“ sind wunderbare Metaphern für die alle Menschen gleichermaßen – ohne Unterschied der Herkunft, des Status und der Person – umfassende Lebenswirklichkeit der Lebenswelt. Diese reserviert Plessner nun im Unterschied zu Blumenberg ausschließlich für die „Menschen des Durchschnitts“, denen er „die heroischen Optimisten des Maschinenzeitalters“ gegenüberstellt (vgl. Grenzen S.38), die die Verantwortung für die gesellschaftliche Entwicklung übernehmen, als trüge nicht die Technik selbst zu der Aufrechterhaltung genau jenes „Getriebes“ bei, das Blumenberg als „Lebenswelt“ bezeichnet (vgl. meinen ersten Post vom 8. August) und das Plessner als gemachtes Bett der Alltäglichkeit beschreibt.

Gerade Plessners Zuordnung der Technik zur Gesellschaft zeigt, wie sehr seine Differenzierung zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft quer zum Lebensweltbegriff steht. Lebensweltlichkeit im eigentlichen Sinne müßte man nämlich vor allem der Gemeinschaft zuordnen, während die Technik als ‚Infrastruktur‘ eindeutig zur Gesellschaft gehört. Gemeinschaften brauchen keine ‚Infrastruktur‘, weil Unmittelbarkeit und Authentizität im Zentrum gemeinschaftlicher Beziehungsformen stehen, Infrastruktur aber genau jenes „offene System des Verkehrs zwischen unverbundenen Menschen“ (vgl. Grenzen, S.95) ermöglicht, als das Plessner die Gesellschaft definiert (vgl. Grenzen, S.80). Zugleich gilt aber Blumenbergs Feststellung, daß wir die Technik in der Art und Weise ihres Funktionierens nicht mehr durchschauen können und sie so zu einem Teil der unreflektierten Lebenswelt wird. (Vgl. Theorie der Lebenswelt, S.206f.) Man kennt den Spruch, daß gute Technik der Magie ähnelt. Wenn also Technik als Infrastruktur der Gesellschaft zuzuordnen ist, in ihrem unreflektierten, undurchschaubaren Mechanismus aber ein Moment der Lebenswelt ist, so gehört auch die Gesellschaft zur Lebenswelt, so wie die Gemeinschaft.

Das macht auch Plessners mit der Differenzierung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft zusammenhängende Differenzierung von menschlichen Persönlichkeitstypen fragwürdig. Denn sowohl die Gemeinschaftsmenschen (als Durchschnittsmenschen) als auch die Gesellschaftsmenschen (Politiker, Diplomaten und Kulturheroen des tänzerischen Geistes und des Taktes), ein Typus, dem Plessner auch die Sachgemeinschaft zuordnet, gehören gleichermaßen einer undurchschauten Lebenswelt an, – gleichgültig, ob wir sie als ‚Gemeinschaft‘ oder als ‚Gesellschaft‘ kennzeichnen. Alle Menschen sind gleichermaßen der Lebenswelt verbunden und in ihr befangen. Kein Intellektueller und kein Kulturheroe kann sich kraft eigener Entscheidung aus der Lebenswelt befreien. Das ist auch der Grund, warum Blumenberg glaubt, von so etwas wie einer „Autodestruktion“ der Lebenswelt ausgehen zu müssen, weil sonst die Geschichtlichkeit des Menschen nicht zu ihrem Recht käme: Geschichte kann der Mensch nur haben, wenn er die Lebenswelt verläßt. Dabei übersieht Blumenberg wiederum die exzentrische Positionalität des Menschen, wie sie Plessner beschrieben hat und die den Menschen immer schon aus seiner Lebenswelt herausfallen läßt.

Die Herausforderung, die in diesen unterschiedlichen Anthropologien der Lebenswelt und der exzentrischen Positionalität liegt, besteht nun meiner Ansicht nach darin, zu zeigen, daß beide – Blumenberg und Plessner – Recht haben. Dabei muß aber vermieden werden, die Menschen in zwei Klassen zu teilen, von denen die einen unbewußt bleiben und ‚dienen‘ und die anderen ‚führen‘ bzw. ‚herrschen‘. (Vgl. Grenzen, S.38f.)

Eine mögliche Antwort auf diese Herausforderung sehe ich in Plessners arbeitsteiliger Differenzierung zwischen „Naivität“ und „Reflexion“. (Vgl. Grenzen, S.67) Als Naivität bezeichnet Plessner die vitale Lebenskraft des Menschen, die ihm hilft, sein Leben zu leben, ohne zurückzuschauen: „Nur was vom Leben fort lebt, wahrt ihm seine Kraft; wer zu ihm zurückschaut fällt der Erstarrung anheim.“ (Grenzen, S.30) Die Naivität entspricht der seelischen Wirkungsweise, die im Verborgenen wirkt und an Spontaneität und Kreativität verliert, je mehr sie an Sichtbarkeit und Ausdruck gewinnt. Das „Gesetz der Naivität“ besteht darin, das Bewußtsein des Menschen von allen lebenshinderlichen Erfahrungen, Reflexionen und Umständen zu entlasten, sie ins Unbewußte absinken zu lassen, als gewissermaßen sich ständig vergrößernde Basis einer Pyramide, deren Spitze unser Bewußtsein bildet: „Als aktive Wesen müssen wir den Abgrund der Vergangenheit wie unserer Zukunft, den Reichtum der Zeit und des Raumes zudecken, und nur soviel davon übrig lassen als wir brauchen. Hierin liegt das Gesetz der Naivität beschlossen. Je mehr der Mensch von sich fortlebt, desto ursprünglicher weiß er sein Leben zu gestalten. Ungebrochen strömt die Energie in seine Taten ein und verleiht ihnen Frische und fortwirkende Kraft. Die Tatbereitschaft wächst mit der Unbewußtheit.“ (Grenzen, S.66)

