„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 15. Juli 2010

Die Einheit der Sinne (Fortsetzung)

Die drei Arten von Sinnesorganen, die Modalitäten, unterscheiden sich Plessner zufolge u.a. nach ihrer „gegenstandsbildenden Qualität“. (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.289f.) So sind der Gesichtssinn und der Tastsinn primär gegenstandsbildend, während das Gehör und die Zustandssinne (Geschmack und Geruch, Getast und Schmerz, Temperatursinn, Gleichgewichtssinn und Wollust (vgl. „Einheit der Sinne“, S.267f.)) nur sekundär gegenstandsbildend sind. Aber schon an dieser Stelle zeigt sich, daß diese Unterscheidung nicht eindeutig ist. Denn der primär gegenstandsbildende Tastsinn ist zugleich auch ein Zustandssinn, und das Gehör als Zustandssinn hat mit dem Gesicht gemeinsam, daß es einen unmittelbaren Bezug zum Sinnverstehen, also zum ‚Geist‘ hat, der den Zustandssinnen fehlt. (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.289f.) Die Zustandssinne betreffen allesamt geistferne Befindlichkeiten, also Zustände des Körpers und des Leibes: „Denn wo kein Sinn erscheint, ist die Ästhesiologie des Geistes am Ende.“ („Einheit der Sinne“, S.267f.) Wenn es deshalb um die Beziehung zum Geist geht, befinden sich also Gesicht und Gehör wiederum auf der einen Seite den Zustandssinnen auf der anderen Seite, die keine Beziehung zum Geist aufweisen, sondern eine „psychische Zwischenschicht“ („Einheit der Sinne“, S.214) zwischen Körper und Geist (den Leib) bilden, gegenübergestellt.

Was genau leisten nun Gesicht, Gehör und die Zustandssinne jeweils für sich? Das Gesicht hat Plessner zufolge im Unterschied zur dynamischen Qualität des Schalls statischen Charakter. (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.231) Zwischen den optischen Empfindungen findet keine Verschmelzung statt. Eine entsprechende Verknüpfung der optischen Wahrnehmungen zu einem umfassenden Gesamtbild, z.B. beim Betrachten einer Landschaft oder eines Bildes „bleibt bloß der Synopsis des Betrachters überlassen.“ (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.234)

Das besondere Kennzeichen des Gesichts ist der Blick- bzw. Sehstrahl: „Sehen ist nun einmal Gerichtetheit auf einen Stoffgehalt in der Weise des Strahls; der Sehstahl kann wandern, und wenn er mit der vollen Aufmerksamkeit gesättigt ist, steht das in den Blick Gefaßte in unmittelbarer Geradheit vor dem Blicksender.“ („Einheit der Sinne“, S.260) Die „unmittelbare Geradheit“ bildet die Grundlage für die Wahrnehmung von Linien (vgl. „Einheit der Sinne“, S.261f.), die wiederum die Grundlage für die Wahrnehmung von Figuren (Gestalten) und damit der euklidischen Geometrie bilden (vgl. „Einheit der Sinne“, S.159f., 196 u.ö.), die bei Plessner aufgrund ihrer anthropologischen Qualität den nicht-euklidischen Geometrien gegenüber einen klaren Vorzug genießt (vgl. „Einheit der Sinne“, S.162, 196). Da die Geometrie eine wesentliche Grundlage der Schematisierbarkeit der physischen Gegenstände bildet und die Schematisierbarkeit der Gegenstände wiederum der Technik, d.h. der Beherrschbarkeit der physischen Welt zugrundeliegt (vgl. „Einheit der Sinne“, S.95 135f., 162 u.ö.), da darüberhinaus der Sehstrahl selbst durch seine Gerichtetheit „das Schema jeder Handlung“ liefert (vgl. „Einheit der Sinne“, S.262), gibt es eine spezifische „Konformität der Sehfunktion und des Handelns“ (ebenda).

