„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 21. April 2024

Übergänge


In der Kette der Wiedergeburten
wandern die Seelen nicht mit.
Doch die mondhellen Nächte, sie spurten
die See, und die Spur hielt Schritt.

Samstag, 20. April 2024

„Die Leere ist das Selbst.“

1. Prolog
2. Atheismus und Humanismus
3. Religion
4. Die Kreismetapher
5. Die Bürde
6. Paradoxe Argumente? ‒ Zur Methode
7. Dualität
8. Die letzte große Umkehr
9. „Selbstentleerung“

Als Titel dieser neunteiligen Blogpostreihe habe ich ein Zitat aus Nishitanis Buch „Was ist Religion?“ (1980/1982/(2)1986) genommen. Vollständig lautet das Zitat: „Nicht das Selbst ist leer, sondern die Leere ist das Selbst(.)“ (Nishitani 1986, S.225)

Dieser Satz leuchtet mir unmittelbar ein, ohne daß ich etwas von Nishitanis begleitenden Erläuterungen verstehen müßte. Auch wenn ich mich nur auf dem Feld des Bewußtseins befinde und nicht auf dem von „sunyata“ (Leere), fern von jeder Erleuchtung, kann ich mit diesem Satz doch etwas anfangen. Allerdings liegt meinem Verständnis vom Selbst als Leere eine andere Anschauung zugrunde. Für mich hängt diese Leere mit dem Begriff der Lebenswelt zusammen, die sich zu einem individuellen Selbstbewußtsein verbesondern, aber auch zu einem Massenbewußtsein ausufern kann. Von dieser Lebenswelt umfaßt befindet sich das Bewußtsein in seinem eigenen Feld in der Leere. Deshalb ist die Lebenswelt, wie ich sie verstehe, auch eher der Raum der Sinnunbedürftigkeit als des Sinns. Vielleicht ist diese lebensweltliche Erfahrungs- und Anschauungsform kompatibel mit dem, was im folgendem Satz gemeint ist: „Das nihilum kann nur existentiell gewußt werden.“ (Nishitani 1986, S.274)

So wie mir geht es vermutlich vielen Menschen meines Kulturkreises. Auch sie sind offen für Aussagen, die im Rahmen ihrer lebensweltlichen Erfahrungen ,Sinn‛ machen, mit denen aber eigentlich ganz etwas anderes gemeint ist. Etwas, das in einem Kulturkreis Sinn macht, wie ihn Nishitani repräsentiert. Diese Anfälligkeit für die Sinngehalte kurzer, prägnanter Lehrsätze öffnet Scharlatanen und Verbrechern Tür und Tor für den Mißbrauch an der sich ihnen anvertrauenden Klientel.

Und diesen Mißbrauch hat es nicht nur in der katholischen Kirche gegeben und gibt es ihn dort auch noch, sondern es gab und gibt ihn auch im Buddhismus. Und er geht von denselben Autoritäten aus: hier vom Klerus, dort von den ,Meistern‛ und Gurus.

In „Missbrauch und Buddhismus: Hinter der lächelnden Fassade“ (o.J.: https://info-buddhismus.de/Missbrauch-und-Buddhismus_Anna-Sawerthal.html) zitiert die Autorin Fatma Altzwinger, Psychotherapeutin und Ansprechperson für sexuelle Gewalt der ÖBR (Österreichische Buddhistische Religionsgesellschaft)):
„Es ist eine Selbstentleerung. In der Massenpsychologie wird das als starke Identifizierung mit dem Führer erklärt. Alles, was er will und macht, ist gut. Dann ist es nicht möglich, sich gegen ihn zu wehren.“
Bei dem Wort „Selbstentleerung“ horche ich auf. Auch Nishitani verwendet dieses Wort, um Praktiken im „Feld der Leere“ zu beschreiben. (Vgl. Nishitani, 1986, S.170u.ö.) Dabei wird aber nirgends erklärt, wovon genau sich das Feld der Leere entleert, es sei denn vom Selbst? Ich bin aus dem Begriff bis zum Schluß nicht wirklich schlau geworden.

Wenn man bei der Selbstentleerung an den Begriff der „ewigen Wiederkehr“ (Nietzsche) denkt, an die Kette der Wiedergeburten, dann liegt ihr Nishitani zufolge die Struktur der menschlichen Bedürfnisse und des Begehrungsvermögens zugrunde. (Vgl. Nishitani, S.356f.) Er bezeichnet das auch als unendliche Endlichkeit. Sich von diesen Bedürfnissen frei zu machen könnte vielleicht als Selbstentleerung bezeichnet werden. In diesem Sinne fordert Nishitani eine letzte große Umkehr, die sich von der „säkularen“, „endlos ungerichtete(n) Erregbarkeit“, also von allen unseren Bedürfnissen und Begehrungen, abwendet. (Vgl. Nishitani 1986, S.356)

Aber die eigentliche Crux bei der ewigen Wiederkehr ist nicht die sich stetig erneuernde Bedürftigkeit selbst, sondern ihre Ablehnung als sündhaft. Ewig wiederkehrend, in Ost und West, in Süd und Nord, ist die Unterdrückung unserer Gefühle und unseres Begehrungsvermögens.