Die so beschriebene ‚Naivität‘ entspricht in ihrer Wirkungsweise nun exakt der Husserlschen Lebenswelt. Und erstaunlicherweise läßt sich diese Naivität, die ja letztlich die seelische Sphäre meint, auch mit der exzentrischen Positionalität vereinbaren, denn was von diesem gigantischen unbewußten Potential zum Ausdruck kommt, im Sinne eben der expressiven Struktur der menschlichen Exzentrizität, bleibt immer unvollständig und fragmentarisch, und es hat gerade in dieser Gebrochenheit des Ausdrucks seine Form, in der es sich zeigt. Denn fände die Seele ihren vollständigen, ihr vollkommen adäquaten Ausdruck, so gäbe sie sich darin völlig auf; sie löste sich als Seele auf und wäre nicht mehr.

Letztlich ist es doch erstaunlich wie das Husserlsche Konzept der Lebenswelt und Plessners Konzept der exzentrischen Positionalität zusammenpassen! Wie steht es aber nun mit Plessners Zweiteilung der Menschheit in Gemeinschaftsmenschen und Gesellschaftsmenschen? Diese Zweiteilung ist sogar nach Plessners eigener Anthropologie völlig überflüssig, – abgesehen davon, daß ich sie auch für politisch wie pädagogisch für wirklich verheerend halte. Nach Plessners eigenen Worten „strebt der Mensch ... nach zwei Seiten, in die Unbewußtheit, Ursprünglichkeit, Naivität und in die Bewußtheit, in das Raffinement der Überlegung, der Selbstbeobachtung und Selbstbeherrschung.“ (Vgl. Grenzen, S.66) Diese Arbeitsteilung zwischen Naivität und Reflexion beinhaltet keine Arbeitsteilung der Persönlichkeiten, daß also die einen, die Gemeinschaftsmenschen, „in die Unbewußtheit, Ursprünglichkeit, Naivität“ und die anderen, die Gesellschaftsmenschen, „in die Bewußtheit, in das Raffinement der Überlegung, der Selbstbeobachtung und Selbstbeherrschung“ streben. Vielmehr ist es so, daß sich alle Menschen immer schon in „Rücksicht auf Erkenntnis“ „in dem Antagonismus von Eitelkeit und Schamhaftigkeit“ und in „Rücksicht auf Praxis in dem Antagonismus von Naivität und Reflexion“ befinden (vgl. Grenzen, S.67), und zwar nicht je nach Persönlichkeitstyp, sondern eben als Mensch!

Und gerade der Antagonismus von Naivität und Reflexion ist es, der uns etwas über die Unangemessenheit jedes Heldentums, insbesondere des Führertums zu lehren vermag. Dieser Antagonismus steckt nämlich schon in der Kantischen Formel für Aufklärung, d.h. in dem Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, ohne sich der Autorität eines anderen Verstandes zu unterwerfen. ‚Verstand‘ heißt in diesem Fall ‚Reflexion‘, also die Fähigkeit, die scheinbar offensichtlichen Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, also das, was alle anderen für richtig halten, auf die Probe zu stellen. Kurz: einen Blick über den Vorgartenzaun der Lebenswelt zu werfen.

Aber woher kommt die Kraft, diesen Blick über den Zaun zu riskieren? Aus der Naivität natürlich, oder anders formuliert: aus dem naiven Mut, innezuhalten, wenn man etwas nicht verstanden hat, zurück zu fragen, auch wenn unser Gegenüber so liebenswert, so überzeugend und so einschüchternd zu ‚argumentieren‘ scheint, daß wir uns dumm vorkämen, wollten wir ihm widersprechen. Genau dafür braucht es Mut. Und für diesen Mut braucht es wiederum Naivität, denn wer von all’ den klugen, ironischen, zynischen ‚Intellektuellen‘ wäre schon bereit, zu glauben, daß es so etwas wie Spontaneität und individuelle Urteilskraft überhaupt geben kann? Der Zweifel, die Reflexion, ist die Sache des Geistes. Der Glaube aber, daß man selbst etwas wissen kann, daß man selbst etwas bewirken kann, – das ist die Sache der Naivität und damit etwas Seelisches. Kant aber war so naiv, hier von Verstand zu sprechen.

Das alles steckt hinter dem Antagonismus von Naivität und Reflexion: der Antagonismus von Seele und Geist, – auf der Basis unserer Sinnesorgane, und damit wären wir beim kantischen Verstand.

Genau hier aber habe ich ein weiteres Problem mit Plessner. Außer Kant wüßte ich keinen in der Philosophiegeschichte, der den Verstand des Menschen so gestärkt hat, wie Rousseau. Was aber weiß Plessner zu Rousseau zu sagen? Plessner macht aus Rousseau „etwas Furchtbares“, nämlich einen radikalen Rationalisten, was ich überhaupt nicht nachvollziehen kann. (Vgl. Grenzen, S.25) Es sei denn, der Mut, den eigenen Verstand zu gebrauchen, beinhaltete einen solchen Radikalismus.

