„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 7. März 2024

Ich = Du. Nachtrag

Ich hatte mich früher immer gefragt ‒ im Grunde seit dem Ende meiner Kindheit ‒, wie es kommt, daß ich Ich bin. Ich konnte diese Frage nicht mit meiner Geburt, als dem Beginn der Ich-sagenden Lebensform, die ich bin, beantworten. Es genügte mir nicht, mein, wie ich es empfand, einzigartiges, unvertretbares Ich auf das Zusammentreffen einer Samen- und einer Eizelle zurückzuführen. Selbst wenn ich alle Details, alle Daten, die mich betreffen, überblicken und wissen könnte, würde ihre vollständige Gesamtheit, ihr ,Big Data‛, nicht im geringsten erklären, warum ich als Ich ausgerechnet mit diesem Körper und mit dieser konkreten personalen Existenz verbunden war.

Deshalb könnte man mich auch nicht klonen, denn dieser Klon wäre wieder ein einzigartiges, unvertretbares Ich und nicht ich. Er wäre nicht dasselbe Ich im selben Körper, nur eben an einem anderen Ort; an einer anderen Raum-Zeit-Stelle. Wie kommt also dieser Klon zu diesem Ich, das wie ich unvertretbar einzigartig ist und deshalb so wenig ich ist, wie ich er bin?

Tatsächlich ist der einzige Unterschied zwischen ihm und mir nur ein marginaler und trotzdem alles entscheidender: er besteht in der Verschiedenheit seiner Raum-Zeit-Stelle zur Raum-Zeit-Stelle, die ich mit meiner physischen Präsenz ausfülle. Solange diese Raum-Zeit-Stellen nicht zu einer einzigen verschmelzen, können wir Du zueinander sagen.

Letztlich läuft die Frage, warum überhaupt etwas ist und nicht nichts, auf die Frage hinaus, warum überhaupt etwas ist. Das Nichts ist nur ein angehängtes Nichts; ein Wort ohne Inhalt. Ein überflüssiges Anhängsel, das viel Metaphysik impliziert. Also heiße Luft.

Aber auch die Frage nach dem Sein ist nur sinnvoll in Bezug auf ein Bewußt-Sein. Also auf ein Subjekt, Ich, das diese Frage stellt. Wer sonst sollte sie stellen?

Also richtet sich die Frage nach dem ,Warum‛ des Seins letztlich auf dieses Ich-Bewußtsein. Wie kommt es, daß ausgerechnet ich in diesem Körper stecke und nicht irgendjemand anderes? Das ist die Frage, mit der meine Kindheit endete, auf die dann auch prompt weniger erfreuliche Lebensphasen folgten.

Diese Frage kann eigentlich nur von jemandem beantwortet werden, der ebenfalls Ich sagen kann, ohne ich zu sein. Oder anders: diese Frage wird in dem Augenblick überflüssig, wo jemand, der Ich sagen kann, ihr oder sein Du in mir erkennen kann. In diesem Moment wird die Frage nach dem ,Warum‛ des Ich überflüssig, weil es erkennt, das der Sinn von Ich nicht in ihm selbst zu finden ist, sondern in jenem Ich, daß Du zu ihm sagt.

Meine Formel Ich = Du entspricht mehr oder weniger Martin Bubers Dialogischem Prinzip, das auf einer ähnlichen Verhältnisbestimmung von Ich und Du basiert. Allerdings kennt er nur diese zwei Grundworte Ich-Du und Ich-Es. Ich-Wir, also die ganze gesellschaftliche Dimension, wird von ihm dem Ich-Es subsumiert und nicht als eigenständiges Grundwort ausgeführt. Aber darauf werde ich in einem späteren Blogpost, in dem ich unsere Positionen nochmal genauer differenzieren werde, zurückkommen.

Das Dialogische Prinzip von Martin Buber und der Körperleib von Helmuth Plessner bilden letztlich Korrekturbegriffe zum „cogito ergo sum“ von Descartes, das, wie Keiji Nishitani schreibt, die „lebendige innere Verbindung“ der natürlichen Welt „zum Ich“ aufgelöst und zu einer Subjekt-Objekt-Spaltung geführt hat:
„Jedes Ich wurde wie eine einsame Insel, die auf einem Meer toter Materie trieb, und gezwungen war, in der Abgeschlossenheit ihrer selbst zu verharren. Das Leben verschwand aus der Natur und den natürlichen Dingen und hörte auf, das lebendige Band zu sein, das den Menschen und die Weltdinge im Grund zusammengehalten hatte.“ („Was ist Religion?“ (1986), S.52)
Das steckt hinter dem Mißtrauen gegen jede Form von ,Bewußtseinsphilosophie‛, wie sie Vertreter der Kritischen Theorie gehegt haben. Aber ihre Verbindung von Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse macht die Sache nicht besser. Der Decartessche ,Kartesianismus‛ ist einer der Hauptgründe für die Subjektvergessenheit, wie sie die Philosophie des 20. Jhdts. durchgängig geprägt hat. Es bedarf einer Phänomenologie der Unwesentlichkeit, um diese Aversion zu überwinden.

Mittwoch, 6. März 2024

„Das Sein kann und will von sich nicht lassen.“

1. Mißbrauchserfahrungen
2. Der Schein und die Phänomenologie
3. Bewußt-Sein
4. Menschenfreundschaft
5. Grundloser Wille
6. Ich = Du

Eine Bemerkung von Lütkehaus über Eduard Hartmann hat das Potenzial, meine Formel Ich = Du zu dekonstruieren. Tatsächlich steht mir immer das Geschlechterverhältnis (Begehren) als Modell für diese Formel vor Augen. Hartmann entlarvt das Gleichheitszeichen als eine phallozentrische Rollenverteilung, in der ein männlicher Wille (Begehren) nach einer „Lebensgefährtin“ sucht, die „ihm scheinbar zu Willen“ ist, ihn aber „in der Folge nur zu seinem eigenen Besten ... mit ihren indirekten Mitteln zum Nullpunkt des Nichts“ zurückführt. (Vgl. Lütkehaus 1999, S.235)

Zum Nullpunkt des Nichts also. Keine besonders beneidenswerte Rollenzuschreibung für das weibliche Geschlecht. Von womöglich noch peinlicheren Entgleisungen weiß Lütkehaus über Jean-Paul Sartre zu berichten: „Wie sehr die erotischen, die Paar-Metaphern dabei wörtlich zu nehmen sind, zeigt Sartres ,existentielle Psychoanalyse‛. Die stupende Hommage an das ,Loch‛, die sie anstimmt, meint nicht etwa eine metaphysische Obszönität, sondern eine erotische Ontologie, eine ,Ontoerotik‛ als neueste Metamorphose der ,Ontotheologie‛.“ (Lütkehaus 1999, S.471)

Ich will Lütkehausens weitere Entfaltung der ontoerotischen Dimension des Lochs an dieser Stelle nicht weiter fortsetzen. Begriffe wie Kluft und Lücke, und letztlich Plessners „Hiatus“ würden sich in pure Pornographie verwandeln, also eben doch in eine metaphysische Obszönität. Ich könnte mich in diesem Blog nicht mehr, ohne rot zu werden, über die exzentrische Positionalität des Menschen äußern. Letztlich würde sich sogar das Gleichheitszeichen zwischen Ich und Du als eine ontoerotische „Mésalliance“ (vgl. Lütkehaus 1999, S.236) erweisen.