Wenn dann noch die „Liebe“ als eine höchste Form von „Erleuchtung“, als „Buddha“ selbst proklamiert wird, dann ist die Rückfrage unvermeidbar, inwiefern denn die Liebe kein „unendlicher Impuls“ (Nishitani 1986, S.356) ist? Inwiefern, frage ich mich, hat die Liebe als Erleuchtung nichts mit unserem Begehrungsvermögens zu tun? Inwiefern ist eine nichts begehrende Liebe eine bessere Liebe als eine Liebe, die begehrt?

In unseren ambivalenten Vorstellungen von Begehren und Liebe liegt der Grund dafür, daß es auch im Buddhismus mißbrauchte Liebe gibt. Die Hingabe von Frauen und Männern an ihre ,Meister‛ und Gurus führt oft von Seiten der unhinterfragten Autoritäten zu einem krassen Vertrauensbruch, in dem sie ihre eigenen, bei anderen verteufelten, Bedürfnisse auf Kosten ihrer Klientel befriedigen.

Auf der Suche nach Orientierung und Unterstützung können sich diese Menschen nicht einmal auf so beeindruckende Persönlichkeiten wie den Dalai Lama verlassen, der den von Mißbrauchsvorwürfen schwer belasteten Lama Ogyen Kunzang Dorje (Robert S.) durch einen Besuch in dessem Zentrum in Brüssel ehrte:
„Verschiedene tibetische Lehrer brachten ihm Legitimation, indem sie OKC besuchten – bis heute. 1990 kam der Dalai Lama ins Zentrum in Brüssel. Seit 1991 war OKC unter der spirituellen Leitung von Shechen Rabjam und Pema Wangyal, zwei wichtigen Lehrern. Damals gab es schon etliche Opfer sexueller Gewalt.“
Wenn Anna Sawerthal, die Autorin von „Missbrauch und Buddhismus“, schreibt: „Grundsätzlich wird das Ego als Hauptquelle allen Leidens im Buddhismus identifiziert. Wenn man Erleuchtung erlangen will, muss man die Egozentriertheit aufgeben. Das heißt nicht, dass man den Verstand ausschalten soll. Man soll ihn viel eher dazu benutzen, um die Flüchtigkeit und Bestandslosigkeit der Dinge zu verstehen.“ ‒ dann geht das am eigentlichen Problem vorbei. Denn mit dem Begriff „Egozentriertheit“ werden so verschiedene Phänomene wie Verstandesautonomie, Bedürftigkeit und Begehrungsvermögen zu einem einzigen unterschiedslosen Brei zusammengerührt, den dann der jeweilige Guru ganz nach seinem Belieben seinen Anhängern einflößen kann. Diesen Gurus geht es eben genau darum, zu ihrem eigenen Vorteil den Verstand ihrer Klientel auszuschalten. Und das Bedenkliche daran ist, daß sie dabei ohne Probleme auf zentrale buddhistische Formeln zurückgreifen können, weil es in diesen Formeln genau darum geht: Praktiken zu legitimieren, die den individuellen Verstand ausschalten.

Tatsächlich treibt auch Nishitani der Liebe ganz im christlich-buddhistischen Sinne jeden Anschein von Begehrlichkeit aus. (Vgl. Nishitani 1986, S.116f.) Anstatt zuzulassen, daß unser Begehrungsvermögen eine Differenz setzt, was subjektiv als begehrenswert erscheint und was nicht, im Sinne eines Willensakts, präferiert Nishitani die göttliche Dimension der „Indifferenz“. Göttliche Liebe markiert keinen Unterschied. Für sie ist alles gleich. (Vgl. Nishitani 1986, S.116) An dieser göttlichen Liebe soll sich der Mensch ein Beispiel nehmen. Denn menschliche Liebe ist bloß egozentrisch; eben weil sie einen Unterschied macht.

An dieser Stelle setzt seit Jahrtausenden das Patriarchat an: als ewige Wiederkehr des Mißbrauchs durch Unterdrückung des Begehrungsvermögens. Wer so vom Menschen denkt, als sündhaft begehrendes Ego, will ihn überwinden. Der Mensch soll kein Mensch mehr sein. Autoritäre Ver- und Gebote ‒ Du darfst nicht begehren, aber Du sollst lieben! Du darfst nicht wollen, aber Du sollst wollen, was Gott will! ‒ führen mit ihrer paradoxen Struktur planvoll-manipulierend zu einer den eigenen Verstand außer Kraft setzenden, grundlegenden Desorientierung der Betroffenen.