Plessner könnte aber in Rousseau einen Verbündeten haben, denn in allen seinen wesentlichen Aussagen finde ich Entsprechendes bei Rousseau. Stattdessen wiederholt Plessner zu Rousseau nur die verbreiteten Halbwahrheiten und Unrichtigkeiten á la „Rückkehr zum entkomplizierten Urleben“ (vgl. ebenda), also jener ominösen (weil nirgendwo bei Rousseau vorfindbaren) „Rückkehr zur Natur“. Alles Vorwürfe, die noch nie gestimmt haben und durch die ständigen Wiederholungen auch nicht richtiger werden. Dabei hätte Plessner gerade von Rousseaus Konzept der Stärke und Schwäche als einem Naturprinzip der Bedürfnisbefriedigung viel lernen und für sich übernehmen können. Bei Rousseau haben wir es hier mit einem egalitären Prinzip der Menschwerdung zu tun, das alle Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten unabhängig von ihren individuellen Persönlichkeiten auf eine Stufe stellt. Stark ist, wer seine Bedürfnisse ohne Hilfe von anderen (wie war das noch mit dem Verstand? – Hat Kant hier von Rousseau gelernt?) selbst zu befriedigen vermag. Schwach ist, wer zur Befriedigung seiner Bedürfnisse der Hilfe seiner Mitmenschen bedarf. Bei Plessner ist stark „wer die Gesellschaft beherrscht, weil er sie bejaht“, und schwach ist, „wer sie um der Gemeinschaft willen flieht, weil er sie verneint.“ (Vgl. Grenzen, S.31f.) Ein im Vergleich mit Rousseau völlig verdrehtes Konzept von Stärke und Schwäche, bei dem es nicht verwundert, daß es zu einem elitären Prinzip ausgebaut wird, zu einem „Ethos der Herrscher und Führer“. (Vgl. Grenzen, S.38)

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Dienstag, 16. November 2010

Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt a.M. 2001 (1924)

1. Blutsgemeinschaft
2. Sachgemeinschaft
3. Gesellschaft
4. Lebenswelt und das „gemachte Bett der Alltäglichkeit“

In den beiden Formen der Gemeinschaft, der Blutsgemeinschaft als Existenzgemeinschaft und der Sachgemeinschaft als Leistungsgemeinschaft, „bezahlt der Mensch mit seiner individuellen Persönlichkeit“ (vgl. Grenzen, S.56). Da dem seelischen Bedürfnis nach adäquatem Ausdruck mit beiden Gemeinschaftsformen auch nicht geholfen ist und jeder gefundene Ausdruck seelisches Innerstes ans Tageslicht zerrt und auf eine bestimmte Form einschränkt, gibt es Plessner zufolge nur eine Möglichkeit: an die Stelle des Lebensernstes der Blutsgemeinschaft und an die Stelle der kalten Funktionalität der Sachgemeinschaft den Unernst, das Spiel zu setzen. Nach Plessner ist die Gesellschaft der Spielraum, in dem sich die Seele individualisieren kann, ohne sich dabei auf eine gefundene Form festlegen zu müssen: „Die Gesellschaft lebt vom Geist des Spieles. Sie spielt die Spiele der Unerbittlichkeit und die der Freude, denn in Nichts kann der Mensch seine Freiheit reiner beweisen als in der Distanz zu sich selbst.“ (Grenzen, S.94)

In der Gesellschaft gelingt dem Geist das Kunststück, die seelischen und die körperlichen Bedürfnisse miteinander auszugleichen, indem er durch Distanzierung Raum schafft für die Verbindung des „vitalen physischen Spieltrieb(s)“ mit der „dialektische(n) Dynamik des Psychischen“, die „die nach Entladung verlangenden Spannungen der leiblichen Daseinssphäre, da sie mit ähnlichen Formen begabt ist, sozusagen auf höherer Ebene auffängt“ und so „deren mächtige(n) Energien“ benutzt, „um den Menschen als Einheit von Leib, Seele und Geist zu befriedigen“ (vgl. Grenzen, S.94).

Der Spielraum, den die Gesellschaft bietet, bildet eine im Unverbindlichen bleibende Öffentlichkeit, ein „offene(s) System des Verkehrs zwischen unverbundenen Menschen“, in dem die Menschen keine bestimmten Werte miteinander teilen müssen, das aber dennoch aufgrund allgemeiner Werte, die nicht eigens bezeugt und geglaubt werden müssen, eine bestimmte „Ordnung des Verkehrs“ beinhaltet. (Vgl. Grenzen, S.95) In der Öffentlichkeit treten sich die Menschen deshalb nicht als Menschen, als die Personen, die sie sind, gegenüber, sondern als Funktionäre und Amtspersonen: „Eine zwiefache Gebrochenheit steckt in dem Gebaren der Öffentlichkeit, die Unausgleichbarkeit des Gegensatzes von Situation und Norm und Privatperson und ‚Amts‘person, Mensch und Funktionär“ (Grenzen, S.96), – eine Gebrochenheit, die schon Rousseau als Mensch/Bürger-Aporie beschrieben hat.