Ich werde jetzt also versuchen, meine Formel vor einer solchen Dekonstruktion zu bewahren. Wenn ich das Gleichheitszeichen verwende, denke ich an eine Gleichheit auf der Basis von Verschiedenheit, aber eben nicht im Sinne einer Rollenverteilung. Und ich will sie auch nicht auf Heterosexualität beschränken. Mit der über das Gleichheitszeichen vermittelten Gegenüberstellung von Ich und Du soll vielmehr eine Wechselseitigkeit von Bedürfnissen und gleichzeitig eine Sinnorientierung zum Ausdruck gebracht werden.

Die Formel Ich = Du richtet den Willen nicht nur aus (und stabilisiert ihn), sie individualisiert ihn auch im Sinne eines Bildungsprozesses. Die ruhelose, biologisch produzierte und reproduzierte, generierte und regenerierte Begierde als allgemeines Lebensprinzip bezieht sich im Gleichheitszeichen nicht einfach nur auf ein adäquates Objekt der Befriedigung, sondern vereinzigartigt sich angesichts eines konkreten Du zum Ich. Wenn Lütkehaus schreibt: Der Wille will die Welt, wie sie ist, und sie ist, wie er sie will, weil sie seine ,Sichtbarkeit‛ ist.“ (Lütkehaus 1999, S.211) ‒ dann heißt das gemäß meiner Formel: „Das Begehren will das Du, wie es ist, und es ist, wie es ist, weil es seine wechselseitige Konkretion als Ich ist.

Das ist aber keine Identitätsaussage. Die Konkretion eines Ich ist das Du nur in der Wechselseitigkeit, die wiederum die Verschiedenheit von Ich und Du voraussetzt. Mit anderen Worten: unser Begehren individualisiert sich als etwas Gemeinsames in zweierlei (oder verschiedener) Gestalt. In meinem Blog spreche ich hier immer von Zweitpersonalität oder von Dualität als einer spezifischen Sozialform.

Das muß so sein, weil wir es beim Ich und Du mit Individuen zu tun haben, die ihr Leben fristen. Und sie fristen ihr Leben nur so lange, wie sie ihre Individualität behaupten. Der Tod, der Akt des Sterbens, ist die Auflösung aller Individualität; er ist die Auflösung der individuellen Gestalt. Für diese befristete Individualität, die das menschliche Leben ist, muß ein Sinn gefunden werden. Eine Antwort auf ihr Begehren. Die einzige humane Antwort auf das Begehren, solange das menschliche Leben währt, ist aber das Du.

Indem Schopenhauer die Welt zum Sündenfall des Willens erklärt (vgl. Lütkehaus 1999, S.211f.), verfehlt er das Du und die Wechselseitigkeit des Begehrens. Alles Faktische einschließlich unseres Begehrungsvermögens wird zum Unglück. Mit Adorno: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Das Unglück, das Leid, der Schmerz sollen aber nicht sein. Der Wille, letztlich der Lebenswille, muß zum Schweigen gebracht werden. Das Ergebnis ist Annihilation, individueller und kollektiver Selbstmord. Die atomare Katastrophe bekommt einen ethischen Zweck.

Soweit geht Schopenhauer natürlich nicht, abgesehen davon, daß er von der realen Verwirklichung solcher Gedankenexperimente im 20. Jhdt. noch nichts hatte wissen können. Immerhin ist es die logische Konsequenz. Aber auch das Ich = Du käme für Schopenhauer nicht in Frage, weil es, anstatt den Willen ruhigzustellen, ihm eine Richtung gibt und ihn so verstetigt. Schopenhauers Option ist die „Interesselosigkeit“, seine Wahl die Askese. Es geht ihm nur um eine solipsistische Variante der Erlösung.

Aber Schopenhauer kannte und schätzte auch das Mitleid. Und was wäre denn Mitleid anderes als eine Form des Ich = Du? Was mich daran wieder besonders interessiert: richtet das (Mit˗)Leiden unseren Willen auf ein Du aus und tritt so, summarisch als Leiden gefaßt, an die Stelle des Gleichheitszeichens von Ich = Du, für das ich bislang das Begehren vorgesehen hatte? Meint das Gleichheitszeichen die Gleichheit des Begehrens (als Wechselseitigkeit) oder die Gleichheit des Mit-Leidens?

Ich glaube, das Gleichheitszeichen könnte für beides stehen. Lütkehaus hebt vor allem die Dimension des Leidens, das nicht sein soll, hervor, wenn er Nietzsche zitiert: „Ja, gesetzt, das Mitleiden ,herrschte auch nur Einen Tag‛ ‒ so noch die Angstphantasie des von Schopenhauer abgefallenen Nietzsche ‒, ,so gienge die Menschheit an ihm sofort zugrunde‛ ().“ (Lütkehaus 1999, S.291f.)

Hier dominiert die Unerträglichkeit eines Mitleids, die von vornherein ausschließen würde, daß es zu einer Wechselseitigkeitsbeziehung zwischen Ich und Du auch nur ansatzweise kommen könnte. Besser wäre es, sich nicht zu nahe zu kommen, denn das würde nur das potenzielle Leid qua Mitleid mindestens verdoppeln! Eine die Menschheit einbeziehende Formel würde hier also lauten: (Ich = Du) ≠ Menschheit. Eine Abschreckungsformel also. Laß dich bloß nicht auf diese Beziehung zwischen dir und der bzw. dem anderen ein!

Meine Option geht in die entgegengesetzte Richtung. Für mich ist die Wechselseitigkeit der Zweitpersonalität der Ausgangspunkt für eine humane Menschlichkeit. Also: (Ich = Du) = Menschheit.

Dienstag, 5. März 2024

„Das Sein kann und will von sich nicht lassen.“

1. Mißbrauchserfahrungen
2. Der Schein und die Phänomenologie
3. Bewußt-Sein
4. Menschenfreundschaft
5. Grundloser Wille
6. Ich = Du

Ich bezeichne mich selbst als einen aufgeklärten Nihilisten. Dabei geht es mir nicht um eine metaphysische Verhältnisbestimmung von Sein und Nichts, ausgehend von der Grundfrage was besser sei, Sein oder Nicht-Sein, sondern ganz im Gegenteil um eine Absage an jede Form von Letztbegründungsversuchen. Letztbegründungen sind Sache der Metaphysik, einer philosophischen Disziplin, mit der ich nie etwas habe anfangen können. Aufgrund der Plessnerschen Verortung des menschlichen Selbstbewußtseins im Nirgendwo, einer Absage an jede letztgültige Identitätsbestimmung des Menschen, sind wir besonders anfällig für ein nicht selten zur Sucht ausartendes Verlangen nach Identität.

Sich dem zu widersetzen impliziert tatsächlich einen gewissen Nihilismus. Deshalb spreche ich von einem aufgeklärten Nihilismus; ,aufgeklärt‛ deswegen, weil es hier um die Überwindung eines irrationalen Sogs unseres Denkens geht. Denn das Denken, das ja eigentlich für Rationalität steht, hat in sich die Tendenz, sich vom Gegenstand abzuwenden, indem es ihn in eine Dialektik überführt, die die ,Sache‛, um die es im phänomenologischen Sinne gehen sollte, auf der Suche nach ihrem letzten ,Grund‛ letztlich in ihr Gegenteil wendet.