Dieser Verwirrung leistet auch Nishitani Vorschub; insbesondere auch mit seinen ständigen Vergleichen des Christentums mit dem Buddhismus, in denen er die autoritären Strukturen von Hierarchien legitimiert.

Freitag, 19. April 2024

„Die Leere ist das Selbst.“

1. Prolog
2. Atheismus und Humanismus
3. Religion
4. Die Kreismetapher
5. Die Bürde
6. Paradoxe Argumente? ‒ Zur Methode
7. Dualität
8. Die letzte große Umkehr
9. „Selbstentleerung“

Es sind stets dieselben Übergänge zwischen drei ,Feldern‛ bzw. ,Standorten‛, auf die Nishitani in seinem Buch immer wieder in großen Schleifen und unter Verwendung von Analogien, buddhistischen Leerformeln und paradoxen Redewendungen zurückkommt: die Übergänge zwischen dem Feld des Bewußtseins (Sinnlichkeit und Vernunft), dem Feld des nihilum, das sich noch immer auf dem Feld des Bewußtseins befindet, aber es auch (von unten her) durchbricht, und dem Feld der Leere, das sich jenseits des Bewußtseinsfeldes befindet, aber es zugleich umfaßt und alle Seinsbestimmungen, die das nihilum mit einer umfassende Negation außer Kraft gesetzt hatte, wieder in Kraft setzt.

Bis zum Feld des nihilum hatte ich Nishitani folgen können, insofern ich auf eigene Erfahrungen zurückgreifen konnte und ich deshalb auf diskursive Erläuterungen nicht angewiesen war. Gleichzeitig wehrte ich mich dagegen, meinen eigenen Verstand abzuschalten und auf eine „Erleuchtung“ zu setzen, zu der mir jede Anschauung fehlt.

Auf den letzten 146 Seiten wendet sich Nishitani nun einem weiteren ,Feld‛ zu bzw. er spricht von einer „Umkehr“, die auf dem „Feld der Leere“ noch ausstehe; von „einer letzten großen Umkehr“, die, wenn ich das richtig verstanden habe, noch über das Feld der Leere hinausgeht. (Vgl. Nishitani 1986, S.278) Inwiefern sich mit dieser letzten großen Umkehr ein neues Feld eröffnet, wird dann aber von Nishitani nicht weiter ausgeführt.

Auch auf den folgenden Seiten ist dann wieder vor allem vom „Feld der Leere“ die Rede, ohne daß Nishitani noch mal auf die angekündigte Umkehr zurückkommt. Jedenfalls leitet Nishitani diesen Teil des Buches mit folgender Frage ein:
„Selbst wenn sich aus dem Prozeß des existenzialen Ergründens des Seins, der im konkreten Leben des Menschen in der Welt von Geburt-und-Tod einsetzt, solche Aussagen (über das Feld der Leere ‒ DZ) zurecht ergeben, sind sie dann auch nach der Wendung von der samsarischen Welt (samsara: endlose Wiederholung von Geburt und Tod ‒ DZ) hin zum jenseitigen Ufer noch gültig?“ (Nishitani 1986, S.278)
Es hört sich zunächst so an, als würde jetzt noch einmal alles, was Nishitani über das Feld der Leere geschrieben hat, wieder in Frage gestellt und als wäre das Feld der Leere selbst noch einmal zu einem „jenseitigen Ufer“ hin begrenzt. Dabei überrascht mich in dem Zitat das Wörtchen „zurecht“ (Hervorhebung von mir), das so harmlos daherkommt, womit aber Nishitani tatsächlich den Anspruch erhebt, daß alle seine bisherigen Ausführungen wohlbegründet gewesen seien und ihre ,Gültigkeit‛ erst jetzt angesichts des jenseitigen Ufers in Frage stünde. Von wohlbegründeten Ausführungen habe ich in meiner ganzen Lektüre bis zu diesem Moment aber nichts bemerkt. Alles basiert auf einer dem Verstand nicht zugänglichen Erleuchtung. Wo sie fehlt, kann sie niemandem etwas begründen.

Trotzdem will ich hier noch mal auf eine Stelle eingehen, die ich doch recht interessant finde. Ich möchte in diesem Zusammenhang vom „Buddha-Feld“ sprechen, weil Nishitani sich jetzt öfter direkt auf Buddha bezieht, den er bisher nur hin und wieder und dann nur am Rande erwähnte. Wenn ich also vom Buddha-Feld spreche, meine ich das, was Nishitani das „wahre Leben des Buddha“ nennt. (Vgl. Nishitani 1986, S.278).