Das besondere Kennzeichen des Gehörs ist die Voluminosität, also das An- und Abschwellen und das Nachhallen des Klangs, die seine Dynamik im Unterschied zum Lichtstrahl ausmachen. (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.229, 231) Diese Voluminosität füllt im Hören den „phänomenalen Leibesraum“ aus, so daß jeder Tonlage eine entsprechende ‚Lage‘ im phänomenalen Leibesraum entspricht, die wir aufsuchen müßten, wollten wir „den gleichen Ton stimmlich erzeugen“ (vgl. „Einheit der Sinne“, S.234). Anders als beim punktuellen Sehstrahl des Gesichts können mehrere Töne gleichzeitig wahrgenommen werden und „Akkorde“ bilden. (Vgl. ebenda) So wie nun der Ton den phänomenalen Leibesraum ausfüllt, erzeugt er eine „Haltung“, die ein unmittelbares Sinnverstehen beinhaltet. (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.238) So wie das Gesicht zur Handlung, so hat also das Gehör zur Haltung eine „Akkordanz“. (Vgl. ebenda) Hören wir Musik, so bewegen wir uns zu dieser Musik und fühlen uns zum Handeln angeregt, das ganz einfach im Tanzen bestehen kann oder bei der Marschmusik im Marschieren oder im Supermarkt bei entsprechender Musikberieselung im Einkaufen.

Einen besonderen Beitrag leistet das Gehör zur Menschwerdung des Menschen. Wie wir schon bei Tomasello gesehen hatten (vgl. meinen Post vom 26.04.2010), ist es im Vergleich zu unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen, ungewöhnlich, daß beim Menschen die Sprachbildung den Weg ausgerechnet über die Stimme genommen hat. Diese Verbindung von Laut und Zeichen hat Plessner zufolge eine ganz wichtige Funktion. Das Zeichen ist eine rein geistige Funktion und hat keine natürliche Verbindung zum Gegenstand, den es bezeichnet. (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.244f.) Jedes beliebige Zeichen kann jeden beliebigen Gegenstand bezeichnen. Der Klang aber hat, wie wir gesehen haben, eine unmittelbare Beziehung zur Haltung. Beides, Zeichen und Klang, wird nun in der mündlichen Sprache miteinander zu etwas Neuem verbunden, so daß es „etwas grundsätzlich anderes (ist), ob ich einer Erregung, Stimmung, Zuständlichkeit des Geistes und der Seele in der Haltung des Leibes spezifisch gestalteten Ausdruck gebe und sie gewissermaßen sich selbst ausdehnen und entladen lasse oder ob ich ihr Ausdruck gebe, indem ich sie meine und in Worte fasse.“ („Einheit der Sinne“, S.214f.)

Worin liegt dieser Unterschied des Meinens in Worten zum Ausdruck in der leiblichen Haltung? Sie besteht darin, daß „die syntagmatische Gliederung in der bald vorstellenden, bald zielsetzenden, bald genießenden Anteilnahme an den Gegenständen, die Disposition im Erleben und nicht erst auf Grund des Erlebens, diese eigentlich auf die Rede schon zugeschnittene Art, die Welt aufzunehmen, Erregung, Spannung und Entspannungstendenz hervor(bringt).“ (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.246) – Die mit Hilfe der gegenstandfremden Zeichen ermöglichte syntagmatische Gliederung unserer Gefühlswelt in der Sprache hat also eine homöodynamische Funktion, die zur Entspannung der körperlich-leiblichen Erregungszustände beiträgt. Jeder, der sich mal so richtig ‚ausgesprochen‘ hat, kennt das. Diese zwei Seiten bzw. Aspekte der menschlichen Sprache, Klang und Zeichen, haben also eine wichtige Funktion bei der Verarbeitung von Erlebnissen: „Der Geist arbeitet von zwei Seiten sprachbildend, vom Sinn her syntagmatisch, von der Anschauung her anteilnehmend und muß von diesen beiden Seiten her kooperierend vorgehen, um die Welt zu bedeuten.“ (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.246) – Die leibliche Haltung als Ausdruck unserer psychischen Zustände geht also mit Hilfe der mündlichen Sprache eine erlösende, befreiende Verbindung mit unserem Geist ein.