Arthur Schopenhauer, dessen Schriften Ludger Lütkehaus neu herausgegeben hat, hat entdeckt, daß die Frage nach dem zureichenden Grund für Alles überhaupt eigentlich nur eine sinnvolle Antwort haben kann: den Willen. Der Wille ist der Grund von allem und selber völlig grundlos. Die Frage, warum überhaupt etwas ist und „nicht lieber gar nichts“, läßt sich angesichts der Grundlosigkeit des Willens nicht mehr stellen: „Und eben das ist die Antwort.“ (Lütkehaus 1999, S.210)

Damit hat Schopenhauer dem menschlichen Begehrungsvermögen die Aufmerksamkeit geschenkt, die ihm gebührt. Für das menschliche Bewußtsein gibt es nur Motive, und es sucht sich entsprechend seine Gründe, getreu der Jacototschen Formel: „Der Mensch ist ein Wille, dem eine Intelligenz dient.“ (Ranciére 2007, S.66)

Der Wille des Menschen ist zumindestens teilweise, in Form der physiologisch bedingten Bedürfnisse, ein Naturphänomen. Zu einem anderen Teil entspricht er als Bewußtseinsphänomen, ebenfalls nur teilweise, der Lebenswelt. Beide, Naturphänomene und Lebenswelt, sind auf ihre Gründe hin nicht befragbar. Das Leibnizsche „Prinzip des zureichenden Grundes“, demzufolge sich ohne zureichende Begründung „keine Tatsache als wahr oder existierend, keine Aussage als richtig erweisen kann“ (vgl. Lütkehaus 1999, S.131), ist auf den Willen nicht anwendbar, weil er Schopenhauer zufolge selbst allem, was ist und geschieht, zugrunde liegt. Und der zureichende Grund ist, was Naturphänomene und Phänomene der menschlichen Lebenswelt betrifft, eine Binse, da alles was in der Natur und in der Lebenswelt geschieht, sowieso immer schon ,begründet‛ ist aufgrund des einfachen Umstands, daß es faktisch da ist und faktisch einfach geschieht. Tatsächlich aber ist diese Faktizität bloße Kontingenz und hat mit einem wohldurchdachten Begründungszusammenhang nichts zu tun.

Daß in der Natur alle natürlichen Dinge gleichermaßen kontingent wie wohlbegründet einfach ,da‛ sind, läßt sich anhand der Evolutionstheorie verdeutlichen. Darwins Evolutionstheorie hatte aus naturwissenschaftlicher Perspektive das Manko, daß sich zwar die evolutionären Prozesse immer gut auf Bedingungen in der Vergangenheit zurückführen lassen, also in diesem Sinne wohlbegründet sind, daß aber Voraussagen über die künftigen evolutionären Schritte unmöglich, diese also letztlich grundlos sind; solange jedenfalls, wie sie noch in der Zukunft liegen. Das wirkt sich auch auf die schon in der Vergangenheit liegenden ,Gründe‛ aus, die man ja kennt. Denn da auch sie, bevor man sie kannte, nicht hatten vorhergesehen werden können, bleiben sie kontingent und die Evolution hätte auch eine andere Richtung nehmen können. Ohne nachprüfbare, weil nicht-kontingente Voraussagen ist die Evolutionstheorie aber keine vollständige, auf Kausalität beruhende Naturwissenschaft.

Evolutionäre Faktoren sind immer nur Anlässe für Entwicklung überhaupt. Andere Antworten auf diese Anlässe wären möglich gewesen. Deshalb hat alles, was faktisch ist, seinen Grund, nur eben keinen zwingenden, und tatsächlich hat alles natürliche Leben sogar unendlich viele Gründe. Alles, was in der Evolution zuvor geschehen ist, hat zum gegenwärtigen Leben in allen seinen Erscheinungsformen geführt. Auf kontingente Weise. Wenn alles in der Natur überdeterminiert ist, ist alles in der Natur kontingent.

Ähnliches gilt für die Lebenswelt. Sie ist, anders als Habermas meinte, nicht der Raum der Gründe, sondern der Raum des Sinns. Ähnlich wie die Welt der alten Griechen voll von Göttern war, ist unsere Lebenswelt voll von Sinn. Sie liefert als unbewußte Dimension des menschlichen Bewußtseins die Motive unseres Handelns, die sich mit unseren biologischen Bedürfnissen so eng verbinden, daß wir nicht in der Lage sind, sie auseinanderzuhalten. Das menschliche Bewußtsein ist durch sein Verhältnis zur Welt bestimmt. Aber zur Lebenswelt haben wir kein bewußtes Verhältnis. Wir können uns zu ihr nicht verhalten. Sie ist für unsere Fragen nach den Gründen und natürlich nach dem letzten Grund oder besser dem Sinn unseres Lebens nicht zugänglich. Deshalb ist sie auch der Raum der Sinnunbedürftigkeit. In der Lebenswelt sind Sinnfragen schlichtweg überflüssig.

Zurück zum Willen. Julius Bahnsen (1830-1881) beschreibt Lütkehaus zufolge den Willen als mit sich selbst entzweit. (Vgl. Lütkehaus, S.264) ‒ Damit spricht er das Problem eines Willens an, der sich gegen sich selbst richtet. Der christliche Begriff der Sünde basiert auf dieser Entzweiung des Willens mit sich selbst. Wenn Lütkehaus in diesem Zusammenhang aber von „eine(r) einzige(n) Mésalliance von Wollen und Nicht-Wollen, Bejahung und Verneinung, Sein und Nicht-Sein, Leben und Nicht-Leben“ spricht (vgl. Lütkehaus 1999, S.264f.), dann gehen diese antithetischen Formulierungen am Phänomen eines in sich gespaltenen Begehrungsvermögens vorbei.

Ich würde eher von einer Mésalliance von Wollen und Gegen-Wollen, Bejahung und Gegen-Bejahung, Sein und Gegen-Sein, Leben und Gegen-Leben sprechen wollen. Wie sonst könnte der Wille mit sich selbst entzweit sein? Dazu bedarf es wiederum eines Willens, eben eines Gegen-Willens. Denn von einem Nicht-Willen kann in der Entzweiung keine Rede sein. Der Nicht-Wille kann ja nicht wollen; nicht einmal verneinen, schon gar nicht ,sich selbst‛. Wenn wir hingegen von einer Mehrzahl von Willensakten ausgehen, die einander widerstreiten, dann kann es durchaus zur Verneinung bestimmter Willensakte durch andere, gegen sie gerichtete Willensakte kommen. Die Entzweiung geht also aus miteinander unvereinbaren Willensakten hervor und nicht aus antithetischen Entgegensetzungen.

Lütkehausens Formulierung läuft auf eine Dialektik von These und Antithese hinaus, in der sich Gegensätze wechselseitig negieren. Wir haben es nicht mit einem vielfältig motivierten Wollen zu tun, sondern mit einem Denken. Das Denken ist immer nur eins. Der Wille aber ist ein ganzer Gefühlshaushalt aus unterschiedlichsten Motiven. Man muß mit ihm haushalten. Nur so hält man es mit ihm aus.

Allerdings kann man durchaus wie Lütkehaus (und Schopenhauer) den Willen auch auf physiologisch bedingte Bedürfnisse zurückführen, wie etwa Hunger und Durst. Hier wollen wir vor allem die Befriedigung unserer Bedürfnisse, also daß der Wille „als Wille erlischt“. (Vgl. Lütkehaus, S.265) Aber daraus ergibt sich kein dialektischer Willensprozeß, der dem Denkprozeß als einem logischen Prozeß auseinander hervorgehender Negationen entspräche. Schon die erste ,Negation‛, also die Befriedigung des Bedürfnisses, beendet den Willen. Es kommt zu keinen weiteren Negationen und Synthesen.

