„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 13. Juni 2010

Zum Begriff der Intuition

Die Besprechungen in diesem Blog dienen einem bestimmten Forschungsinteresse, das wir in unserem ersten Post beschrieben haben, nämlich der Frage nach den verschiedenen Entwicklungslogiken der Menschheits- und der Individualgeschichte. Das beinhaltet ein umfassendes Interesse am Schicksal des Menschen, dem unserer Ansicht nach das ganze System der Wissenschaften verpflichtet ist. Eine erste gemeinsame Veröffentlichung zu diesem Thema ist im Franz-Fischer-Jahrbuch 2009 (Altfelix/Zöllner, S.100-130) erschienen. Nun sind es gerade die letzten drei Posts zu Wiesing, die mich dazu veranlassen, im Rahmen unseres Forschungsinteresses bestimmte Begrifflichkeiten zu klären.

Zunächst gilt es festzuhalten, daß unser Interesse an Modellen fundamental ist. In unserem ersten Post haben wir so ein Modell in Form einer Graphik vorgestellt (siehe weitere Graphiken im erwähnten Jahrbuch). Modelle geben uns gleichzeitig so sehr etwas zu denken, wie sie unsere Fragen zu beantworten scheinen. Es geht in ihnen also nicht um Gewißheiten, sondern um Klärungen, in denen wir uns unseres Gegenstands vergewissern. Allerdings dürfen sich diese Modelle nie zu weit von unseren Gewißheiten entfernen, – nicht, wenn es uns immer wieder um den Menschen in dieser Welt geht. Denn nicht in den einzelwissenschaftlichen Modellierungen und Formelsprachen, sondern nur in bezug auf unsere Gewißheiten, wie sie Wiesing an den Wahrnehmungsgewißheiten beschrieben hat, sind wir uns als Mensch gegeben.

Was nun diese den Menschen und seine Lage in der Welt definierenden Wahrnehmungsgewißheiten betrifft, scheint es mir nötig zu sein, auch den Begriff der Intuition klarer zu fassen als bisher. Dabei möchte ich mich vor allem auf zwei Stränge der philosophischen Tradition beziehen, in denen die Intuition zum einen als eine intellektuelle, auf allgemeine Wesenheiten gerichtete ‚Schau‘, vergleichbar der platonischen theoria, zum anderen als sinnliche Anschauung konkreter, individueller Objekte verstanden wurde, wobei beide Sichtweisen entweder sich gegenseitig ergänzend in einem einheitlichen philosophischen System aufeinander bezogen wurden oder von verschiedenen Denkschulen gegeneinander ‚ausgespielt‘ wurden, insofern die intellektuelle Anschauung als eine perfekte Anschauungsform meistens gegenüber der sinnlichen Anschauung als einer defizienten Anschauungsform aufgewertet wurde.

Dieser zweifache Begriff der Intuition entspricht dem bekannten Leib-Geist- bzw. Leib-Seele-Dualismus: der Leib schaut die sinnlichen Dinge an, der Geist schaut die geistigen Dinge an. Aber in beiden Hinsichten geht es bei der Intuition immer vor allem um das Einfache und Nicht-Teilbare, um das Ursprüngliche und Anfängliche, um das Unmittelbare und um das Gleichzeitige. Unser Forschungsinteresse ist aber in erster Linie von einer nicht-dualistischen Sichtweise auf den Menschen bestimmt. Das beinhaltet eine entsprechende nicht-dualistische Perspektive auf die Intuition.

Bei der Frage, was das bedeuten könnte, kommt uns die Etymologie des Begriffs zu Hilfe. Eine seiner älteren Bedeutungen ist das „Erscheinen des Bildes auf der Oberfläche des Spiegels“ (vgl. Kluge 23/1995), was, wie ich finde, eine sehr schöne Metapher für das Bewußtsein ist und außerdem als eine Erläuterung zu Wiesings „inverser Transzendentalphilosophie“ (vgl. Autopsie, S.114u.ö.) verstanden werden kann. Als Metapher für das Bewußtsein dient sie der Zurückweisung von Leib-Geist-Dualismen, in denen der Geist dem Körper als eine eigenständige metaphysische Größe gegenübergestellt wird. Das Bewußtsein als reine Oberfläche, ähnlich der Oberfläche eines Spiegels, bündelt und bricht die inneren Lebensprozesse komplexer Organismen und bringt sie auf diese Weise ‚zu Bewußtsein‘. Und ähnlich wie ein Spiegel hat es keine ‚Tiefe‘, in deren Unergründlichkeit irgendwelche verborgenen Wesenheiten vermutet werden müßten.