Es ist diese Gebrochenheit, die das Tragen von Masken, das Spielen von Rollen zum Wesensprinzip des Verhaltens in der Öffentlichkeit macht, die wiederum das Verhalten in der Öffentlichkeit so erst eigentlich zum Spiel werden lassen. Die schon erwähnte Distanz nicht nur zu sich selbst, sondern auch zum anderen Menschen, und nicht nur zum anderen Menschen, sondern auch zu sich selbst, die „Unausgleichbarkeit“ zwischen Mensch und Funktionär, nimmt dem Selbstausdruck, der Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit das Schicksalhafte, läßt sie im Letzten immer noch offen, für einen neuen Versuch, für einen neuen Einsatz, für ein neues Spiel.

Indem also dem gesellschaftlichen Verkehr, der Öffentlichkeit der letzte Ernst der Selbstverwirklichung genommen ist und sich die Menschen dort nicht als Privat-, sondern als Amtspersonen begegnen – ‚Amt‘ im weitesten, im Rousseauschen Sinne als ‚Bürger‘ genommen –, sind die realen Personen „irrealisiert“: „In der Öffentlichkeit ... hat Überzeugung keinen Platz mehr. Ihre Vorgänge vollziehen sich zwischen irrealisierten Funktionsträgern, die ihr Gebaren nicht nach dem Gesinnungswert, sondern nach der geschäftlichen Bedeutung beurteilen.“ (Grenzen, S.101)

In der Öffentlichkeit leben die Menschen nun ein zweites, ‚unernstes‘, unwirkliches Leben, das sie den Erwartungen der Öffentlichkeit an sie anpassen. Dabei bemühen sie sich, wie Plessner es ausdrückt, eine „Linie“ einzuhalten, „welche der Resultante aus den verschiedenen Rücksichten auf Wert oder Mensch und auf Nimbus entspricht.“ (Vgl. Grenzen, S.96) Gemeint ist damit ein Lebenslauf, wie man ihn Bewerbungen beifügt, also auch eine Art ‚Ausdruck‘ unserer selbst, der den Erwartungen der Öffentlichkeit an das Individuum entspricht. Plessner bezeichnet diese Linie auch als „Nimbus“ und als „Prestige“. Dabei versuchen wir, nachträglich unsere Taten im Sinne der öffentlichen Funktionserwartungen an uns – z.B. eines Arbeitgebers an einen Bewerber – eindeutiger erscheinen zu lassen, als sie es tatsächlich sind. (Vgl. Grenzen, S.88)

Letztlich zwingt also die Gesellschaft ihre Mitglieder, sich im wechselseitigen Umgang zu ‚individualisieren‘, indem sie einander bestimmte ‚Seiten‘, also Masken zuwenden. Zugleich sind diese Masken aber wertneutral, insofern sie zwar ‚Geltung‘, eben Prestige und Nimbus, beanspruchen, aber doch keine verbindlichen Wertüberzeugungen zum Ausdruck bringen. Hier siegt mit einer Vielfalt individuellen Ausdrucks im gesellschaftlichen Verkehr das Spiel „ über den Ernst“ (vgl. Grenzen, S.38). Als solcher Spielraum ermöglicht die Gesellschaft einen „tänzerischen Geist“, ein „Ethos der Grazie: das gesellschaftliche Benehmen, die Beherrschung nicht nur der geschriebenen und gesetzten Konventionen, die virtuose Handhabung der Spielformen, mit denen sich die Menschen nahe kommen, ohne sich zu treffen, mit denen sie sich voneinander entfernen, ohne sich durch Gleichgültigkeit zu verletzen.“ (Vgl. Grenzen, S.80) – In Anlehnung an das „Noli me tangere“ der Seele bezeichnet Plessner dieses „Benehmen“ feinsinnig als „Takt“, das vom Lateinischen her auf die vermiedene ‚Berührung‘ verweist. (Vgl.S.105f.)

Genau diesen tänzerischen Geist, diesen Unernst, verachtet der Gemeinschaftsmensch, und mit ihr verachtet er auch die ‚individualisierten‘ Funktionsträger, die – so Plessner – in einem heroischen Akt die ganze Last zivilisatorischer Folgeprobleme, die „unendlich zu steigernde Anspannung des Intellekts“, die „Bejahung“ der „Maschinen“ mit ihren sozialen Folgen, „die ganze Pflichtenlast der Zivilisation“ (vgl. Grenzen, S.38) übernehmen und gewissermaßen stellvertretend für all die Privatmenschen, die sich den Luxus einer moralischen Prinzipientreue, den Luxus einer persönlichen Authentizität leisten dürfen, auf sich nehmen und verwalten. (Vgl. ebenda) Die Politiker und ‚Führer‘ treffen die notwendigen, moralfernen Entscheidungen, vor denen der Privatmensch zurückschreckt. Den „Herrschern und Führern“ spricht Plessner ein „Ethos“ zu, das „(n)icht als Tugend aller gedacht“ ist (vgl. ebenda), also eine Spezialtugend, – die deshalb, sokratisch genommen, keine Tugend ist. Für alle anderen gilt: „Die Mehrzahl bleibt unbewußt und soll es bleiben, nur so dient sie.“ (Grenzen, S.38f.)