Im Buddha-Feld kommunizieren Nishitani zufolge „Buddha-Geist“ und menschlicher Geist wie zwei „Spiegel“ miteinander (vgl. Nishitani 1986, S.279), was Nishitani auch als „lebendige Kommunikation“ bezeichnet (vgl. Nishitani 1986, S.280). Diese Kommunikation unterscheidet sich von jeder menschlichen Kommunikation als Kommunikation „ohne Rest“. Es gibt also keine Differenz von Sagen und Meinen. Buddha-Geist und menschlicher Geist sind demnach im Buddha-Feld nicht mehr zweierlei, sondern Eins, was angesichts dessen, was Nishitani zuvor über die „Nicht-Zweiheit“ im Feld der Leere geschrieben hat, logisch ist.

An einer früheren Stelle, in der es um das „sanzen“ ging, um die Meditationstechnik des mit-verschränkten-Beinen-Sitzens, zitiert Nishitani den Zen-Meisters Daito Kokushi: „... den ganzen Tag Gesicht zu Gesicht sitzend, doch keinen Augenblick ein Gegenüber.“ (Nishitani 1986, S.178) ‒ So also sitzen sich Buddha und Mensch gegenüber: ohne „Gegenüber“. Also zwei als Eins in lebendiger Kommunikation.

Die „wechselseitige Übertragung von ,Sinn‛“ ist ohne Rest. (Vgl. Nishitani 1986, S. 280) Wir haben es mit einer Kommunikation bzw. mit einer Sprache zu tun, die nicht mehr expressiv ist: mit einer Identität von Meinen und Sagen, so wie ja auch die Spiegelung zweier Spiegel das Gespiegelte ohne Differenz wiedergibt. Wir haben es mit einem Gleichheitszeichen in dieser Beziehungsform zu tun, wenn man denn überhaupt von einer Beziehungsform sprechen kann, das eine Identität ausdrückt: Ich = Ich ohne Umweg über ein Du.

Mit anderen Worten, Buddha und menschlicher Geist haben einander in dieser „lebendigen Kommunikation“ nichts zu sagen. Das japanische Wort für diese Bedeutungsidentität ist Nishitani zufolge „koto“, das er mit „Urbegegnung mit den Sachen selbst“ übersetzt. (Vgl. Nishitani 1986, S.280) Das erinnert an Husserls Aufruf „zurück zu den Sachen selbst“ und ist von Nishitani wohl auch so gemeint. Aber wo Sachen sind bzw. wo Phänomene sind, muß es Subjekte geben. Wo Subjekte sind, muß es eine Welt geben. Denn auch eine Urbegegnung ist immer noch eine Begegnung zwischen Zweien, selbst dort, wo ich bloß mir selbst begegne.

Donnerstag, 18. April 2024

„Die Leere ist das Selbst.“

1. Prolog
2. Atheismus und Humanismus
3. Religion
4. Die Kreismetapher
5. Die Bürde
6. Paradoxe Argumente? ‒ Zur Methode
7. Dualität
8. Die letzte große Umkehr
9. „Selbstentleerung“

Als ich das erste Mal in Keiji Nishitanis Buch „Was ist Religion?“ (1986) auf den Begriff der „Dualität“ stieß, dachte ich zunächst, es handele sich um eine Version der Zweitpersonalität, also um eine besondere Dimension des Sozialen, die ich mit der Formel Ich = Du zusammenfasse. Zu diesem Eindruck trug auch folgendes Zitat bei:
„Da wir gewöhnlich in der Weise des bewußten Selbst-Seins existieren, halten wir uns selbst und den anderen als ,Menschen‛ für absolut getrennte Existenzen. Auf der Ebene aber, die unmittelbarer ist als die des personalen Selbstseins, sind das Selbst und der Andere, wiewohl als ,Personen‛ absolut geschieden, in dieser Dualität zugleich absolut nicht-dual in ihrer Impersonalität.“ (Nishitani 1986, S.139)
Ich interpretierte die absolute Geschiedenheit zweier Personen, von der in diesem Zitat die Rede ist, als Bestätigung der Einzigkeit des Ich, wenn es Ich sagt, bei gleichzeitiger Anerkennung der Einzigkeit des Ich seines Mitmenschen, zu dem es Du sagt. Dann gehörte zur Einzigkeit des Ich untrennbar die Gleichheit des wechselseitigen Du, und beides wäre in gewisser Weise tatsächlich nicht-dual und transpersonal.