Damit wird zugleich deutlich, welche Bedeutung des Begriffs der Intuition hier zurückgewiesen wird: die der rein intellektuellen, von der leiblichen Sinnlichkeit unabhängigen Anschauung geistiger Wesenheiten. Selbstverständlich gibt es die logischen, mathematischen und geometrischen Intuitionen, mit denen der Idealismus seit Platon argumentiert, wenn es um die höhere Wirklichkeit rein intellektueller Intuitionen geht. Aber meiner Ansicht nach lassen sich diese Intuitionen auf ästhetische, vor allem kinästhetische Notwendigkeiten zurückführen. So spricht Schopenhauer in seiner Schrift „Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“ z.B. von der Geometrie als einem „Seynsgrund im Raume“ (§37, 39) und von der Arithmetik als einem „Seynsgrund in der Zeit“ (§38). Außerdem möchte ich auf Rudolf Arnheims Darstellung der Gestaltwahrnehmung (Kunst und Sehen. Eine Psychologie des schöpferischen Auges, Berlin/New York 1978) verweisen. Arnheim bezeichnet geometrische Formen als „Wahrnehmungsbegriffe“, in Analogie zu den Begriffsbildungen bewußten Denkens. (Vgl. „Kunst und Sehen“, S.49f.)

Und damit wären wir also bei der Wahrnehmung und den Zwängen angekommen, die die Wahrnehmung auf die menschliche Daseinsform ausübt, also auf die Art und Weise, wie der Mensch in der Welt ist. Mathematik und Geometrie stellen – so weit sie auf unabweisbaren Intuitionen beruhen – nichts anderes dar als eine Feldvermessung, also eine zeitliche und räumliche Struktur der Welt, wie wir sie eben ‚wahrnehmen‘. Wir haben es hier eben nicht einfach mit irgendwelchen ‚intellektuellen‘ Intuitionen im Unterschied und Gegensatz zur sinnlichen Wahrnehmung zu tun, sondern beide Intuitionsformen, die intellektuelle und die sinnliche, gehen in Wirklichkeit gleichermaßen auf die von Wiesing beschriebenen Folgen der Wahrnehmung zurück, ohne daß wir der Mathematik und der Geometrie noch zusätzlich platonische Ideen oder geistige Wesenheiten zusprechen müßten.

Auf diese Weise wäre also die Transzendentalphilosophie eines Kant und seiner Nachfolger bis hin zur transzendentalen Phänomenologie eines Edmund Husserl ‚invertiert‘, also in eine „inverse Transzendentalphilosophie“ umgewandelt, die sich nicht mehr mit der ‚Tiefe‘, d.h. mit den ‚Gründen‘ eines substantiellen Bewußtseins befaßt, also mit seiner Möglichkeit und seiner Genese, sondern mit den Folgen, die das Bewußtsein für einen Organismus, insbesondere für den Menschen mit sich bringt. Ein Intuitionsbegriff, der das Bewußtsein als reine, ‚spiegelnde‘ Oberfläche versteht, ist nicht länger an die langen Kausalketten gebunden, in denen jenseits des schmalen ‚Fensters‘ der Bewußtwerdung verborgene Prozesse interagieren. In Betracht kommen nur die Ereignisse im Bereich dieses schmalen ‚Fensters‘ selbst, denn diese sind es, auf die es für den Menschen ankommt, solange es um den Menschen in seiner Welt geht und nicht zuletzt um die Frage seiner zunehmend bedrohten weltlichen Dauer.

Was unsere Graphik in unserem ersten Post betrifft, so haben wir es hier mit einem ‚Modell‘ im Sinne von Wiesing zu tun. In diesem Modell ruht alles menschliche Sein und Bewußtsein auf einem dreifachen, unterhalb der Bewußtseinsschwelle liegenden Fundament auf. Dabei handelt es sich um ein genetisches Bedingungsverhältnis, das mal als ‚Evolution‘, mal als ‚Entwicklung‘ gekennzeichnet werden kann. Alle diese Bedingungszusammenhänge (Kausalketten) sind dem Bewußtsein ‚fremd‘. Die in ihnen beschriebenen Natur- und Lebensprozesse gingen und gehen dem menschlichen Bewußtsein voraus und sie gehen – in Form von Motiven und Intuitionen, man könnte auch von Vorurteilen und von ‚Instinkten‘ sprechen – in das Bewußtsein ein. Dies ist aber keine Einbahnstraße zum Bewußtsein hin, sondern es handelt sich um eine Wechselseitigkeit, so daß wir auf der individuellen Ebene von einem persönlichen Entwicklungsprozeß, von ‚Bildung‘ sprechen können.