Das besondere Kennzeichen der Zustandssinnesorgane (Geschmack und Geruch, Getast und Schmerz, Temperatursinn, Gleichgewichtssinn und Wollust (s.o.)) ist ihre „Sinnfreiheit“ (vgl. „Einheit der Sinne“, S.270). Damit ist gemeint, „daß in ihrem Material keine eigene Sinngebung stattfindet, während wir eben bei Gesicht und Gehör solche spezifischen Vergeistigungsmöglichkeiten antreffen.“ (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.269) – Aber genau diese „Sinnfreiheit“ ist es, der Plessner wiederum einen besonderen „Sinn“ zuspricht (vgl. „Einheit der Sinne“, S.270), nämlich den eines „psychischen Zwischenreichs“ (vgl. „Einheit der Sinne“, S.214): „Gestaltete Einheiten ohne jeden Hinweis auf Sinnesdaten, Tendenzen und Verbindungen ohne Empfindungsstofflichkeit beherrschen das bewußte Seelenleben. Getragen und getrieben wird es von der unbewußten seelischen Realität.“ (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.271)

Wir haben es bei dem Empfindungsstoff dieses Zwischenreichs, den uns die Zustandssinne liefern, gewissermaßen mit Empfindungen im Schwebezustand zu tun, die noch nicht auf Gegenstände bezogen sind, sondern erst auf sie ‚geprägt‘ werden müssen. Ob uns Gegenstände also als angenehm oder als unangenehm erscheinen, die ganze Palette emotionaler Begleitqualitäten, die mit der visuellen und tastenden Wahrnehmung einhergehen, ist nicht mit den Zustandssinnen schon ‚gegeben‘. Hier muß erst eine biographische und kulturelle Kopplung stattfinden, die dazu führt, daß z.B. bestimmte ‚Fetische‘ Wollust auslösen, ob das nun im eher üblichen Sinne sekundäre Geschlechtsmerkmale sind oder eher Füße oder Latex.

Das Spannende an diesem psychischen Zwischenreich ist, daß es so plastisch, also formbar und auch deformierbar ist, so daß man sich hier vieles vorstellen kann, was ‚falsch‘ laufen kann. Der eigentliche „Sinn der Sinnfreiheit“ liegt aber bei Plessner weniger in dem Entwicklungspotential des Empfindungsstoffes unserer Zustandssinne als vielmehr darin, als „vermittelnde Zwischenschicht den Körper ins Bewußtsein“ zu heben (vgl. „Einheit der Sinne“, S.273) und mit dem „körperliche(n) Sein des eigenen Leibes“ auch das „der fremden Dinge.“ „Ihre Weise (nämlich die Weise der Zustandssinne – DZ) ist die Vergegenwärtigung des Seins im Erleben.“ (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.285) So werden die Zustandssinne als „vermittelnde Schicht des Erlebens“ zu einem Spiegel, „in welche(m) die Gestalten aller Welten sich spiegeln“ (vgl. „Einheit der Sinne“, S.245).

So wie also die Wahrnehmung der gegenständlichen Welt stets von Empfindungsqualitäten begleitet ist und auf diesem Weg dem sinnverstehenden Geist zu Bewußtsein kommt, formt nun wiederum der Geist diese Zwischenschicht, „die ... selbst unmittelbar der syntagmatischen Artikulation gehorcht wie Wachs den Händen des Bildhauers“ (vgl. „Einheit der Sinne“, S.245), durch syntagmatische Gliederung. Wir haben es also ähnlich wie bei der Sprachbildung mit zwei aufeinander bezogenen Seiten zu tun, einer körperlich-leiblichen, in der Physisches und Psychisches aufeinander bezogen sind, und einer leiblich-geistigen, in der Psychisches und Geistiges aufeinander bezogen sind.