Aber transpersonal ist eben nicht impersonal. Mit meiner Formel vom Ich = Du hat Nishitanis Begriff der Dualität nicht das geringste zu tun. Ihm geht es nicht um eine Gleichheit zwischen Ich und Du in ihrer Verschiedenheit, sondern um die nicht-duale Identität unzähliger impersonaler non-ego-Zentren im Feld der Leere. Hier haben wir es mit einer Gleichheit jenseits des subjektiven Bewußtseins zu tun. Weder Ich noch Du spielen hier eine Rolle. Wenn bei Nishitani von „Dualität“ die Rede ist, ist vor allem die Spaltung zwischen „Subjekt und Objekt“ gemeint. (Vgl. Nishitani 1986, S.202; vgl. auch S.177, 184) Nishitani stellt sich deshalb das Ding bzw. das Objekt nicht als Du vor, sondern als das „Andere“, das im Feld der Leere „selbst-identisch“ mit dem Selbst ist. Nishitani geht es vor allem um Seinsweisen und nicht um (soziale) Beziehungsformen.

Besonders deutlich wird das am Begriff der „Nicht-Zweiheit-von-Selbst-und-Anderem“. (Vgl. Nishitani 1986, S.393) So verweist Nishitani z.B. auf das Prisma, das das Licht in seine verschiedenen Farben zerbricht. Das Licht ist das Selbst und die Farben sind das Andere. Das Licht und die Farben sind gleichzeitig „absolut geschieden und absolut vereint oder vielmehr: absolut selbst-identisch“: „Sie sind absolut zwei und zugleich absolut eins.“ (Nishitani 1986, S.177)

Wir haben es hier also nicht etwa mit einer sozialen Beziehungsform, mit einer Zweitpersonalität, zu tun, sondern die Zweiheit spielt auf die bewußtseinsstiftende Spaltung zwischen Subjekt und Objekt an, und die Nicht-Zweiheit meint die Aufhebung dieser Spaltung im Feld der Leere, wenn die Farben sich ,versammeln‛ und sich wieder zum Licht zusammenfügen, als Identität von Subjekt und Objekt. An die Stelle der cartesianischen Spaltung von ego und non-ego tritt „das absolute selbst-identische ,Eins‛, das so, wie es ist, das absolute ,Zwei‛ ist.“ (Nishitani 1986, S.184)

Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, inwiefern im Feld der Leere „alle Dinge herbeieilen und das Selbst praktizieren“. (Vgl. Nishitani 1986, S.184) In dem Feld, in dem die Subjekt-Objekt-Spaltung aufgehoben wird, kommt es zu einer „wechselseitige(n) Durchdringung“ des Selbst mit allem, in dem Sinne, in dem Nishitani an anderer Stelle von der „Indifferenz der Liebe“ spricht. (Vgl. Nishitani 1986, S.116) Denn wo die Differenz von Subjekt und Objekt aufgelöst wird, wird überhaupt nicht mehr unterschieden: alles Eins und selbst-identisch.

Letztlich bezieht Nishitani die Religion auf eine Dimension jenseits des Sozialen. Eigentlich fokussiert er vor allem das Selbst als Identität mit sich selbst und allem anderen. Die Beziehungen zwischen den Menschen werden so sehr auf ein Weltganzes, ein Welt-All hin überschritten, daß diese Welt nicht nur kein Korrelatbegriff des menschlichen Bewußtseins mehr ist, sondern auch der Mensch selbst, als Mensch, wird überwunden. Er wird überwunden, indem er entgrenzt wird, so wie es in der Kreismetapher keine Kreislinie mehr gibt, sondern nur noch unendlich viele Zentren.

Eine seltsame ,Sammlung‛ ist das, diese im Feld der Leere, im Welt-Raum zerstreuten Zentren. Ich frage mich, ob das Feld der ,Leere‛ genau das meint: eine leere, wüste Einöde.

Mittwoch, 17. April 2024

„Die Leere ist das Selbst.“

1. Prolog
2. Atheismus und Humanismus
3. Religion
4. Die Kreismetapher
5. Die Bürde
6. Paradoxe Argumente? ‒ Zur Methode
7. Dualität
8. Die letzte große Umkehr
9. „Selbstentleerung“

Wie ich schon in meinem letzten Blogpost zur „Bürde“ ausführte, schreibt Nishitani in seinem Buch „Was ist Religion?“ (1986) von einem „Nicht-Tun“ (Nishitani 1986, S.379f., 386ff.), das er als ein freies Spiel beschreibt, also als ein als-ob-Tun. Das ähnelt dem, was Plessner mit Nietzsche als zweite Naivität bezeichnet. Nishitani ordnet das als-ob-Tun dem Feld der Leere zu: „Und in diesem Feld ist ständiges Tun (samskrta) ständiges Nicht-Tun (asamskrta).“ (Nishitani 1986, S.380)

Bei der Gleichsetzung von Tun mit dem Nicht-Tun im Feld der Lehre, in dem nicht mehr zwischen Ernst bzw. Arbeit und Spiel unterschieden wird, haben wir es mit einer besonderen ,Argumentationsweise‛ zu tun: mit der Verwendung von Paradoxa, die an sich keine Argumente sind, sondern nur als rhetorische Marker innerhalb einer argumentativen Auseinandersetzung Sinn machen. An dieser Stelle signalisiert ein Gesprächspartner, daß er jetzt bewußt von der logischen bzw. diskursiven Struktur einer regelkonformen Argumentation abweicht, um jemandem etwas zu denken zu geben.