So teilt Plessner also die Menschen letztlich in zwei Klassen, in die unbewußt bleibenden Gemeinschaftsmenschen und in diejenigen, die den Mut und die Stärke aufbringen, „aus der Verzweiflung einer Innerlichkeit sich zu erlösen, von der Sphäre der Lebensgemeinschaft in die der Gesellschaft über(zu)gehen, um schließlich in der Sphäre der Sachgemeinschaft des Geistes und der Kultur die definitive Ruhe (ihres) Selbstbehauptungsdranges zu finden.“ (Vgl. Grenzen, S.92) Es gibt die „Menschen des Durchschnitts“. die „in der glücklichen Lage sind, keiner besonderen Entwicklung ihrer Seele zu bedürfen“ (vgl. Grenzen, S.69), und diejenigen die „zu voller Bewußtheit durchdring(en)“ und sich der Verantwortung stellen (vgl. Grenzen, S.39), „die heroischen Optimisten des Maschinenzeitalters“ (vgl. Grenzen, S.38).

An dieser Stelle setzt meine Kritik an Plessner ein, und dieser Kritik werde ich mich im nächsten Post zur Lebenswelt und dem „gemachten Bett der Alltäglichkeit“ zuwenden.

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Montag, 15. November 2010

Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt a.M. 2001 (1924)

1. Blutsgemeinschaft
2. Sachgemeinschaft
3. Gesellschaft
4. Lebenswelt und das „gemachte Bett der Alltäglichkeit“

Es gibt aber nicht nur eine Grenze der Gemeinschaft nach außen, in der die Liebesmöglichkeit mit wachsender Zahl und Distanz Ihrer Mitglieder untereinander abnimmt und schließlich verschwindet. Es gibt auch eine Grenze innerhalb der Gemeinschaft selbst, nach der sich zwei verschiedene Gemeinschaftsformen ausdifferenzieren lassen. Hat nämlich die Blutsgemeinschaft als wechselseitige Liebesgemeinschaft eher enge Grenzen, so läßt sich die Idee der ‚Bluts‘-Verwandtschaft auf die ganze Menschheit ausdehnen. Das alle Menschen verbindende Prinzip besteht dann in der Gattung selbst, in der Menschlichkeit bzw. Humanität. (Vgl. Grenzen, S.49f.)

So kann an die Stelle der „Personmitte“ in der über die Liebe vermittelten Blutsgemeinschaft die „unpersönliche Sachmitte“ treten: „... die einheitliche Menschennatur verbürgt ... in allen Streitfällen gewaltlose Einigung durch das Mittel der Überzeugung. So liegt im Medium der Vernunft und des Verstandes, in dem schließlich alle Überzeugungen gesucht und gefunden werden müssen, das verbindende Element der Menschheit.“ (Grenzen, S.50) – Dabei kommt es weniger auf die Überzeugungen als solche an als vielmehr auf die Mittel, d.h. daß überhaupt argumentiert wird. (Vgl. Grenzen, S.51)

Kommt also in der Blutsgemeinschaft der Liebe vor allem die Seele zu ihrem Recht, so ist die Sachgemeinschaft das Medium des Geistes: „„Wenn sich einzelne Menschen einigen, und wir erleben das täglich in der Wissenschaft, im Rechtsleben, ja selbst im Kunstgenuß, wenn die ganze Fülle der Werte unseres Denkens, Fühlens, Wollens bindend in Aktion tritt, echte Wirkung vom einen zum andern über das überpersönliche Sachzentrum des Wertgehalts möglich ist, dann gibt es echte Gemeinschaft und sie ist grenzenlos ausdehnungsfähig, wie der Geist, wie die Möglichkeit, in irgendeinem Sinne zu überzeugen, grenzenlos ist.“ (Grenzen, S.51)

Mit der Blutsgemeinschaft im engeren Sinne teilt die Sachgemeinschaft, daß ihre Glieder auf ihre Individualität verzichten: „Gemeinschaft, nach dem Sinne des Blutes wie der Sache, wurzelt in schrankenlosem Vertrauen ihrer Glieder. Von demselben durchdrungen, zu wissen, daß man dazugehört kraft Geburt, Einweihung, Überzeugung, Wahlverwandtschaft, bedeutet Geborgenheit im Gemeinschaftskreis den Verzicht auf Behauptung des eigenen Selbst. ... Gemeinschaft des Blutes fordert Preisgabe letzter Intimität, weil das Ganze aus substantiellen Beziehungen von Person zu Person, um personhafte Mitte geschart, die jedem Gliede unvertretbare Stellung verleiht, in pulsierender Lebendigkeit sich aufbaut. Gemeinschaft der Sache schont die Intimität der Personen, die ohne Stellenwert, gänzlich vertretbar, in dem bloßen Hingeordnetsein auf die Sache zur funktionellen Einheit der Leistung zusammengeschlossen sind. Hier wie dort bezahlt der Mensch mit seiner individuellen Persönlichkeit, doch in verschiedenem Geist, den Eingang in die Gemeinschaft.“ (Grenzen, S.56)

An die Stelle unverwechselbarer, seelischer Einzigartigkeit treten mit Verstand und Vernunft geistige Qualitäten, die die Menschen im Sinne einer allgemeinen Menschennatur alle gemeinsam haben. (Vgl. Grenzen, S.51f., 56) Dadurch wird das gemeinsame Fundament der Sachgemeinschaft unpersönlich und unendlich ausdehnungsfähig und die Gleichberechtigung aller Mitglieder wird über deren Leistungsfähigkeit, über die Funktionalität vermittelt. Die Sachgemeinschaft bildet keine „Existenzgemeinschaft“, sondern eine „Leistungsgemeinschaft“. (Vgl. Grenzen, S.52)