Zum Schluß muß ich noch kurz auf den Begriff der „Ordnungsfunktion“ (vgl. „Einheit der Sinne“, S.206ff.) eingehen, wie er im vorangegangenen Post aufgetaucht ist. Wenn ich alles richtig verstanden habe, so geht es mit diesem Begriff um verschiedene, einander entsprechende Gliederungen im Bereich des repräsentativen Bewußtseins. Das schematische Bewußtsein gliedert nach Hypothesis, Antithesis und Systema, das syntagmatische Bewußtsein gliedert nach Thesis, Parathesis und Synthesis, und das thematische Bewußtsein gliedert nach Arsis, Thesis und Synesis. Diese Gliederungsbegriffe bezeichnet Plessner als Ordnungsfunktionen und belegt mit ihnen die Einheit des Geistes auf allen Ebenen des Sinnverstehens. An dieser Stelle muß ich allerdings passen, denn wo Begrifflichkeiten so auf einander abgestimmt sind wie bei Plessners Ordnungsfunktionen (der Begriff der Thesis taucht z.B. gleich zweimal auf), erhalten sie schnell etwas Mechanisches und gleichsam Klapperndes. So fällt es mir z.B. schwer, zwischen den schematischen und den syntagmatischen Ordnungsfunktionen zu unterscheiden. Da ist der Unterschied zwischen den schematischen und syntagmatischen Ordnungsfunktionen auf der einen Seite und den thematischen Ordnungsfunktionen auf der anderen Seite schon offensichtlicher, denn mit den Begriffen der Arsis ist „Hebung“ gemeint, mit Thesis ist „Senkung“ gemeint, und mit Synesis ist „Zusammenordnung“ gemeint. (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.207) Und darin scheint dann wieder die Homöodynamik auf, in der unsere aufgeregten Zuständlichkeiten über die syntagmatische Artikulation in eine Besinnung ermöglichende Entspannung überführt werden.

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Mittwoch, 14. Juli 2010

Die Einheit der Sinne

In diesem Post möchte ich mich mit Helmuth Plessners „Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes" (1923) (Gesammelte Schriften III: Anthropologie der Sinne, Frankfurt a.M. 1980, S.9-315) auseinandersetzen. Bei der im Titel des Buches angesprochenen „Ästhesiologie des Geistes" handelt es sich nicht um eine ‚Ästhetik‘ im eigentlichen Sinne, sondern um die Frage, wie eine Verbindung, eine Berührung zwischen den physischen Sinnesorganen und dem ‚Geist‘ möglich wird. Dabei ist Plessners Leitgedanke, daß die Sinnesorgane nicht einfach nur zufällig aus der biologischen Evolution im Zuge einer ständigen Anpassung des physischen Organismusses an die Bedingungen der Umwelt im Dienste des nackten Überlebens hervorgegangen sind, sondern daß sie im Hinblick auf den ‚Geist‘, also das subjektive und individuelle Bewußtsein eine notwendige Einheit bilden. Diese notwendige Einheit der physischen Sinne bildet wiederum eine Einheit des Sinns, ist also vom Sinnganzen des menschlichen Geistes/Bewußtseins her zu denken.

Plessner denkt also die Funktionen der menschlichen Sinnesorgane vom menschlichen Geist her, anstatt sie, wie in der Naturwissenschaft üblich, in ihre atomaren und molekularen Bestandteile zu zerlegen, also zu ‚analysieren‘, um so ihr Funktionieren zu erklären. (Vgl. „Einheit der Sinne", S.294) Denn auf dem Wege einer solchen Molekularisierung der Sinnesorgane geht das, was deren Sinnhaftigkeit, d.h. ihre Funktionalität für den menschlichen Geist letztlich ausmacht, irgendwo verloren. Erst von den „Früchten", also von den Folgen her, die das Wirken der Sinnesorgane für den menschlichen Geist hat, läßt sich die Wirkungsweise, also die Funktionalität der Sinnesorgane erklären. Nicht von ungefähr erinnert Plessners Vorgehen an Lambert Wiesings „Mich der Wahrnehmung" (2009). Nicht nur die Wahrnehmung, auch der menschliche Geist kann nur in den Notwendigkeiten seiner Wirkungsweise verstanden werden, und die Sinnesorgane sind Formen – Plessner spricht hier wahlweise mal von „Modalitäten", mal von „Qualitäten" – der Entsprechung zwischen Körper und Geist. Sie ‚entsprechen‘ in ihren unterschiedlichen Modalitäten/Qualitäten den Modalitäten des Sinns. Weil der menschliche Geist so ist, wie er ist, sind die menschlichen Sinnesorgane so, wie sie sind und bilden eine notwendige Einheit.