Das Paradox markiert gewissermaßen eine Denkpause im Diskurs, ein Atemholen, in dem die Gesprächsteilnehmer sich frei für eine Intuition machen, die dem Gespräch eine andere Richtung geben könnte.

Bei Nishitani ist das anders. Bei ihm wird das Paradox selbst zum Argument. Seine Behauptungen haben durchgehend eine paradoxe Struktur, in der eine Aussage mit ihrer Gegenaussage, ein Begriff mit seinem Gegenbegriff konfrontiert wird, aber dann nicht wie in einem dialektischen Verfahren als These und Antithese auf einer neuen logischen Ebene in eine Synthese überführt werden. Vielmehr werden sie gleich als dieser Gegensatz, ohne dialektische Auflösung, als dasselbe identifiziert. Tun ist dann Nicht-Tun, Selbst ist Nicht-Selbst, Leben ist Tod und Tod ist Leben, schon als geborenes Leben und als sterbendes Leben in ein und demselben Moment einer Erleuchtung.

Das ist so auf dem Feld der Leere. Nicht so auf dem Feld des Bewußtseins, das der Dualität verfallen ist und wo Leben nicht Tod ist und Tod nicht Leben und wo alles Handeln etwas bewirkt und sogar Nicht-Handeln nicht ohne Wirkung bleibt. Das Bewußtsein kennt nur Dualität, das Feld der Leere hingegen hebt alle Unterschiede auf und Alles ist Eins.

Weil den Paradoxa jeder logische Impuls fehlt, wie er vor allem im Satz vom Widerspruch zum Ausdruck kommt, als etwas, das in der klassischen Logik nichts zu suchen hat, aber in der Dialektik zum Motor des Denkens wird, erschöpft sich Nishitanis ,Argumentation‛ in bloßen Benennungen und in bildhaften Veranschaulichungen, die er regelmäßig wiederholt, als könnten sie irgendetwas erklären. So ist z.B. bezüglich des Buddha-Feldes vom „Abfallen von Leib/Seele“, vom „ursprüngliche(n) Antlitz“, vom „sanfte(n) Geist“ und vom „samadhi des Selbstgenügens“ die Rede. (Vgl. Nishitani 1986, S.290) Diese unterschiedlichen Benennungen desselben Sachverhalts enthalten schon als Benennungen Bilder, die selbst oft wieder paradox sind, oder sie werden von ,erläuternden‛ Bildern begleitet. die eigentlich selbst noch einmal der Erläuterung bedürften, aber einfach so in den Gedankenraum gestellt werden, als wären sie, qua Anschauung, selbsterklärend. (Vgl. Nishitani, S.290f.) Wem dann aber die Anschauung nicht genügt, dem fehlt auch die Erleuchtung.

Das mag der Natur des Gegenstands geschuldet sein, der sich Nishitani zufolge der diskursiven Vernunft entzieht. Was mich aber mißtrauisch macht, ist die obsessive Berufung auf Autoritäten, etwa gegen Ende des Buchs die sich häufende Verwendung der Autoritätsformel „Buddha und die Patriarchen“ (vgl. Nishitani 1986, S.289f.u.ö.), die anscheinend den diskursiven Mangel wettmachen soll. Alle Benennungen und Bilder werden immer wieder bestimmten Autoritäten zugeordnet und in eine Tradition gestellt, die für die Legitimität der aufgestellten Behauptungen bürgen soll. Das erinnert mich sehr an die katholische Kirche. Nicht umsonst lautet der Buchtitel: „Was ist Religion?“

Paradoxe Formulierungen, die exzessive Bildsprache und die ständige Beschwörung von christlichen und buddhistischen Autoritäten können aber, anstatt sich darauf zu beschränken, gelegentlich eine produktive Denkpause in den Diskurs einzubauen, den Verstand auch ausschalten und uns dem manipulativen Einfluß vermeintlicher Autoritäten ausliefern. Dann haben wir es nur noch mit einer Pseudoargumentation zu tun, die sich darauf konzentriert, Behauptungen als Begriffe zu verkaufen, die weder logisch noch analytisch hergeleitet werden.