Anders ist das im Gefühlshaushalt. Stets streiten die konkurrierenden Bedürfnisse miteinander um unsere Aufmerksamkeit. Ständig ändert sich der Fokus auf sie, bis sich irgendwann eine Ordnung einstellt, die wichtigere Bedürfnisse von weniger wichtigen Bedürfnissen und Bedürfnisse von Begehrungen scheidet. So entsteht allmählich ein einzelner Wille als eine die anderen Willensregungen dominierende Tendenz. Diese Tendenz entspringt einem Bildungsprozeß, aus dem sich ein individuell gestalteter Gefühlshaushalt ergibt.

Auch dieser Willensprozeß als Bildungsprozeß unterscheidet sich von einem Denkprozeß. Aber das Denken ,dient‛ ihm.

Montag, 4. März 2024

„Das Sein kann und will von sich nicht lassen.“

1. Mißbrauchserfahrungen
2. Der Schein und die Phänomenologie
3. Bewußt-Sein
4. Menschenfreundschaft
5. Grundloser Wille
6. Ich = Du

Lütkehausens Eifer, das menschenfreundliche Potenzial des Nichts als eine Befreiung aus dem Elend des Seins, das er zunächst auf den engeren Begriff des körperlichen Schmerzes und dann mit einem weiteren Horizont auf den Begriff des Leids bringt, darzulegen, mündet in einer undifferenzierten Ablehnung all jener Umstände des menschlichen Lebens, die es trotzdem irgendwie als lebenswert erscheinen lassen. Die Lust, die Liebe bis hin zu als sinnvoll erfahrenen Tätigkeiten der Lebensführung sind für ihn nur Formen der „Nichtsvergessenheit“ (vgl. Lütkehaus 1999, S.599-758), mit der er sich im kleineren zweiten Teil seines Buches auseinandersetzt. Seiner Ansicht nach täuschen sie darüber hinweg, das alle leider nur allzu kurzen schöneren Momente des Lebens nicht eine einzige Leiderfahrung wert sind:
„Die Singularität eines einzigen Leidens entscheidet angesichts der Gegenmöglichkeit eines völlig leidfreien, um kein Sein und schon gar kein gutes Sein betrogenes Nichts über die verfehlte Schöpfung.“ (Lütkehaus 1999, S.42)
Lütkehaus hält es mit dem „Waldgott Silen“, der auf die Frage, was für den Menschen das Beste wäre, antwortet, daß es das „Allerbeste“ für ihn wäre, „überhaupt ,nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber () ‒ bald zu sterben.“ (Vgl. Lütkehaus 1999, S.285)

Es gibt nur wenige Stellen in dem 758 Seiten starken Buch, die etwas freundlicher über das menschliche Schicksal sprechen, insbesondere in dem Kapitel zu Günter Anders, der der einzige der von Lütkehaus diskutierten Philosophen ist, den er uneingeschränkt anerkennt. Lütkehaus bezeichnet Günter Anders als engagierten „Antinihilisten“, der trotz seiner Einsichten in das nihilistische 20. Jhdt. immer ein „Menschenfreund“ geblieben ist. Von Günter Anders übernimmt er wohlwollend, ja zustimmend Neuformulierungen des kategorischen Imperativs: „Handle so, als ob die Maxime deines Handelns jederzeit zugleich auch begründet werden könnte.“ (Lütkehaus 1999, S.585) Hier plädiert Lütkehaus also mit Günter Anders für eine humanistische Praxis des Als-ob. Dieses Als-ob entspricht dem, was ich im zweiten Blogpost zum Scheincharakter des Mensch-Weltverhältnisses mit Plessner als zweite Naivität bezeichnet habe. Humanität ist eine Illusion. Aber wir sollten so handeln, als wäre sie keine.

Eine andere Formulierung des kategorischen Imperativs lautet: „Der wahre Moralist begnügt sich mit dem Vorletzten, der Wahl des mittleren, limitierten Horizontes zwischen moralischer Beschränktheit und Maßlosigkeit. Er handelt so, als ob Welt und Menschheit unter allen Umständen sein sollten und einen Sinn hätten.“ (Lütkehaus 1999, S.586)

Dieser Imperativ klingt sogar ein wenig nach Hans Jonas und seinem „Prinzip Verantwortung“, das ansonsten bei Lütkehaus nicht so gut wegkommt wie die Anderssche Position. Aber bei Jonas fehlt auch die Als-ob-Haltung. Er argumentiert nicht phänomenologisch, sondern ontologisch.

Jedenfalls macht Andersens Als-ob-Praxis gelebter Menschenfreundschaft deutlich, daß kein Weg von der Totalabstraktion eines, wie Lütkehaus sich ausdrückt, „nichtsigen Nichts“ zur gelebten Praxis der Menschenfreundschaft führt. Eine solche Praxis muß immer unbegründet bleiben, weil sie eben unbegründbar ist. Menschenfreundschaft gibt es nur im Zeichen des Als-ob. Deshalb frage ich mich, woher die Vehemenz kommt, mit der sich Lütkehaus gegen die Bedürfnisse, überhaupt gegen das ganze Begehrungsvermögen des Menschen richtet, zu dem ja auch das Bedürfnis nach Sinn gehört?

Eine Antwort auf diese Frage habe ich schon im ersten Blogpost zu den Mißbrauchserfahrungen gegeben, die Lütkehaus mit der Sündenpraxis des Christentums gemacht hat. Diese Mißbrauchserfahrungen haben bei Lütkehaus zu einer Fixierung auf ein Nichts geführt, das er angesichts der Misere des christlichen Seins als Erlösung empfunden hatte. Aber das Nichts ist nun mal ein leerer Begriff, und, wie Lütkehaus selbst entschieden hervorhebt, solche Begriffe, denen die Anschauung fehlt, sind blind. (Vgl. Lütkehaus 1999, S.34) Wer sie verwendet, sagt mit ihnen .nichts‛. Und das sagt schon alles.

Im Unterschied zu Günter Anders war Nietzsche kein Menschenfreund. Aber er war ein Lebensfreund und das hielt ihn davon ab, zugleich mit der schlechten Welt auch die Erde zu verwerfen, auf der wir leben.

Aber diese ,Erde‛ wird von Nietzsche zu einem Ganzen überhöht, zu dem die Menschen keinen Bezug haben können, weil sie, wie Lütkehaus Nietzsches Position beschreibt, „totalitätsinkompetent“ seien: „Der Mensch als perspektivisch gebundenes Wesen ist hier prinzipiell unzuständig; er ist totalitätsinkompetent.“ (Lütkehaus 1999, S.330)

Gerade diese perspektivische Beschränktheit müßte aber einer angemessenen Bestimmung des Mensch-Weltverhältnisses zugrundegelegt werden. Wenn wir uns ernsthaft mit dem Menschen befassen wollen, müssen wir die Frage nach seiner Sinnfähigkeit stellen und von ihr aus dem Vorwurf seiner angeblichen Totalitätsinkompetenz begegnen. Um eine angemessene Antwort auf diese Frage zu finden, müssen wir zugleich klären, was es mit seinem Sinnbedürfnis und überhaupt mit seinem Begehrungsvermögen auf sich hat. Dazu in den folgenden Blogposts mehr.