Während die Blutsgemeinschaft ihre Grenze also im Wachstum nach außen hat, in Richtung auf die Gesellschaft, hat die Sachgemeinschaft ihre Grenze in Richtung auf die „individuelle Lebenswirklichkeit“, auf die persönliche Existenz ihrer Mitglieder (vgl. Grenzen, S.53): „In der Konfrontation der beiden Ideale des Gemeinschaftsethos zeigen sich die Wesensgrenzen, die jeder Panarchie der Gemeinschaft im Wege sind: die Unaufhebbarkeit der Öffentlichkeit und die Unvergleichlichkeit von Leben und Geist. Öffentlichkeit beginnt da, wo Liebe und blutsmäßige Verbundenheit aufhören. Sie ist der Inbegriff von Möglichkeitsbeziehungen zwischen einer unbestimmten Zahl und Art von Personen als ewig unausschreitbarer, offener Horizont, der eine Gemeinschaft umgibt.“ (Grenzen, S.55) – In ihr weht „kalte, dünne Luft“, der „Hauch des Geistes“. (Vgl. Grenzen, S.52)

Die im letzten Post angesprochenen wesentlichen Unterschiede im Gemeinschaftsbegriff der Nationalsozialisten und der Kommunisten lassen sich also daran festmachen, daß erstere auf der seelischen Klaviatur der Blutsgemeinschaft im engeren Sinne spielten, während die Kommunisten für sich die intellektuellen Qualitäten einer Sachgemeinschaft in Anspruch nahmen, wie ja überhaupt der Kommunismus sich immer gerne als Wissenschaft verstanden hat und versteht. Beide aber nutzen den Gemeinschaftsbegriff als radikalisierendes Instrument, um damit die eigene Macht gesellschaftlich zu monopolisieren und überhaupt die Gesellschaft in den Dienst ihres partikularen gemeinschaftlichen Ethos zu stellen, – partikular auch dort, wo der Kommunismus die Menschheit insgesamt für seine Sache in Anspruch nimmt. Zwar hat die Sachgemeinschaft den Vorzug, die „Intimität der Personen“ zu schonen, aber hier wie dort „bezahlt der Mensch mit seiner individuellen Persönlichkeit, doch in verschiedenem Geist, den Eingang in die Gemeinschaft.“ (Vgl. Grenzen S.56)

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Sonntag, 14. November 2010

Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt a.M. 2001 (1924)

1. Blutsgemeinschaft
2. Sachgemeinschaft
3. Gesellschaft
4. Lebenswelt und das „gemachte Bett der Alltäglichkeit“

Plessners „Grenzen der Gemeinschaft“ (1924) liest sich wie eine aus aktuellem Anlaß geschriebene, zwischen den systematischen Gedankengang von „Die Einheit der Sinne“ (1923) und die „Stufen des Organischen“ (1928) eingeschobene Gelegenheitsschrift, in der der tragende Grundgedanke einer dreifach zu differenzierenden Einheit der Person zwar überall präsent ist, aber die systematische Rückführung dieser dreifachen Einheit auf die exzentrische Positionalität noch nicht bis zur letzten Konsequenz durchgeführt ist. Der Körperleib und der Geist kommen hier nur am Rande vor, während die Seele in den Fokus der Analyse gerückt wird.

Diese noch nicht zu Ende geführte Systematik beinhaltet einige Verkürzungen, was die Expressivität des Menschen und sein Verhältnis zur Geschichte betrifft. Ist die Expressivität des Menschen in den „Stufen“ aufs Engste mit der Gebrochenheit und Indirektheit der menschlichen Existenz verbunden, so daß diese Gebrochenheit und Indirektheit geradezu die Grundform bilden, in der er sich selbst zum Ausdruck bringt, ohne in dem jeweils gefundenen Ausdruck zur Ruhe zu kommen, woraus eine Kultur-Geschichte der Ausdrucksformen hervorgeht, in denen der Mensch sich vor sich selbst verständlich zu werden versucht, so gesteht Plessner in den „Grenzen“ nur den Tieren echte Expressivität zu, weil die Gebrochenheit und Indirektheit der menschlichen Existenz jede gelingende Expression im vorhinein verunmöglicht: „... käme es auf nicht mehr als Expression an, so bliebe die Natur besser bei den elementaren Lebewesen und ersparte sich die Gebrochenheit des Menschen. Wo finden wir noch solchen Ausdruck reinsten Jubels, reinster Trauer als bei einem Hunde, wo solchen Adel der Haltung als beim Pferde, wo solche göttliche Gewalt als im Haupt des Rindes? Lachen und Weinen des Menschen, sein Minenspiel erschüttern erst da, wo sie die Eindeutigkeit der Natur und des Geistes hinter sich gelassen haben und von jener Unfaßlichkeit umwittert sind, die den Abgrund ahnen läßt, ohne ihn zu öffnen.“ (Grenzen, S.106)

Das Bedürfnis des Menschen nach Geschichte führt Plessner in den „Grenzen“ nicht auf seine spezifische Expressivität zurück, sondern er versteht sie als ein Epiphänomen diplomatischer Aushandlungsprozesse, vor dem Hintergrund einer Militärgeschichte, die mit Kultur nicht das Geringste zu tun hat: „Politik ist immer für eine besondere Lage spezifizierte Diplomatie. Sie braucht also Geschichte, d.h. Einheit des sinnvollen Zusammenhanges zwischen ihren augenblicklichen mit ihren vergangenen Entschlüssen, wie sie selbst, indem sie vergeht, zur Geschichte wird. In dieser höchsten Konzentration gibt es nur eine politisch-militärische Geschichte und keine Kulturgeschichte.“ (Grenzen, S.124)