Wenn wir deshalb verstehen wollen, warum die menschlichen Sinnesorgane so und nicht anders funktionieren, wie sie funktionieren, dann muß in einer Ästhesiologie des Geistes „das Untersuchungsfeld" „über das ganze Gebiet menschlicher Tätigkeit" ausgedehnt werden, „jenen Ergebnissen nachspürend, die mit Hilfe nur einer Sinnesmodalität, nur einer Empfindungsqualität zustande kommen." (Vgl. „Einheit der Sinne", S.295) – Ähnlich also wie Rousseau (vgl. meinen Post vom 05.06.10), aber aufgrund einer anderen Ausgangshypothese, versucht Plessner den einzelnen Sinnesorganen in ihrer spezifischen Funktionsweise auf die Spur zu kommen. Während Rousseau aber von der Gleichwertigkeit aller Sinnesorgane ausging und keine Arbeitsteilung in ihrer Funktionsweise zugeben wollte, behauptet Plessner zwar die Einheit der Sinne im Hinblick auf ihre Funktionalität für den menschlichen Geist, geht dabei aber von einer spezifischen Arbeitsteilung unter ihnen aus.

Rousseau versuchte, den Verstand auf einzelne Sinnesorgane zurückzuführen, weil er meinte, daß das ‚Mitfühlen‘ der Sinne im Prozeß der Wahrnehmung ihn am nüchternen Urteilen hindert. Außerdem glaubte er, daß die Sinnesorgane untereinander in einem Konkurrenzverhältnis stehen, so daß unser Verstand dazu verleitet würde, einzelnen Sinnesorganen den Vorzug gegenüber den anderen zu geben. Pikanterweise nahm er hierfür insbesondere den Gesichts- und den Tastsinn als Beispiel. Bei dem an der Wasseroberfläche gebrochenen Stab könnte der Tastsinn den Gesichtssinn ‚widerlegen‘, was zu einer Herabsetzung der Glaubwürdigkeit des Gesichtssinns führen würde. Plessner sieht dagegen im Konkurrenzverhältnis zwischen Gesichtssinn und Tastsinn – die tastenden Finger verdecken vor dem Gesichtssinn die berührten Stellen am Gegenstand – zugleich die Voraussetzung für das distanzierende Sehen: wir versetzen den gesehenen Gegenstand an den Ort, an dem wir ihn berühren. Könnten wir also den Gegenstand nicht berühren, bliebe im Sehakt der Gegenstand gewissermaßen ‚im Kopf‘ und würde nicht nach draußen, hinaus in den Raum außerhalb unseres Organismusses versetzt. Plessner geht sogar soweit, zu behaupten, daß es ohne den Tastsinn überhaupt keine Gesichtswahrnehmung gäbe. (Vgl. „Anthropologie der Sinn“, in: Plessner 1980, S.317-393: 336)

Im Rahmen der Einheit der Sinne beschreibt Plessner drei Arten von Sinnesorganen: das Gesicht, das Gehör und die Zustandssinne. Diese drei Sinnesarten, eben die Modalitäten bzw. Qualitäten, bilden zugleich Modalitäten des materiellen Seins, des Stoffs: „Die Qualitäten sind nicht absolute Seinszustände und sie sind keine subjektiven Zustände. Sie sind vielmehr die Weisen, in denen absolutes, das heißt vom Bewußtsein losgelöst beharrendes Sein, der Stoff, die Materie gegenständlich, für ein Bewußtsein wirklich werden kann." (S.310) Außerdem entsprechen ihnen die zwei Grundformen menschlichen Bewußtseins, die wiederum jede in drei Arten vorkommen. Da wäre zunächst das präsentative, d.h. anschauende Bewußtsein in seinen drei Arten als antreffendes, innewerdendes und füllendes Bewußtsein (vgl. „Einheit der Sinne", S.99f.) und dann das repräsentative, d.h. sinnverstehende Bewußtsein in seinen drei Arten als schematisches, syntagmatisches und thematisches Bewußtsein (vgl. „Einheit der Sinne", S.158-189).