Mit scheint eine gewisse Bescheidenheit angebracht zu sein, wenn wir uns mit der Frage nach dem Sinn des Lebens befassen. Jeder Versuch, den Sinn auf einen letzten Grund zurückzuführen oder ‒ was auf dasselbe hinausliefe ‒ ihn auf ein größeres Ganzes zu beziehen, das über die menschliche Lebenszeit hinausgeht, wird letztlich im Nichts münden; nämlich in einer Abstraktion. Und angesichts einer solchen Totalabstraktion erweist sich der Mensch tatsächlich nicht nur als totalitätsinkompetent, sondern eben auch als unfähig, seinem Leben einen Sinn zu geben.

Fragen nach dem Sinn des Ganzen dürfen weder auf einen letzten Grund zurück- noch auch auf einen letzten Zweck vorausführen, sondern müssen sich auf die begrenzte Lebenszeit des Menschen beschränken. Bei Nietzsche ist das anders. Er führt die „Gränze“ des perspektivischen, spezifisch menschlichen In-der-Welt-Seins nicht auf die begrenzte Lebenszeit zurück, sondern auf das alles Sein umfassende Nichts. (Vgl. Lütkehaus 1999, S.332) Er klammert den Menschen aus seiner Rechnung aus. Der Mensch ist nur noch das, was überwunden werden muß.

Der Fehler in dieser Rechnung ist, daß sie nicht berücksichtigt, daß auch das menschliche Weltverhältnis für den Menschen ein Ganzes bildet, in dem er sich vorfindet als etwas, das allenfalls seinen Anfang kennt, aber nicht sein Ende, solange er lebt, bis zu dem Augenblick, wo er stirbt. Solange aber der Mensch sein Ende nicht kennt, solange er also lebt, bleibt ihm natürlich das Ganze seines Lebens, seiner Lebensführung, verborgen. Das hat aber nichts mit Inkompetenz zu tun. Es handelt sich vielmehr um eine anthropologische Grundbedingung der menschlichen Existenz. Das bedeutet wiederum nicht, daß der Mensch der Welt nicht exzentrisch gegenüber stehen könnte. Exzentrizität im Plessnerschen Sinne läuft nicht auf eine Entgrenzung der menschlichen Perspektive auf die Welt hinaus. Sie bedeutet lediglich die Nivellierung der Perspektive; eine Neutralität im Verhältnis zwischen Innen und Außen, der Welt in mir und der Welt mir gegenüber.

Diese exzentrische Position ermöglicht dem Menschen ein Sinnverhältnis. Und zwar nicht zu einem Sinn für das Ganze, denn das kennt er ja nicht. Sondern zu einem Sinn im Rahmen seiner begrenzten Perspektive, also ,für sich‛. Das Für-sich ist die einzige Perspektive, in der die Frage nach dem Sinn Sinn macht und in der sie notwendig ist; lebensnotwendig. So lange wir nämlich leben und so lange wir unser Leben führen.

Der Nihilismus kommt vom Leid und vom Mit-Leid. Jedes, auch das geringste Leid, rechtfertigt das Nichts. Die Lebensbejahung aber kommt vom Sinn. Jeder, auch der geringste Sinn rechtfertigt das Leben.

Nur deshalb, vom Für-sich her, ist der Sinn so grundlegend für das menschliche Leben und für die menschliche Lebensführung. Sinnvolles Leben ist immer gerechtfertigt. Sinn überwindet das Leid. Innerhalb der Grenzen von Geburt und Tod überwindet Sinn auch das Nichts, aus dem wir kommen und in das wir gehen.

Weil der Sinn ein Bewußtseinsbegriff ist, macht es auch keinen ,Sinn‛, ihn auf Größen wie den Weltraum, den Kosmos, zu beziehen oder ihn mit dem Nichts zu konfrontieren. Der Sinn ist selbst nichts außerhalb des subjektiven Bewußtseins und er ist für sich selbst ein Ganzes. Deshalb ist seine eigentliche Grenze auch nicht das Nichts, sondern die Sinnlosigkeit. Etwas als sinnlos zu empfinden und gar das eigene Leben als sinnlos zu erleben, ist die Bresche, durch die das Nichts an den Grenzen von Geburt und Tod mitten in unser Leben, in unser Bewußtsein hereinbricht.

Die Welt des Menschen ist eine sinnhafte Welt. Sie ist eine Lebenswelt. Es gibt die Lebenswelt nur, weil wir ein subjektives Bewußtsein haben. Und Bewußtsein ist immer subjektiv. Die Lebenswelt ist nicht der Raum der Gründe, wie Habermas meint, sondern der Raum des Sinns; besser: der Raum der Sinnunbedürftigkeit. Sie ermöglicht es, daß wir weiterleben können, ohne nach dem Sinn fragen zu müssen. Sie bewahrt uns davor, daß wir bemerken, wie sinnlos unser Leben möglicherweise ist; nämlich sinnlos ,für mich‛. ,Für die Gesellschaft‛ kann mein Weiterleben durchaus äußerst sinnvoll sein. Sie verbraucht mich, so lange sie mich brauchen kann; so lange, bis ich ,für sie‛ unbrauchbar geworden bin. Aber da die Lebenswelt nichts anderes als subjektives, sowohl individuell wie kollektiv, Bewußtsein ist, ist wiederum die Gesellschaft in dem Moment, wo mein Leben für mich keinen Sinn mehr macht, selber sinnlos und deshalb nichtig.

Hier kann der Nihilismus, der keine Annihilation ist, tatsächlich zu einer Befreiung werden. Wir können in einer Krise aus unserer Lebenswelt herausfallen. Eine solche Krise kann einen neuen Anfang ermöglichen. Denn in dem Moment, wo ich mir der Nichtigkeit meiner Lebensführung bewußt werde, kann ich mich auch neu orientieren. In welche Richtung auch immer.

Sonntag, 3. März 2024

„Das Sein kann und will von sich nicht lassen.“

1. Mißbrauchserfahrungen
2. Der Schein und die Phänomenologie
3. Bewußt-Sein
4. Menschenfreundschaft
5. Grundloser Wille
6. Ich = Du

Neben der Unterscheidung zwischen einem minderen und einem höheren, eigentlichen Sein gibt es noch die zwischen einem Für-sich-Sein und einem An-sich-Sein, mit der Sartre arbeitet. (Vgl. Lütkehaus 1999, S.448ff.) Dabei steht das An-sich für die „volle Positivität“ der Wirklichkeit: „Das Sein ist an sich. Das Sein ist das, was es ist.“ (Lütkehaus 1999, S.48). Das Für-sich steht hingegen für das Bewußtsein, also für das Subjekt, für das alles Wirkliche fraglich ist: „Das radikal verschiedene Sein des ,Für-sich‛ hingegen, ebenso scharf wie bei Heidegger das ,Dasein‛ von allem anderen Seienden unterschieden, läßt sich hingegen definieren ,als das seiend, was es nicht ist, und als nicht das seiend, was es ist‛ (). Es ist ein Sein von gebrochener Identität, stets Abstand haltendes Bewußtsein.“ (Lütkehaus 1999, S.449)

In seinem Sartre-Kapitel (vgl. Lütkehaus 1999, S.432-473) hebt Lütkehaus hervor, daß es vor allem Sartre war, der die Heideggersche Ontologie zu einem Existenzialismus subjektiviert hat, indem er den Fokus vom Sein weg auf eine zentrale Emotion verschob: auf den Ekel. Indem er die Dimension des Für-sich ‒ und gerade der Ekel ist ein höchst intensives Für-sich (Menschen unterscheiden sich u.a. darin von anderen Menschen, wovor sie sich jeweils ekeln) ‒ ins Zentrum stellte, war es nicht mehr das Sein des Seienden, sondern das Bewußt-Sein des Existierenden, um das es von nun an philosophisch ging.