Selbst dort, wo ich in Nishitanis bildhaften und paradoxen Lehrformeln Anklänge zu meinem eigenen Denken finde, wird in der letzten Konsequenz nicht an die individuelle Urteilskompetenz von Leserinnen und Lesern appelliert, sondern jede Tendenz, in freier Verantwortung mitzudenken, durch autoritäre Schlußfolgerungen untergraben. Auf den letzten dreißig Seiten finde ich Formulierungen, die ich mit meinen Vorstellungen von Ich=Du und mit dem, was ich unter dem Willen verstehe, vereinbaren kann. Auf Ich=Du läuft folgendes Zitat hinaus:
„Im Feld der Leere gibt es keinen Unterschied zwischen der Selbstzentriertheit bzw. dem auf sich selbst gerichteten Dasein und dem Auf-Anderes-Gerichtetsein. In unserem Dasein selbst sind beide eine Aufgabe, eine Berufung.“ (Nishitani 1986, S.393)
Diesem Zitat kann ich ohne weiteres zustimmen und mit meiner Vorstellung von Ich=Du vereinbaren. Denn dieses Zitat sagt eine fundamentale Gleichheit zwischen mir und der bzw. dem Anderen aus, die sich im wechselseitigen Du als Ich bestätigen.

Dennoch beruht die Aussage dieses Zitats nicht auf einer Verhältnisbestimmung von Ich und Du, sondern auf der Behauptung einer „Nicht-Zweiheit von Selbst und Anderem“ (vgl. Nishitani 1986, S.393), weil Nishitani anders als ich alles Seiende in diese Beziehungsform mit einbezieht; also nicht nur Menschen, sondern auch alle lebenden Organismen und anorganische Materie. Diese Einbeziehung ist bei mir nur vermittelt über die menschliche Zweierbeziehung mitgedacht.

So weit so gut. Hier kommt eine legitime Differenz der Standpunkte zum Ausdruck. Beide Standpunkte haben ihre Berechtigung. Sie sind diskursfähig. Dann folgt aber auf derselben Seite diese Textstelle:
„Wenn dir ein Buddha begegnet, so töte ihn; wenn dir ein arhat (Heiliger ‒ DZ) begegnet, töte ihn; wenn dir Vater und Mutter begegnen, töte sie; wenn dir deine Verwandten begegnen, töte sie; erst dann wirst du Befreiung erlangen und in vollkommen unabhängigem Selbstsein leben, ohne in alle anderen Wesen verstrickt zu sein.“ (Nishitani 1986, S.393)
Das ist eine Unmenschlichkeitsformel, die dem Mißbrauch im Umgang zwischen den Menschen Tür und Tor öffnet. Ich denke z.B. an psychoanalytisch geschulte Therapeuten ‒ bei denen es dann übrigens tatsächlich angebracht wäre, sie zu töten ‒, die ihrer Klientel qua Gedächtnismanipulation (Gehirnwäsche) einreden, sie wäre von ihren Eltern manipuliert und mißbraucht worden und um sich selbst zu finden, müßte sie sie ,töten‛, sie also mit diesem Mißbrauchsvorwurf konfrontieren und für immer verlassen. Daß sich die Betroffenen oft gar nicht an den Mißbrauch erinnern können, gilt dann als Beleg dafür, daß der Mißbrauch stattgefunden hat, weil er verdrängt worden ist.

Auf diese Weise wird der Verstand der Menschen außer Kraft gesetzt. Einen ähnlichen Argumentationsmechanismus verwendet auch Nishitani mit seinen Paradoxa: das Paradox, daß etwas nicht etwas ist und gerade deshalb etwas ist, gilt dann als Beleg für die Tiefe, für die Authentizität, für die Wahrheit der Aussage. Je weniger wir eine Aussage mit unserem Verstand nachvollziehen können, um so wahrer und um so wichtiger ist sie für unser Leben.

Dieser Form der Selbstaufwertung einer Aussage durch eine gegenteilige Aussage, die für beide Teile der Aussage, für ihre Affirmation und für ihre Negation, gleiche Gültigkeit behauptet, bedient sich auch das folgende Zitat:
„Wahre Selbstzentriertheit bedeutet, daß durch die absolute Negation des Selbst, die in der Umkehrung vom Feld des nihilum zum Feld der Leere und vom Feld des karma zu dem des Nicht-Selbst entsteht, das Selbst absolutes Zentrum wird.“ (Nishitani 1986, S.394)
Das Paradox besteht also in der zusammengefaßten Formel: Selbst = Nicht-Selbst. Darin könnte man vielleicht auch wieder eine Entsprechung zu meiner Formel Ich = Du sehen. Tatsächlich aber zieht Nishitani aus seiner Formel den Schluß: „Da muß ein absolutes Töten des Selbst sein. Dieses Töten heißt auch das Töten der Buddhas und Patriarchen und alles Anderen.“ (Nishitani 1986, S.394)

Ich habe kein Problem mit dem ,Töten‛ von Autoritäten, jedenfalls nicht im übertragenen Sinne, sei es nun Buddha oder seien es die Patriarchen oder die katholischen Päpste. Aber gegen das Töten des Selbst und von allen und allem Anderen habe ich schon ein paar Einwände. Auch die Dialektik läßt Widersprüche gelten und arbeitet mit ihnen, aber anders als das Paradox. Das Paradox läßt den Widerspruch nicht einfach nur gelten, sondern läßt es unaufgelöst im Denkraum stehen. Er ist als solcher schon wahr. Vielleicht ist das der Grund, daß alles getötet werden muß? Bei Nishitani jedenfalls bedeutet das Paradox, daß wir die Widersprüche nicht nur einfach aushalten sollen, sondern daß wir töten sollen. Das ist Futter für Demagogen und Autokraten.