Im wesentlichen unterscheiden sich die beiden Grundformen des Bewußtseins darin, daß dem präsentativen Bewußtsein sein Gegenstand in unmittelbarer Gegenwart gegeben, eben präsent ist, was sich am deutlichsten im antreffenden Bewußtsein zeigt, das auf die ganze Welt der physischen Gegenstände bezogen ist, während das innewerdende Bewußtsein vor allem auf die psychische Innenwelt bezogen ist. Das füllende Bewußtsein ist das Bewußtsein der Wesensschau; aber nicht nur, sondern auch der unmittelbaren, gegenstandslosen Sinnesempfindungen insbesondere in der Musik.

Im Unterschied zum präsentativen Bewußtsein ist dem repräsentativen Bewußtsein sein Gegenstand nur stellvertretend gegeben, z.B. über die Sprache und die Schrift. Beim repräsentativen Bewußtsein haben wir es also mit dem eigentlichen Bereich des Geistes zu tun, während wir es beim anschauenden Bewußtsein mit dem Leib zu tun haben, – Plessner spricht vom „Körperleib" (vgl. „Einheit der Sinne", S.298), um die Verbindung zwischen der physischen und der psychischen Dimension des Menschseins zum Ausdruck zu bringen. ‚Schematisch‘ ist das repräsentative Bewußtsein, weil es in ihm um die mathematisierbare Dimension des „Raumzeitkontinuums" geht. (Vgl. „Einheit der Sinne", S.159f.) ‚Syntagmatisch‘ ist das repräsentative Bewußtsein, weil es in ihm um die Möglichkeit der artikulierenden Gliederung der psychischen Innenwelt geht. (Vgl. „Einheit der Sinne", S.163) Warum Plessner nun die dritte Art des repräsentativen Bewußtseins als ‚thematisch‘ kennzeichnet, ist mir nicht so ohne weiteres ersichtlich. Man hätte es auch mit einem anderen Prädikat versehen können. Jedenfalls geht es im thematischen Bewußtsein nicht um Bedeutung, wie im syntagmatischen Bewußtsein, sondern um Deutung, und zwar um die Deutung der im füllenden Bewußtsein stattfindenden Schau der Ideen. So deuten wir z.B. die mit der Musik einhergehenden Hörerlebnisse, ohne daß mit diesen Hörerlebnissen ein sichtbarer Gegenstand oder ein gegliederter Gedankengang verbunden ist. Musik erscheint uns unmittelbar als sinnhaft, also als dem Sinnbedürfnis unseres Bewußtseins adäquat, ohne daß wir dem Hörerlebnis einen verallgemeinerbaren oder objektivierbaren Sinn zugrundelegen könnten. Wir können ihm also keine Bedeutung geben, aber wir können ihn deuten. (Vgl. „Einheit der Sinne", S.289)

An dieser kurzen Darstellung wird schon deutlich, worin bei Plessner die Einheit der Sinne besteht: in der durchgängigen Korrespondenz – Plessner spricht von „Akkordanz" – zwischen den Modalitäten der Sinnesorgane und den Arten des präsentativen und repräsentativen Bewußtseins. Das macht zugleich deutlich, warum die Einheit der Sinne eine notwendige und keine zufällige ist. Es handelt sich eben nicht nur um eine Anpassung an eine äußere Umwelt, sondern um die Grundvoraussetzung einer möglichen Adäquation zwischen Geist und Körper. Im nächsten Post werde ich darauf eingehen, inwiefern nun die verschiedenen Modalitäten der Sinnesorgane ihren spezifischen Beitrag zu dieser Adäquation leisten.