Der Ekel ist der negative Pol unserer Begierden. Wo das Begehren nach Berührung verlangt, nach gegenseitiger Durchdringung und Einverleibung, ist der Ekel durch eine Kontaktaversion gekennzeichnet. Was Allergien für den Körper sind, ist der Ekel für das Bewußtsein. Das ist der Grund, warum Sartre den Menschen vom Ekel her denkt. Dem Ekel der Übersättigung, wenn uns alles zu viel wird. Zu viel Welt, zu viel Menschen, zu viel Sex, zu viel Reichtum ‒ es gibt eigentlich nichts, vor dem wir uns nicht ekeln könnten, wenn es uns über alles Maß hinaus bedrängt und es uns zum Ersticken zu eng wird.

Lütkehaus ist das alles zu subjektiv, vor allem was die erotischen Implikationen des Ekels betrifft. Er wirft Sartre eine „geradezu leidenschaftliche Seinsbegierde“ vor und mokiert sich über die erotischen „Paarmetaphern“ (vgl. Lütkehaus 1999, S.471), deren sich Sartre bedient, über ihre mal süßlich-eklige, mal wieder vom Ekel freie erotische Dimension (vgl. Lütkehaus 1999, S.440, 445, 473). Damit wird er aber dem subjektiven Charakter eines Bewußtseins nicht gerecht, das in einer ambivalent empfundenen Welt ,existiert‛.

Sartre universalisiert also das Ekelgefühl zu einem umfassenden Weltverhältnis. Es richtet sich gegen die gleichermaßen aufdringliche wie kontingente Übermacht des Faktischen, des An-sich, das dem menschlichen Bewußtsein, so Sartre, zu viel wird. Lütkehaus schreibt: „Das ,Bewußtsein‛ drückt das mit ,anthropomorphen Begriffen‛ in der Sprache des ,Ekels‛ so aus, daß es ,zu viel‛ sei.“ (Lütkehaus 1999, S.448)

Zu viel also der Positivität im An-sich-sein aller Dinge. Das Für-sich des menschlichen Bewußtseins kann diese von ihm unabhängige Positivität nur negieren. Gleichzeitig aber kann es sich selbst nicht positivieren. Es negiert alles, aber es selbst wird für sich dadurch nicht zu etwas Positivem. Auch in diesem Unvermögen dem Positiven gegenüber wurzelt der Ekel.

Zugleich aber wurzelt darin auch unsere Freiheit, insofern der Ekel für das Bewußtsein einen Raum schafft, in dem es Abstand zu den Dingen in ihrem An-sich halten kann. (Vgl. Lütkehaus 1999, S.452) Letztlich erfüllt der Ekel bei Sartre eine ähnliche Funktion für das Bewußtsein, wie sie bei Plessner das scheiternde Begehren innehat. Weckt bei Plessner allererst das unbefriedigte Begehren ein Bewußtsein unserer selbst, so schafft bei Sartre der Ekel einen Freiraum, einen Spielraum, in dem sich dieses Selbst entfalten und zur Welt auf Distanz gehen kann.

Aber ähnlich wie das mindere Sein des falschen Scheins bei den Ontologen steht das Bewußtsein bei den Vertretern der Kritischen Theorie in Verruf. Für die Kritische Theorie ist „Bewußtseinsphilosophie“ ein Schimpfwort. Für sie hat der Mensch ein Gesellschaftswesen zu sein. Ich halte dagegen, daß die Philosophie entweder Bewußtseinsphilosophie ist oder sie ist keine Philosophie.

Wenn wir uns dem Bewußtsein zuwenden, müssen wir uns mit diesem Für-sich, wie es im Ekel zum Ausdruck kommt, auseinandersetzen. Es macht keinen ,Sinn‛, das Bewußtsein auf Größen wie den Weltraum, den Kosmos, zu beziehen oder es mit dem Nichts zu konfrontieren. Im Positiven wie im Negativen ist beides zu viel. Der Sinn unseres Lebens, unserer Lebensführung (Existenz), ist für sich selbst ein Ganzes. Er macht, daß sich Bruchstücke, Episoden in ihm zusammenfügen. Was getrennt zu sein schien, wird durch ihn als Zusammenhang empfunden. Er ist immer auf die eine oder andere Weise, individuell oder kollektiv, subjektiv.

Deshalb ist unsere eigentliche Grenze auch nicht das Nichts, sondern die Sinnlosigkeit. Etwas als sinnlos zu empfinden und gar das eigene Leben als sinnlos zu erleben, ist die Bresche, durch die das Nichts an den Grenzen von Geburt und Tod mitten in unser Leben und in unser Bewußtsein hereinbricht.

Davor schützt die Lebenswelt. Für die Kritischen Theoretiker: die Lebenswelt ist mehr oder weniger das, was ihr Gesellschaft nennt. Aber sie ist durch und durch ein Bewußtseinsbegriff. In den folgenden Blogposts soll es deshalb vor allem um die Sinnfrage gehen; auch dies wieder in einer Gegenwendung zu Lütkehausens Position.

Samstag, 2. März 2024

„Das Sein kann und will von sich nicht lassen.“

1. Mißbrauchserfahrungen
2. Der Schein und die Phänomenologie
3. Bewußt-Sein
4. Menschenfreundschaft
5. Grundloser Wille
6. Ich = Du

Das mindere Sein ist also der Schein, der von der europäischen Metaphysik und der Ontologie des 20. Jhdts. in platonischer und christlicher Tradition gegenüber dem eigentlichen, verborgenen, göttlichen Sein abgewertet wird. Dafür steht insbesondere auch Heideggers „Seinsvergessenheit“. Seit Schopenhauer wird der Scheincharakter der Welt auch mit dem Schleier der Maya aus den Upanishaden gleichgesetzt. Auf den letzten Seiten von Hermann Hesses „Glasperlenspiel“ (verschiedene Fassungen von 1934-1977) heißt es über Dasa, den Protagonisten des indischen Lebenslaufs, der gerade aus einem langen intensiven Traum über ein mit Gattin, Sohn und Herrscherwürden ausgestattetes Leben erwacht. Der Traum endet mit einer Schlacht, in der Dasa Frau und Kind und seine Herrscherwürde verliert und gefangen genommen wird. Erwachend stellt er fest:
„Er hatte weder eine Schlacht noch einen Sohn verloren, er war weder Fürst noch Vater gewesen; wohl aber hatte der Yogin seinen Wunsch erfüllt und ihn über Maya belehrt: Palast und Garten, Bücherei und Vogelzucht, Fürstensorgen und Vaterliebe, Krieg und Eifersucht, Liebe zu Pravati und heftiges Mißtrauen gegen sie, alles war Nichts ‒ nein, nicht Nichts, es war Maya gewesen! Dasa stand erschüttert, es liefen ihm Tränen über die Wangen, in seinen Händen zitterte und schwankte die Schale, die er soeben für den Einsiedler gefüllt hatte, es floß Wasser über den Rand und über seine Füße.“ („Das Glasperlenspiel“, 1996, S.603)
Hier ist der Kern dessen zusammengefaßt, was die Abwertung des Scheins beinhaltet, nämlich die Abwertung aller Begierden einschließlich des Begehrens als eines Nichts, mit dem nicht etwa das Nichts der Versenkung und der Bedürfnislosigkeit gemeint ist, sondern das nichtige Sein.