Weiter auseinander können die grundlegenden Aussagen zur Expressivität und Geschichtlichkeit des Menschen in den „Grenzen“ und in den „Stufen“ kaum treten. Dennoch bieten die „Grenzen“ erhellende Einblicke in Plessners Konzept von der ‚Seele‘. Weder in der „Einheit der Sinne“ noch in den „Stufen“ geht Plessner so detailliert auf die speziellen Bedürfnisse dieses „Zwischenreiches“ (Grenzen, S.79) ein. Manches, was mir in diesen Schriften noch dunkel geblieben ist, ist mir erst beim Lesen der „Grenzen“ wirklich verständlich geworden.

Der aktuelle, zeitgeschichtliche Anlaß für diese Schrift sind die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Den Kern dieses bürgerkriegsähnlichen Konflikts führt Plessner auf den unterschiedlichen Gemeinschaftsbegriff zurück, den Nationalsozialisten und Kommunisten vertreten. Man könnte auch noch weiter gehen und auf große Teile der reformpädagogischen Bewegung verweisen, in der der Gemeinschaftsbegriff und seine unterschiedlichen Definitionen ebenfalls eine zentrale Rolle spielt.

Plessner führt die Sozialform der Gemeinschaft auf ein Grundbedürfnis der Seele zurück, das zugleich eine Grundangst der Seele beinhaltet, was die Gemeinschaft zu einer höchst ambivalenten Angelegenheit macht: die Seele will als Individualität gesehen und anerkannt werden und sucht deshalb nach außen den ihrer Individualität entsprechenden, adäquaten Ausdruck. Da aber jeder Ausdruck aufgrund der Gebrochenheit und Indirektheit der menschlichen Existenz (vgl. Grenzen, S.106) zweideutig ist und deshalb mißverstanden werden kann (vgl. Grenzen, S.79) und die „seelische Seinsfülle“ außerdem „sich nie im Gewordenen“ erschöpfen kann, sondern nach jeweils gefundener Form erneut ins Werden übergehen muß (vgl. Grenzen, S.62), sucht sie nach gleichermaßen rückhaltloser wie grundloser Anerkennung in der Intimität der Gemeinschaft, die nach dem Prinzip der Blutsverwandschaft in der Familie jedem ihrer Mitglieder voraussetzungslos das Recht auf seine individuelle Existenz gewährleistet.

Das verdeutlicht übrigens noch einmal – nebenbei gesagt –, was Plessner in den „Stufen“ meint, wenn er die grundlegende Differenz wischen den Phänomenen der Außenwelt und der seelischen Innenwelt daran festmacht, daß die seelischen Phänomene kein starres, dingliches Sein, sondern eine „Skala des Seins“ beinhalten. (Vgl. Stufen, S.296) Die erläuternden Ausführungen zu dieser Feststellung bleiben insgesamt unklar. Nimmt man aber Plessners Darstellungen zur seelischen Seinsfülle als „Werden und Sein in einem“ und „zugleich die Genesis von beiden“ (vgl. Grenzen, S.62) hinzu, so werden Plessners entsprechenden Differenzierungen zwischen Außen- und Innenwelt in den „Stufen“ klarer.

Doch zurück zum Grundbedürfnis der Seele nach adäquatem Ausdruck, die zugleich eine Grundangst beinhaltet. Scheint nämlich die Gemeinschaft der Seele den ersehnten Raum zu geben, in dem sie sich ungehemmt in ihrer Individualität entfalten kann, so beinhaltet genau diese Ungehemmtheit eine große Gefahr. Denn die bedingungslose Anerkennung des Individuums durch die Gemeinschaft bedeutet zugleich die völlige Selbsthingabe des Individuums an die Gemeinschaft und damit seine Selbstauslöschung, seine Opferung. (Vgl. Grenzen, S.44f.) Diese Bereitschaft, sich selbst im Dienst der Gemeinschaft aufzuopfern, ist so grundlegend für die Gemeinschaftsbildung, insbesondere für die Blutsgemeinschaft, daß sie an die Stelle der wirklichen Blutsverwandtschaft tritt. (Vgl. Grenzen, S.44) Die völlige Distanzlosigkeit, die Intimität der Blutsgemeinschaft (vgl. Grenzen, S.92) rührt zudem an einer ständigen Urangst der Seele, die einem Tabu gleichkommt und die Plessner als „Noli me tangere“ beschreibt. (Vgl. Grenzen, S.65) Die rückhaltlose Intimität der Blutsgemeinschaft beraubt die Seele ihrer besten Seiten, mit denen sie dazu beiträgt, in der Verbindung von Körperleib und Geistigkeit die dreifache Einheit der Person auf einzigartige, individualisierende Weise zu verwirklichen.