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Dienstag, 13. Juli 2010

Wesensschau und Gestaltwahrnehmung (Fortsetzung)

Inzwischen habe ich mich mit Helmuth Plessners „Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923)“ beschäftigt. Plessner ist ein Schüler von Husserl und so hält auch er am Begriff der „Wesensschau“ fest. Und Plessner läßt auch keinen Zweifel daran, daß es für diese Form der ‚Anschauung‘ einer besonderen ‚Disziplin‘ bedarf, einer gewissen „Mühsal“ der geistigen „Vorbereitung und Disziplinierung“ (vgl. „Einheit der Sinne“, S.191), um der Gehalte einer Wesensschau innezuwerden. Pikanterweise gebraucht Plessner dabei den Begriff der „Disziplin“ in seiner zweifachen Bedeutung, also im Sinne einer Selbstdisziplin, einer geistigen Anstrengung, wie auch im Sinne einer wissenschaftlichen Spezialdisziplin, also z.B. Biologie oder Kulturwissenschaft. Plessner zufolge gibt es nicht nur eine wissenschaftliche „Einheit“ aus „Prinzipien“, sondern auch der geistigen „Haltung“: „Es beginnt alle Wissenschaft mit Disziplinierung der forschenden Haltung in Frage und Antwort ...“. (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.157)

Es gibt also eine Disziplin, die nicht nur die Wesensschau ermöglicht, sondern auch eine, die die Wissenschaft ermöglicht. Für mich besteht dabei, wie schon im letzten Post angedeutet, das Problem, daß eine solche Spezialisierung des menschlichen Erkenntnis- und Anschauungsvermögens dazu verleitet, diese zu mystifizieren und dafür wiederum eine besondere Gruppe wie z.B. die Priester oder eben die Wissenschaftler als besonders qualifiziert auszuweisen, was eine Abwertung des gesunden Menschenverstandes, also des gewöhnlichen Menschen beinhaltet. Dann kommt man schnell dahin, den Spezialisten, etwa den Wissenschaftlern, eine höhere Autorität hinsichtlich der Beurteilung der Realität zuzubilligen.

Sicherlich bedarf es einer gewissen Übung im Gebrauch des eigenen Verstandes, so daß z.B. jüngere Menschen, etwa Kinder, älteren Menschen, also den Erwachsenen, eine höhere Autorität zubilligen. Spätestens im Jugendalter ist dieses Vertrauenskapital aber aufgebraucht und Mißtrauen bzw. Rebellion treten an dessen Stelle. Selbst aber angesichts der offensichtlichen Unmündigkeit von Kindern bedarf es schon zur Einübung in den Gebrauch des Verstands wiederum eines Vertrauensvorschusses der Erwachsenen in das Entwicklungspotential von Kindern. Auch Kinder haben Verstand, und dieser fordert, seine eigenen Urteile nur aus der eigenen Einsicht heraus fällen zu dürfen, nicht aufgrund der höheren Autorität der Erwachsenen.

Nun ist das eben bei dem Begriff der „Wesensschau“ nicht so einfach mit dieser eigenen Einsicht bzw. der eigenen Anschauung. Da ist es aber nun interessant, wie Plessner mit dem Begriff der Wesensschau umgeht. Er kennt so etwas wie eine ursprüngliche, primitive Form der Wesensschau, die allen Menschen zur Verfügung steht: „Irgendeine Witterung für die Wesenheit seines Milieus braucht der Mensch, um am einzelnen das Typische, das spezifisch, nicht abstrakt Allgemeine zu erleben.“ (vgl. „Einheit der Sinne“, S.86) – Neben einer vollen geistigen ‚Schau‘, in der uns das ‚Wesen‘ in seiner ganzen Klarheit gegeben ist, gibt es also so etwas wie eine „Witterung“. Hätte nicht jeder Mensch wenigsten diese Witterung, er könnte am Einzelnen nicht das Typische wahrnehmen, – und, so kann man fortsetzen, ohne das Typische nähme er nicht einmal das Einzelne wahr. Womit wir bei der Gestaltwahrnehmung wären. Mit Plessners Worten könnte man also sagen: Gestaltwahrnehmung ist eine Art Witterung für das Wesen von Dingen und Ideen.

