„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 8. August 2010

Hans Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, Berlin 2010 (6)

1. Der eigene Verstand
2. Und noch einmal: Anmerkungen zum Wesensbegriff
3. Geschichte: Plessner und Blumenberg im Vergleich
4. Lebenswelt und virtuelle Welten
5. Methode und Beweisverzicht
6. Die ‚Antinomie‘ der Phänomenologie

Blumenbergs Kritik an Husserls Phänomenologie bezieht sich auf ihre implizite, von Husserl nicht reflektierte „Antinomie von Unendlichkeit und Anschauung" (vgl. „Theorie der Lebenswelt", S.217). Diese Kritik leidet aber selbst an einer spezifischen Vernachlässigung des Aspekts der Leiblichkeit in Blumenbergs Theorie der Lebenswelt. Damit kommen wir auch noch einmal kurz auf Plessners Anthropologie der Sinne zu sprechen.

Zu diesem Zweck möchte ich an dieser Stelle vor allem einen Aspekt des Blumenbergschen Lebensweltansatzes ansprechen: die Stabilität der Lebenswelt. Blumenberg zufolge besteht die gedankliche Herausforderung des Lebensweltbegriffs in seiner Grenzbegrifflichkeit. Die Lebenswelt bezieht sich als „Grenzbegriff" auf die „in jeder Welt bestehende() Tendenz zur Selbstverständlichkeit" und auf den „Ausgangswert() einer Welterfahrung überhaupt ..." (vgl. „Theorie der Lebenswelt", S.65). Die „Tendenz zur Selbstverständlichkeit" beinhaltet ihre Stabilität. Keine einzelne Erfahrung kann die Lebenswelt in Frage stellen, weil sie immer schon Mechanismen beinhaltet, die sie gegen solche Ausnahmeerfahrungen immunisiert: „Man muß davon ausgehen, daß jede partielle oder atomistische Durchbrechung der Grenzen und der Beständigkeit der Lebenswelt angesichts ihrer Integrationsfähigkeit zum Scheitern verurteilt wäre." (Vgl. „Theorie der Lebenswelt", S.203)

Da stellt sich dann auch gleich das Problem, wie es zu einem Bruch in der Lebenswelt kommen kann, die den Menschen aus der Beheimatung in lauter Selbstverständlichkeiten entläßt und ihn seinen Weg durch die Geschichte, die nun zugleich eine Entfremdungsgeschichte ist, nehmen läßt? Wie also kann die Lebenswelt zum Ausgangspunkt einer Welterfahrung werden? Daß Blumenberg hier keine andere Option sieht als von der „Autodestruktion der Lebenswelt" (vgl. „Theorie der Lebenswelt", S.103) zu sprechen, von der Lebenswelt als einem „System der Selbstzerstörung" (vgl. „Theorie der Lebenswelt", S.98), ist erhellend. Weil die Lebenswelt weder von außen noch von innen in Frage gestellt werden kann, muß sie sich selbst zerstören. Blumenberg bezieht den Menschen so sehr auf die Lebenswelt als dem hauptsächlichen Merkmal seiner Menschlichkeit, daß diesem keine andere Freiheit bleibt als die ihm von dieser Lebenswelt gewährte.

Die Leiblichkeit des Menschen wird hierbei, wie gesagt, nur am Rande thematisiert, und hier ist Blumenbergs Lieblingsaspekt, auf den er sich immer wieder gerne bezieht, die Selbstaufrichtung, der aufrechte Gang. Und erst über den Umweg über die Selbstaufrichtung thematisiert er auch die Wahrnehmung (und Beobachtung) als Folge dieser Selbstaufrichtung. (Vgl. „Theorie der Lebenswelt", S.142) Dieser Weg führt Blumenberg aber nicht zu einer von der Lebenswelt unabhängigen Betrachtung der Wahrnehmung. Am Beispiel von Plessner können wir sehen, welches Reflexionspotential ihm hier entgeht.