Ist nämlich die Natur bzw. die Außenwelt „allemal eindeutig“ und liegen „ihre Geheimnisse, ... offen dem Auge da“ (vgl. Grenzen, S.62), geht es im Geist um „restlose Funktionalisierung“ der Subjekte im Dienst einer Sache (vgl. Grenzen, S.56), so verbindet die Seele als „Quellnatur“ (vgl. Grenzen, S.62) des jede starre Form aufbrechenden Werdens den sichtbaren und wägbaren Körper und den kalten, dünnen „Hauch des Geistes“ (vgl. Grenzen, S.51f.) zur Individualität der nie auslotbaren Person: „Geist wird von einem individuellen, unvertretbaren, sich wenigstens so wissenden Seelenzentrum erfaßt und wirkt auch so allein auf die physische Daseinssphäre. Diese Einzigartigkeit ist es, die ihn nicht in Ruhe läßt und allen Konstruktionen und Harmoniesystemen einen Strich durch die Rechnung macht.“ (Vgl. Grenzen, S.103)

Unverzichtbar für diese seelische Wirkungsweise ist aber das erwähnte „Noli me tangere“, die „Weisheit des Verborgenen“ (vgl. Grenzen, S.16) oder der „Schlaf der Welt“ (vgl. Grenzen, S.31). Die so sehr nach Ausdruck und Anerkennung strebende Seele verliert im gefundenen Ausdruck ihre schöpferische Potenz, die nur im Verborgenen wirken kann. Als „Geschöpf der Nacht“ (vgl. Grenzen, S.32) flieht sie die Berührung und das Tageslicht: „Der sichtbare Zorn, die sichtbare Trauer, der sichtbare Widerwillen, das ganz offenkundige Zeigen seelischen Gehaltes in Gedanke und Handlung verrät immer zu viel und verrät deshalb die ganze Seele. Dieser plötzliche Gewichtsverlust, den die Psyche im Heraustreten erleidet, ein noch mit der ganzen aus der unsichtbaren Tiefe seines Hervorbrechens stammenden Kraft geladene Ausdruck, der bei der Umsetzung in die Entladung hohle Geste wird, eine Geste, die mehr ambitioniert als was sie faktisch noch hat und ist und so gewissermaßen in der Luft stecken bleibt, dieses Zergehen in die Abbreviatur der Erscheinung macht Seelisches, wenn es nackt hervortritt, lächerlich.“ (Vgl. Grenzen, 71)

Diese „wesenhafte Zweideutigkeit“ (vgl. Grenzen, S.64) der Seele entspricht Kierkegaards „Krankheit zum Tode“! Denn alles „Seelische“, das weder Urteil noch Definition zu ertragen vermag (vgl. Grenzen, S.64) und doch nach „Bekleidung mit Form“ strebt, „damit es“ – mit der Form wie mit einer Maske vor allzu zudringlichen Blicken geschützt – „auch an der Oberfläche bleibt, was es, in seiner unsichtbaren Tiefe genommen, ist“ (vgl. Grenzen, S.72), schwankt zwischen verzweifelt es selbst sein wollen und verzweifelt nicht es selbst sein wollen.

Kommen wir abschließend zu den „Grenzen der Gemeinschaft“. Plessner übersetzt das „Blut“, das die Glieder der Gemeinschaft miteinander verbindet, mit „Liebe“. (Vgl. Grenzen, S.45) Diese „Liebe“ funktioniert, wie es das romantische Vorbild intimster Zweierbeziehung zeigt, nur in engsten Nähebeziehungen. Sie ist zwar nicht auf realisierte Gegenseitigkeit angewiesen – es gibt auch unglückliche Liebe –, aber sie bedarf der Gegenseitigkeit zumindest der Möglichkeit nach: „Wo dieses Gegenverhältnis nicht sein kann, da gibt es auch keine Liebesmöglichkeit, sondern höchstens Liebesgesinnung.“ (Vgl. Grenzen, S.46) – Daraus folgt, daß nur konkrete Individuen lieben und geliebt werden können. Es gibt zwar eine Übertragbarkeit der Liebe von konkreten Individuen auf etwas Allgemeines wie z.B. das Vaterland oder auf eine Sache wie die Befreiung der unterdrückten Arbeiterklasse. Aber das Allgemeine kann nicht am Anfang der Liebe stehen und z.B. den Weg von dort in Richtung auf konkrete Individuen nehmen. Denn das Allgemeine kann nicht zurücklieben: „Liebe kann sich, wofern sie nur von Konkretem getragen wird, in Individuellem fundiert, durchaus auf Irreales und Abstraktes richten. Aber die Umsetzung von dem Übergreifenden in alles einzelne, in dem es verankert ist, vermag echte Liebe nicht zu vollziehen. ... Zu einem Ganzen wird die Liebesintention immer gehen können, zu allen Elementen dieses Ganzen niemals.“ (Vgl. Grenzen, S.47)

Die Gemeinschaft findet also in ihrer schieren Erweiterung nach außen, in ihrer Größe ihre Grenze: „Die Chance ihrer Verwirklichung nimmt mit der Wahrscheinlichkeit der Liebe, d.h. mit wachsender Distanz zu individueller Wirklichkeit ab.“ (Vgl. Grenzen, S.47) – Es gibt allerdings eine Kompensation der allzu großen Distanzen in Gemeinschaften, deren Mitglieder sich untereinander aufgrund zunehmender Zahl aus den Augen verlieren. An die Stelle des direkten Kontaktes untereinander kann ein Führer treten, der in seiner Person „alle Liebesstrahlen am leichtesten vereint und abstoßende Kräfte zwischen den Gliedern“ auszugleichen vermag. (Vgl. Grenzen, S.48) Der Sinn einer Gemeinschaft kann also durch Symbolisierung vermittelt und auf gesellschaftliche Einrichtungen, wie z.B. über die Person des Papstes auf die katholischen Kirche übertragen werden.

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