Gehen wir aber über die bloße Witterung hinaus zur Klarheit und Fülle der Wesensschau, so verlassen wir die Ebene des Gegenständlichen. Wir haben sozusagen eine Schau ohne Gegenstand: „Fehlt die Gerichtetheit auf den Gehalt, so haben wir die Schau, sei es im Sinnenfeld, sei es ohne Bindung daran. In der Schau offenbart sich der Gehalt, ... es fehlt das ‚Gegenüber‘ von Blickzentrum und Gehalt und wenn auch zur Wesensschau ... eine höchste Anspannung und Gerichtetheit auf die Wesenssphäre Voraussetzung ist, so dient sie doch nur dazu, die störenden Seinsschichten zu durchstoßen, um dann der sich ausbreitenden Ideenklarheit widerstandslos sich zu öffnen.“ (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.88) – Hier könnte ich wieder „Vorsicht!“ rufen und mein Veto einlegen. Zwar habe ich mit der ‚Witterung‘ für das Gestalthafte der Wahrnehmungen eine gute Grundlage für meinen Verstand, auf der er sich sicher bewegen kann, doch nicht, um sie als Sprungbrett in höhere, bodenfernere Dimensionen des Geistes zu mißbrauchen.

Doch auch hier weist Plessner noch einen anderen, jedermann möglichen Zugang zur Wesensschau auf: „Obwohl das gewöhnliche Leben ein Schauen von Ideen kennt, wie wenn ich sage: da ging mir das Wesen der Sache, dieses Menschen auf, obwohl die vita contemplativa des Philosophen zum Schauen der Ideen reif machen soll, zeigt doch nur die Kunst dem Menschen ohne Mühsal der Vorbereitung und Disziplinierung, heiter, wie der Dichter sagt, im Spiel Ideen, wenn er ein empfängliches Gemüt, Sinn dafür hat.“ (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.191) – Es gibt also, ähnlich der Gestaltwahrnehmung, eine weitere, weniger mystische und mehr alltägliche Version der Wesensschau, – die Kunst, und in der Kunst insbesondere die Musik: „Die Musik hat es nun mit keinen Bedeutungen, sondern mit Sinngefügen zu tun, die alles noch offen lassen. ... Ein Spiel von Gesten entfaltet sich und damit ein Spiel der Formen möglicher Bedeutungen aus allen Gebieten des Geistes, da der Geist durchgängig nach dem Gesetz der Ordnungsfunktion in der Einheit des Sinnes und in jenen Formen begründet ist.“ (Vgl. „Einheit der Sinne“, S.241)

Was es mit den „Ordnungsfunktionen in der Einheit des Sinnes“ auf sich hat, darauf will ich in einem der nächsten Posts eingehen. An dieser Stelle begnüge ich mich damit, zu resümieren, daß es bei der Wesensschau ganz einfach erstmal um nichts anderes geht als um die Möglichkeit, den puren Stoff der Sinneswahrnehmung, die Reize, als Gestalten wahrzunehmen, und dann, gewissermaßen eine ‚Ebene‘ höher, unabhängig vom Stoff geistige ‚Formen‘, also in gewissem Sinne auch wieder ‚Gestalten‘ zu erkennen bzw. zu ‚schauen‘, z.B. am Kunstwerk, einem Bild, dessen Material bzw. Stoff, also die Leinwand und die Farbpigmente etc., keinen eigenständigen Gegenstand ergibt, der Betrachter aber im ‚Geist‘ dennoch Formen, Bedeutungen, Gestalten erschaut. Und am reinsten gelingt diese Schau mit Hilfe der Musik, da in ihr das bloße Sinnenmaterial, der Klang, unmittelbar als sinnvoll bzw. als ‚gestaltet‘ erlebt wird, ohne daß diese Gestalten im Geist erst rekonstruiert werden müßten.

Habe ich auf diese Weise mit Plessners Hilfe den erhabenen Begriff der Wesensschau auf das ursprüngliche, alltägliche Erleben ‚heruntergebrochen‘, so kann ich auch im weiteren mit dem Gedanken an eine durch geistige Selbstdisziplin ermöglichte Wesensschau leben, ohne den gesunden Menschenverstand zu entmündigen.

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