„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 27. April 2010

Tomasello 3 (Fortsetzung)

(Vgl. auch meine Posts vom 06.06., 07.06. und 08.06.2012)

Hans Blumenberg vertritt in seinem Buch „Arbeit am Mythos“ eine evolutionstheoretische Auffassung des Mythos. Demnach hat sich der Mythos in der langen Nacht der Mündlichkeit, in den zehntausenden Jahren der Kulturentwicklung vor dem ersten Auftreten der Schriftlichkeit, im Schein der Lagerfeuer vor den Ohren eines gebannt lauschenden Publikums bewähren müssen; ähnlich also wie sich im Bereich der biologischen Evolution das Leben einer ständig wandelnden Umwelt anpassen mußte, nur daß hier eben das Publikum an die Stelle der Umwelt tritt und der Sänger bzw. „Rhapsode“, wie Blumenberg sagt, seine Lieder dem Geschmack des Publikums anpassen mußte.

Dabei ist der Mythos, wie Blumenberg es vor allem an der Götterwelt des griechischen Mythos beispielhaft ausführt, zu einem perfekten Medium zur Artikulation und Kanalisierung der tiefsten menschlichen Bedürfnisse, menschlicher Ängste und Träume ausgereift. In höchstentwickelter Form am Endpunkt dieser Entwicklung beim Aufkommen der Schriftlichkeit hat ein gewisser ‚Homer‘ diesen Prozeß festgehalten und zugleich stillgestellt. Denn in der schriftlichen Phase der menschlichen Kulturentwicklung ist dem Mythos die umfassende Öffentlichkeit, die Gemeinschaft des nächtlichen Publikums abhanden gekommen. Danach hat es nichts dem aus zehntausenden von Jahren hervorgegangenen Mythos Vergleichbares mehr gegeben. An die Stelle der Arbeit des Mythos ist die Arbeit am Mythos getreten, das heißt das sich Abarbeiten einer schriftlichen Kultur an dem mythischen Material, das einer ersten, anfänglichen Humanisierung des Menschen den Weg bereitet hat.

Das ist der Grund, warum wir in unserer Graphik im ersten Post als gemeinsamem Hintergrund und Untergrund der drei dargestellten Entwicklungslogiken die Lebenswelt bzw. den Mythos genannt haben. Und hier findet sich eine erstaunliche Parallele zur Anthropologie von Michael Tomasellos extravaganter Syntax, auf die ich hier abschließend zu sprechen kommen will. Die extravagante Syntax wird von Tomasello nämlich unter anderem als „Modus der Narration“ bezeichnet. Das heißt, daß wir uns mit der extravaganten Syntax zwar noch auf der Ebene von Sätzen befinden, diese Sätze aber nun eine grammatische Komplexität an den Tag legen, die zugleich auf einen darüber hinaus reichenden, narrativen Textkorpus angewiesen ist. Die extravagante Syntax steht im Dienst des Teilens (einem der Kommunikationsmotive; zur Erinnerung: bei den anderen Kommunikationsmotiven haben wir es mit dem Auffordern (einfache Syntax) und dem Informieren (ernsthafte Syntax) zu tun).

Geteilt werden hier vor allem Gefühle bzw. Aufmerksamkeit. Geschichten zu erzählen ist gewissermaßen eine Übung in gemeinsamer Aufmerksamkeit. Das Erzählen von Geschichten führt zur „Erweiterung unseres gemeinsamen Hintergrunds“ und schafft damit neue „Kommunikationsgelegenheiten“. „Außerdem werden wir dadurch den anderen ähnlicher und verbessern unsere Aussichten auf soziale Akzeptanz ...“. (Vgl.S.310) Die Gefühle und die gemeinsame Aufmerksamkeit sind wiederum an Inhalte gebunden, die über einen komplexen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang hinweg in den unterschiedlichsten Situationen immer als dieselben identifiziert werden können müssen. Dazu bedarf es wiederum syntaktischer Hilfsmittel, die es einem ermöglichen diese Gegenstände zu verfolgen („Referenzverfolgung“ (vgl.S.305)). Diese Hilfsmittel einer extravaganten Syntax können entweder direkt auf der Ebene des Satzes entsprechend aufwendige Schachtelsatzkonstruktionen sein. Oder die Struktur des ganzen Textkorpus erzeugt durch die Kunst des Erzählens einen Hintergrund, aus dem den Sätzen Informationen, die in diesen Sätzen nicht direkt enthalten sind, ergänzend zufließen.