Nun gibt es aber eine geistige Disziplin, die genau diesen Schein ins Zentrum ihres Denkens stellt: die Phänomenologie. Zwar hatte noch Edmund Husserl in der Nachfolge von Hegels „Phänomenologie des Geistes“ und Kants transzendentaler Vernunftkritik den verschiedenen Erscheinungen ein Wesen zugeschrieben, das sich uns in der Meditation einzelner Phänomene erschließt. Aber der Schein ist hier nicht mehr das Falsche im Widerspruch zum wahren, eigentlichen Wesen dieser Phänomene. Dieser Schein ist vielmehr die Weise, wie sich diese Phänomene einem Bewußtsein ,geben‛. Der Schein ist das Für-sich des Bewußtseins. Aber das An-sich der Phänomene ist offenbar und nicht mehr verborgen. Sie zeigen sich. Der Schein ist die Weise, in der sie sich zeigen.

Ich ziehe es inzwischen vor, auch nicht mehr vom ,Wesen‛ zu sprechen, denn Husserl wollte damit das menschliche Bewußtsein und die damit zusammenhängenden Begierden und Begehrungen einklammern. Er interessierte sich mehr für ein Bewußtsein überhaupt, das über konkrete Bewußtseinsformen wie das des Menschen hinausgeht. Auch darin liegt eine Abwertung, zumindestens in dem Sinne, daß für ihn das menschliche Bewußtsein für eine philosophische Reflexion nicht in Betracht kam. Metaphysik war ihm trotz seines Aufrufs „Zurück zu den Sachen!“ wichtiger.

Lütkehaus ergreift in seinem Buch Partei für ein unschuldiges Nichts, das nichts gemein hat mit einer minderen Seinsform. Dabei geht er so weit, seinerseits jede „Wertlehre“, die höhere Güter gegen geringere Güter abwägt, als bloß „ontomorph“ abzuwerten. (Vgl. Lütkehaus 1999, S.642) Letztlich aber verweisen Begriffe wie Moral, Mitleid oder Wille (ebenda) immer auch auf konkrete menschliche Bedürfnisse, die berechtigte Ansprüche an unsere Urteilskraft stellen. Wir dürfen sie nicht einfach als ontomorphe Kategorien des Seins abtun, denn sie bestimmen im vielfältigen Motivgefüge des Menschen das Humanum, das für jede substanzielle Menschenfreundschaft unverzichtbar ist. Dieses Humanum hat auch mit einem abstrakten, dem Nichts gegenübergestellten Sein, das genauso abstrakt ist wie dieses Nichts, nicht das geringste zu tun. Mit Moral, Mitleid und Begehren geht es um konkrete Menschlichkeit. Wir befinden uns mit diesen Begriffen auf der subjektiven Ebene des Scheins: der Empfindsamkeit.

Wenn Helmuth Plessner für seine philosophische Anthropologie Nietzsches Begriff der zweiten Naivität in Anspruch nimmt, dann u.a. weil mit ihr der Scheincharakter des menschlichen Weltverhältnisses rehabilitiert wird. Auch Lütkehaus findet im langen Nietzschekapitel (vgl. Lütkehaus 1999, S.274-381) Formulierungen, die auf eine zweite Naivität verweisen, in der das gebrochene menschliche Bewußtsein in ein neues Verhältnis zur Welt eintritt: „Wenn die Wahrheit und zumal diese Wahrheit Verzweiflung, Tod und Vernichtung bedeutet, dann werden allein Kunst, Illusion, Wahn, selbst Lüge ‒ alle Formen des Scheins werden von Nietzsche angesichts der Wahrheits- als Todesdrohung zusammengefaßt ‒ zum Garanten des Lebens. ... Dann muß der ,Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung‛, ja zur ,Unwissenheit, Ungewißheit, Unwahrheit () für ,tiefer und ursprünglicher‛ als der ,Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit‛ gehalten werden ().“ (Lütkehaus 1999, S.314)

Wenn man mal von dem Plädoyer für Unwissenheit absieht, entspricht diese zweite Naivität dem, was ich in Abgrenzung zu Husserl als Phänomenologie der Unwesentlichkeit oder schlichter als unwesentliche Phänomenologie bezeichnen möchte. Plessner sah in dieser Naivität eine positive Möglichkeit des Menschseins, daß wir nämlich im Wissen um die Illusionen diese Illusionen transformieren können. Es geht dann nicht mehr darum, ob sie wahr sind, sondern ob sie Sinn machen.

Lütkehaus bezweifelt hingegen mit seinem Verweis auf Nietzsche, daß man „im Wissen um die Illusionen für die Illusionen sprechen (kann)“. (Vgl. Lütkehaus 1999, S.316) Ich glaube aber mit Plessner, daß sie uns tatsächlich die Chance bieten, uns mit ihrer Hilfe, im Sinne eben einer zweiten Naivität, uns in einer Welt einzurichten, die ‒ obwohl Bewußtseinskorrelat und deshalb ,für uns‛ ‒ ,an sich‛ nicht länger unsere Heimat ist.

Eine Phänomenologie der Unwesentlichkeit führt den Schein auf ein Subjekt zurück, das um den von ihm selbst produzierten Scheincharakter der Welt, um ihr Für-sich, weiß. Dieses Subjekt wird nicht länger versuchen, auf der Objektseite ein an sich seiendes Wesen ausfindig zu machen. Es wird das Fürs-Bewußtsein-sein der Objekte, ihr Für-sich, als Gabe verstehen, die es ihm erlaubt, in einer fremden Welt sein Leben zu führen.

Freitag, 1. März 2024

„Das Sein kann und will von sich nicht lassen.“

1. Mißbrauchserfahrungen
2. Der Schein und die Phänomenologie
3. Bewußt-Sein
4. Menschenfreundschaft
5. Grundloser Wille
6. Ich = Du

Dieser Satz, daß das Sein von sich nicht lassen kann und will (vgl. Lütkehaus 1999, S.722), enthält die gleichermaßen dringliche wie verfehlte Fragestellung des Buchs „Nichts“ (1999) von Ludger Lütkehaus. Zum einen wird das Sein in diesem Satz als ein bedürftiges Subjekt inszeniert, das weder von sich lassen kann noch will. Zum anderen aber ist das Sein in seiner durch Hamlet geprägten Fragestruktur „Sein oder Nicht-Sein?“ und als seit Leibniz verschieden variierte „Grund-Frage“: Warum ist überhaupt etwas und nicht Nichts?, nur ein Abstraktum, so wie auch das Nichts nur ein Abstraktum ist.