Was dieses Modell nun deutlich machen soll, ist, daß es neben der mit ästhetischen ‚Zwängen‘ verbundenen Intuition noch eine zweite Form der Intuition gibt, eine, die wir als Haltung oder als innere Einstellung bezeichnen können, als ‚Habitus‘. Diese ist für die Persönlichkeit des Menschen nicht in gleicher Weise ‚zwanghaft‘, wie es die Folgen der Wahrnehmung für die Daseinsform des Menschen sind. Es zeichnet die durch ‚Bildung‘, also durch bewußte Arbeit des Menschen an sich selbst erworbene ‚Haltung‘ aus, daß sie ähnlich funktioniert wie jene ästhetischen Intuitionen, die mit der Wahrnehmung verbunden sind. Sie ermöglicht, um mit Damasio zu sprechen, so etwas wie eine „rasche Kognition“ (vgl. Descartes’ Irrtum, S.V). Damit sind abgekürzte, am Bewußtsein vorbeiführende Entscheidungsprozesse gemeint, die gleichwohl aber bewußt durch Übung und durch Training vorbereitet und angebahnt wurden. Jeder Sportler kennt das, wenn er sich mühsam seine spezifischen Bewegungstechniken aneignet, bis sie schließlich automatisch ablaufen, und wenn er sich dann mental auf einen sportlichen Wettkampf vorbereitet, indem er im Geist den vor ihm liegenden ‚Parcour‘ durchläuft, so daß er ihn dann im Ernstfall gewissermaßen ‚blind‘ absolvieren kann. Ähnliches gilt auch für geistige und moralische ‚Haltungen‘ im Umgang der Menschen miteinander. Auch das Gewissen beruht zuallerletzt vor allem auf solchen im Verlauf eines umwegigen Entwicklungsprozesses erworbenen Intuitionen: ein ‚umwegiger‘ Prozeß deshalb, weil dazu die ganze Breite und Länge, die ganze historische ‚Tiefe‘ der menschlichen Evolution gehört.

Damit soll dem Bewußtsein nun nicht ersatzweise doch noch eine Tiefe zugesprochen werden, die es unserer Ansicht nach als Oberflächenphänomen nicht hat. Es ist nicht die Tiefe des Bewußtseins selbst, die bis zu den Anfängen der menschlichen Evolution zurückreicht. Wohl aber ist es die Tiefe der individuellen Urteilskraft in Form erworbener Haltungen und Einstellungen, die ihre ganz persönliche Entwicklung und Bildung haben und, verbunden mit dieser ganz persönlichen Entwicklung und Bildung, zugleich eine große Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit. Das erste, was bei Gehirnschäden (innerlich) oder bei schicksalsbedingten Traumatisierungen (äußerlich) verloren geht, sind die am höchsten und weitesten entwickelten Bewußtseinsformen, also Selbstbewußtsein und Gewissen. Mit ihnen verschwinden wesentliche Momente der menschlichen Individualität und damit einer humanitär gehaltvollen Lebensweise.

Zum Schluß stellt sich noch die Frage, ob sich der Begriff der Intuition in irgendeiner Weise von dem der Gewißheit bzw. der Evidenz unterscheidet. Momentan habe ich den Eindruck, daß es gewisse Unterschiede zwischen der Intuition und der Gewißheit/Evidenz vor allem aufgrund ihrer verschiedenartigen Verwendung innerhalb der Begriffsgeschichte gibt, keineswegs aber, was die Inhalte betrifft. Während der Begriff der Intuition vor allem auf verschiedene, oft unterschiedlich bewertete Erkenntnisweisen bezogen wurde, dient der Begriff der Gewißheit bzw. der Evidenz bis heute vor allem als ein Qualitätsmerkmal wissenschaftlicher, insbesondere naturwissenschaftlicher Forschungsmethoden. Der Begriff dient also der methodischen Legitimation von Forschungsergebnissen. Das beinhaltet allerdings eine weitgehende Abschwächung des Gewißheitsstatuses, der im empirischen Forschungsprozeß prinzipiell in Frage gestellt bleibt und durch künftige Forschungsergebnisse jederzeit widerlegt werden können muß. Dennoch ist aufgrund der semantischen Nähe von Gewißheit und Gewissen der intuitive Gehalt des Gewißheitsbegriffes offensichtlich. In unserem Zusammenhang stellt deshalb die Wahrnehmungsgewißheit eine fundamentale Gewißheit des menschlichen In-der-Welt-Seins dar, und die damit verbundenen Intuitionen (Folgen) bestimmen unsere Daseinsform.

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