Eine solche extravagante Syntax läßt sich also letztendlich gar nicht über einzelne isolierte Sätze verwirklichen. Sie bedarf des Kontextes einer erzählten Geschichte: „Es ist schwierig, sich irgendeinen anderen Kommunikationskontext vorzustellen, der eine solche filigrane zeitliche Buchhaltung mittels verschiedener Verbtempora und -aspekte erfordern würde.“ (S.304) – Wir sehen hier also noch einmal auf einer anderen Ebene die Funktion von Mythen für die Humanisierung des Menschen: neben die von Blumenberg vertretene Auffassung einer Humanisierung der Bedürfnisstruktur des Menschen tritt Tomasellos Auffassung einer kulturellen Einübung von kognitiven Strukturen mit Hilfe einer extravaganten Syntax.

Zum Schluß möchte ich noch auf Tomasellos Begriff des „Wagenhebereffekts“ zu sprechen kommen, wie er ihn in „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens“ beschreibt, und auf den er kurz in „Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation“ zurückkommt (vgl.S.309). Der Wagenhebereffekt ermöglicht Tomasello zufolge die spezifisch menschliche Kulturentwicklung in Form von Traditionsbildung. Nur der Mensch ahmt demzufolge die Intentionalität seiner Mitmenschen nach. Kleine Kinder ahmen z.B. das Verhalten ihrer Bezugspersonen bis ins kleinste Detail nach, weil sie versuchen, so zu sein wie die anderen. Schimpansen würden gar nicht auf den Gedanken kommen, so sein zu wollen wie der andere. Deshalb kann es bei ihnen auch zu keinen kulturellen Traditionen kommen, zu keiner Anhäufung des Wissens. Sie übernehmen zwar auch Techniken von anderen Schimpansen, wenden sie aber immer auf individuelle Weise an, und auch nur, um eigene aktuelle Bedürfnisse zu befriedigen, nicht aber, um so zu sein wie der andere. Die spezifisch menschliche Neigung, andere zu imitieren, führt zu dem von Tomasello beschriebenen Wagenhebereffekt, daß sich nämlich kulturelles Wissen anhäuft und nicht verlorengeht.

In meinem Buch über „Lernen und Leistung“ (2005) hatte ich schon darauf hingewiesen, daß es für diesen ‚Wagenheber‘ eine Rückstelltaste geben müsse, weil sonst bestimmte schädliche Entwicklungen, die z.B. dazu führen können, daß eine Kultur zugrundegeht, nicht rückgängig gemacht oder verändert werden können, und ich hatte dafür das ebenfalls von Tomasello beschriebene individuelle Lernen in Anspruch genommen, das es dem Menschen ermöglicht, sich unabhängig von kulturellen Einflüssen ganz von seinem eigenen Verstand leiten zu lassen. In seinem Buch über die Ursprünge der menschlichen Kommunikation nun bringt Tomasello den Wagenhebereffekt mit der „kulturellen Dialektik“ (S.309) der arbiträren Drift in Verbindung, ohne zu bemerken, daß diese arbiträre Drift ja dem Wagenhebereffekt entgegenwirkt und z.B. zum ständigen kulturellen Wandel (Sprachwandel (vgl.S.316ff.)) beiträgt. Bei der arbiträren Drift, die ja auf das individuelle Lernen mit seinen ‚blinden Flecken‘ hinsichtlich des ursprünglichen Entstehungszusammenhangs von Traditionen zurückgeht, handelt es sich im Grunde um genau jene Rückstelltaste, die einer starren, unaufhebbaren Entwicklungsrichtung im Sinne des Wagenhebereffekts entgegenwirkt.

Nachtrag (14.12.2012): Wie wichtig so eine Rückstelltaste ist, wird an Merleau-Pontys Begriff der Inter-Subjektivität deutlich (vgl. meinen Post vom 05.12.2011). Die Rückstelltaste entspricht letztlich dem Herausfallen aus der Lebenswelt, ein Vorgang, der es uns ermöglicht, individuell zu lernen, was bei Tomasello gleichbedeutend ist mit ,unbhängig von kulturellen Einflüssen‘ (kulturelles Lernen). Vgl. hierzu auch meinen Post vom 24.05.2011.

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