Je nach Profession bildet dabei mal das Sein (Ontologen) und mal das Nichts (Nihilisten) die höchste Form der Abstraktion, als „Totalabstraktion“, die von allem abstrahiert: auch vom konkreten bedürftigen Subjekt. (Vgl. Lütkehaus 1999, S.522f., 607, 661) Wenn etwas nicht von sich lassen kann und will, ist es gewiß nicht das ,Sein‛ und schon gar nicht das ,Nichts‛, demgegenüber, als Nicht-Sein, das Sein nur als Nicht-Nichts minimalbestimmt ist, sondern eben jenes bedürftige Subjekt.

Warum also diese seltsame Formulierung, in der Lütkehaus dem Sein Prädikate zuweist, die ihm gar nicht zukommen, als könnte es Akte verzweifelter Selbstbehauptung vollziehen, wie wir sie nur von einem um seine Existenz ringenden Shakespeareschen Hamlet kennen? Die Antwort liegt wohl, wie ich vermute, in Lütkehausens eigener Biographie, und diese Antwort liefert zugleich das Grundmotiv für das 758 Seiten starke Buch, das im Titel den „Abschied vom Sein“ mit der Hoffnung auf ein „Ende der Angst“ verknüpft.

Elf Jahre vor dem Mißbrauchsskandal in reformpädagogischen und kirchlichen Einrichtungen läßt Lütkehaus eigene Mißbrauchserfahrungen zu Wort kommen: „Am gnadenlosesten aber hat das Christentum sich hier an denen vergangen, von denen es behauptete, daß sie ihm am meisten am Herzen liegen: den Kindern. Das, um für einen Moment ganz unchristlich zu sprechen, ist dem Christentum nicht zu verzeihen.“ (Lütkehaus 1999, S.33)

Zunächst ist diese Bemerkung noch so allgemein gehalten, daß sie bloß als ein historischer Hinweis auf eine verhängnisvolle Seite des Christentums zu verstehen sein könnte, das mit seiner Erbsündenlehre sogar unschuldigen Neugeborenen mit ewigen Höllenstrafen droht, worauf ja auch Lütkehaus selbst viele hundert Seiten später gegen Ende des Buchs noch einmal explizit hinweist:
„Ja, dem Gottesfreund Augustinus ist so sehr an der Bevölkerung, wenn nicht Überbevölkerung der real existierenden Hölle gelegen, daß er selbst die früh verstorbenen Kinder, die nicht getauft wurden, nicht getauft werden konnten: die tatsächlich nur von einem Mangel, einem Glaubensmangel, einem privaten Nichts geschlagen sind, den ewigen Höllenstrafen überantwortet.“ (Lütkehaus 1999, S.705)
Doch tatsächlich bezieht sich Lütkehaus nicht einfach nur auf historische Daten, sondern er besteht darauf, daß wir es hier mit persönlichen Erfahrungen eines heutigen Zeitgenossen zu tun haben. Denn wer, wie Lütkehaus schreibt, „zu so harschen Urteilen“ über das Christentum gelangt, „wird wohl seine Ursachen, wenn nicht Gründe dafür haben ‒ nur daß eben alles Denken seine Genealogie hat, nicht als Jungfernzeugung eines Heiligen Geistes entsteht, ja gerade aus seiner Genealogie seine Legitimität bezieht: Wovon man sprechen will, darüber muß man eine Erfahrung haben. ... Begriffe ohne Anschauungen bleiben nun einmal leer ‒ wie freilich auch persönliche Anschauungen ohne korrektive Begriffe blind.“ (Lütkehaus 1999, S.33f.)

Gleich zwei philosophische Autoritäten, Wittgenstein und Kant, zieht Lütkehaus heran, um die Dimension der Erfahrung als unverzichtbare Grundlage aller unserer Urteile ins Spiel zu bringen. Hier spricht ein Zeuge; ein Augenzeuge. Womöglich gar ein Opfer.

Dabei kann ruhig offen bleiben, worin genau die Mißbrauchserfahrung von Lütkehaus besteht; ob sie ,nur‛ eine geistig-seelische oder auch eine körperliche Dimension hatte. Wer wie der Autor von „Nichts“, der sich mit einem „Abschied vom Sein“ das „Ende der Angst“ erhofft, in einem engen katholischen Milieu aufgewachsen ist, wird sehr wohl auch dann, wenn er vom priesterlichen Zugriff auf den Körper von Kindern beiderlei Geschlechts verschont geblieben ist, gelernt haben, was es bedeutet, unter ständigem Sündenverdacht zu stehen. Dazu reichte schon ein Blick in den Beichtspiegel, den jedes Kind in seinem Gebetsbuch einsehen konnte, wenn es zur Beichte ging, um daraus zu lernen, was es zu beichten hatte. Denn von sich aus konnte es das ja nicht wissen. Das richtige Sündenbewußtsein mußte ihm erst beigebracht werden.

Wovon kann und will es also nicht lassen, das ,Sein‛, über das sich Lütkehaus beschwert, dabei sehr wohl wissend, wessen Diktion er hier reproduziert? Dieses Sein, das bedauerlicherweise einfach nicht lassen kann von dem, was ist, ist sündhaft, denn was ist, ist schlecht. Es kann nicht lassen von dem, was lebt. Aber alles animalische Leben ist Fleisch (obwohl die christlichen Fastenregeln das anders sehen); und Fleisch ist Begierde, Geilheit, der ewigen Höllenstrafe verfallen. Ja, so ist es: wir selbst sind es, die vom Fleisch, das wir sind, nicht lassen können! Davon ist hier die Rede, von uns, von unserem Fleisch, wenn vom Sein die Rede ist.

Der Mensch, der in seinem Sein ursprünglich gottgleich, Gottes Ebenbild gewesen ist und keine Krankheit, keinen Tod kannte, ist mit seiner Vertreibung aus dem Paradies zu einem Sein minderer Qualität verurteilt worden. Das eigentliche Sein ist von nun an bei Gott, der das mindere Sein gnädigerweise kontinuierlich mit Seinem Sein umfaßt. Die Ebenbildlichkeit des Menschen degeneriert zum Schein. Sie ist nur noch das minderwertige Abbild des göttlichen Originals.

Das ist also der Kern der Mißbrauchserfahrung, die Lütkehaus als tägliche Erfahrung seinem Begriff vom „Nichts“ zugrundelegt. Deshalb kann er vom Sein und vom Nichts, vom Sein als Nicht-Nichts und vom Nicht-Sein des Nichts philosophieren, weil er nämlich diese Anschauung als gelebte Praxis der christlichen Erbsündenlehre vor Augen hat. Als die reinen Abstrakta, die Sein und Nichts für sich genommen sind, als Totalabstraktionen von allem, was das Verhältnis von Mensch und Welt konkret bedeutet, gäbe es weder Grund noch Anlaß, nur einen Tag oder auch nur eine Stunde, geschweige denn ein solches dickes Buch darauf zu verschwenden. Erst der kirchliche Mißbrauch gibt diesen Begriffen Bedeutung.

Auch deshalb unterscheidet Lütkehaus zwischen Nihilismus und Annihilismus. Das Christentum ist nicht einfach nihilistisch. Es annihiliert!

Denn dieses mindere Sein, das der Mensch ist, will trotzig an sich festhalten. Es will seltsamerweise einfach nicht von sich lassen, von sich und seinem Elend. Es zieht die Misere seines Fleisches der Heimkehr ins göttliche Sein vor. Irgendwas stimmt also nicht mit der christlichen Lehre von der Erlösung. Was hat es mit dem falschen Schein einerseits und mit dem wahren Sein andererseits tatsächlich auf sich? Darum soll es in den folgenden Blogposts gehen.