Bei Plessner hat die Exzentrizität des Menschen ihre Wurzeln im Verhältnis zu seiner Leiblichkeit. Es braucht nicht erst eine Lebenswelt hinfällig zu werden, um den Menschen aus seinen Selbstverständlichkeiten zu entlassen. Bei Plessner liegt der Mensch mit seinem Körper im Streit (Plessner 1980, S.369), und schon aufgrund dieser immerwährenden Unangepaßtheit ist Neugierde immer schon möglich: „Der Mensch liegt eben mit seinem Körper in Streit, auch wenn er weiß, daß es sein eigener Leib ist, der ihm dazwischenkommt. Als Leib bin ich Außending, das anderen Körpern im Wege steht oder Platz macht und im Unterschied zur Selbstempfindung meines Leibes mich zur Wahrnehmung und Abschätzung von Distanzen und Tragfähigkeiten zwingt. ... Mein eigenes Körper-Sein stellt sich mir, dem Subjekt, als ein Konflikt dar, dessen Unlösbarkeit mit der Subjekt-Objekt-Spaltung gegeben ist. Die Spaltung zwingt den Menschen zu handeln, eine Art des Verhaltens, die den Tieren verschlossen ist." (1980, S.369)

Dieser Streit mit unserem Körper führt u.a. dazu, daß wir gegen unseren Willen rot werden können. Der wichtigste Aspekt ist aber wohl der, daß wir aufgrund dieses ständigen Konflikts zum Handeln gezwungen sind und daß uns das instinktive Verhalten der Tiere verschlossen bleibt. Das schönste Beispiel für diesen anthropologischen Grundkonflikt habe ich bei Keiji Nishitani gelesen. Er beschreibt, wie uns ein einfaches, alltägliches Niesen aus den Selbstverständlichkeiten unseres alltäglichen Lebens herausreißen und auf einen langen Weg zu innerer Erleuchtung führen kann. (Vgl. Was ist Religion? (2/1986), S.93ff.)

Weil also Blumenberg der Leiblichkeit des Menschen nicht genügend Aufmerksamkeit zuwendet, muß er die Schwierigkeiten überschätzen, die Lebenswelt zu verlassen, und sogar von einer Selbstzerstörung der Lebenswelt ausgehen. Das führt uns nun auch zu der von Blumenberg festgestellten, angeblichen Antinomie in der Husserlschen Phänomenologie, die zwischen „Unendlichkeit" und „Anschauung" bestehen soll: „Die Forderung nach der absoluten Evidenz und der Radikalität der Begründung und genetischen Sinnanalysen setzt sich selbst gegenüber der Vorstellung von einer Unendlichkeit der geforderten Arbeit ins Unrecht." (Vgl. „Theorie der Lebenswelt", S.215)

Wir hatten schon in unserem Post zum eigenen Verstand auf die hervorragende Eignung der Phänomenologie hingewiesen, die individuelle Urteilskraft zu stärken und zu schulen. Diese Eignung besteht vor allem in dem Moment der von Blumenberg angesprochenen Antinomie, der alle Behauptungen auf eine ursprüngliche Anschauung, auf eine absolute Evidenz zurückbezieht. (Vgl. „Theorie der Lebenswelt", S.173) Dies gilt, wenn schon nicht immer real durchführbar, zumindest der Möglichkeit nach. Dem hält Blumenberg nun das andere Moment der Antinomie entgegen, daß nämlich jede Gegenstandswahrnehmung eine potentiell unendliche Aufgabe ist und in keine Richtung weder nach innen noch nach außen eine letzte Grenze, also auch keine absolute Evidenz denkbar ist. Beide Grundprinzipien der Husserlschen Phänomenologie widersprechen einander.

Dies tun sie aber nur, weil Blumenberg die sinnliche Wahrnehmung nicht in seine Betrachtung einbezieht. Mit Plessners Analysen der Sinnesorgane können wir sehr wohl so etwas wie letzte Bezugsinstanzen einer absoluten Evidenz aufstellen: eben die Sinnesorgane und ihre Funktionsweise. Und das ist auch ganz im Sinne der Husserlschen Wahrnehmungsanalysen. Das widerspricht auch in keiner Weise dem anderen Prinzip, daß jede Gegenstandswahrnehmung aufgrund der Horizontstruktur eine unendliche Aufgabe darstellt. Das trifft nämlich wiederum nur für das Bewußtsein als Intentionalität zu, das dabei aber immer seine ‚Erdung‘ in den Sinnesorganen haben muß. Zwischen beidem spannt sich seine Intentionalität, zwischen Wahrnehmung (absolute Evidenz) und Welt (unendliche Aufgabe), und die Lebenswelt stellt dabei tatsächlich jenen Grenzbegriff dar, aus dem wir uns aufgrund unserer leiblichen Verfaßtheit immer schon herausfallen sehen in eine offene Weite, nichts von heilig.

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