Auch Plessner will die Hiatus-Erfahrung nicht auflösen, sondern sie festhalten. Seine Antwort auf die Hiatus-Erfahrung, daß wir mit unserem Handeln, mit unseren Planungen, mit unserer Kontrolle in der Welt immer wieder scheitern, besteht darin, diese Erfahrung nicht einfach zu leugnen oder sie aufzulösen, sondern als Erfahrung festzuhalten. Diese Antwort auf die Hiatus-Erfahrung läuft aber nicht auf ein „absolute(s) Töten des Selbst“ hinaus, sondern meint seine exzentrische Positionierung, die eine neue Perspektive der Neutralität eröffnet. Also kein entweder-oder, sondern ein sowohl-als-auch. Innen und Außen, Selbst und Anderes sind Sichtweisen auf denselben Sachverhalt, wie er sich in unserem Körperleib manifestiert. Der Verstand wird nicht außer Kraft gesetzt. Er wird lediglich perspektiviert. Das ist Phänomenologie.

Dienstag, 16. April 2024

„Die Leere ist das Selbst.“

1. Prolog
2. Atheismus und Humanismus
3. Religion
4. Die Kreismetapher
5. Die Bürde
6. Paradoxe Argumente? ‒ Zur Methode
7. Dualität
8. Die letzte große Umkehr
9. „Selbstentleerung“

Die christliche Erbsündenlehre ist Nishitanis Dreh- und Angelpunkt bei seinem Vergleich zwischen dem Christentum und dem Buddhismus. (Vgl. Nishitani, 66ff.) Er setzt die Erbsünde mit dem Karma gleich und identifiziert dabei die Nichtigkeit des menschlichen Selbst mit dem christlichen Sündenbegriff. Inwiefern aber ist das Selbst nichtig? Was genau ist es, das das menschliche Selbst sündhaft macht? Und inwiefern wird die Erbsünde wie in der durch das Karma verursachten Kette der Wiedergeburten von Generation zu Generation weitervererbt?

Mit dem Begriff der Sünde ist die Vorstellung von einem Vergehen, vom Übertreten eines Gebots verbunden. Deshalb haben wir es beim Begriff der Sünde mit einer Schuld zu tun, die der Sünder aus seinem ,Konto‛ gewissermaßen ,tilgen‛ muß, um sein Seelenheil nicht zu gefährden.

Zum Begriff der Schuld gehört der Begriff der Schuldenlast. Wir haben es hinsichtlich der Schuld mit einer Bürde zu tun, die wir tragen und die wir abtragen müssen. Eine Bürde ist aber nicht dasselbe wie eine Sünde. Worin genau besteht also nun die Sünde bzw. das Vergehen, das mit dem Begriff der Erbsünde verbunden ist? Und worin genau besteht die Last, die das Karma für den gläubigen Buddhisten bedeutet? Beide, Erbsünde und Karma, scheinen durch den Begriff der Schuld miteinander verbunden zu sein.

Was die Erbsünde betrifft, besteht sie nach der biblischen und christlichen Tradition vor allem in der Sexualität, in der Geschlechtlichkeit des menschlichen Körpers bzw. ,Fleisches‛, wie es insbesondere im christlichen Teil der Bibel als etwas an sich Sündhaftes und Verdammenswertes dargestellt wird. Alle Begierden bis hin zu allen Willensakten dürfen nicht um ihrer selbst willen verwirklicht und genossen werden, sondern müssen immer über Gott gerechtfertigt werden und Seinem Willen entsprechen. Für sich selbst darf der Mensch nichts wollen. An dieser Stelle setzt die Erbsünde ein.

Was das Karma betrifft, spricht Nishitani wie schon erwähnt von einer Bürde bzw. von einer Last, die wir mit unserem Tun anhäufen. Das Tun wiederum, vor allem innerhalb des Bewußtseinsfeldes, verbindet Nishitani, ähnlich wie die Christen die Erbsünde, mit dem Begehren. Das Karma anhäufende Tun hat, schreibt Nishitani, die „Form eines triebhaften und begehrenden, d.h. ,vitalen‛ Lebens“. (Vgl. Nishitani 1986, S.155) ‒ Unsere Verstrickung ins Karma qua Verstrickung ins begehrende Tun bildet eine unendliche Endlichkeit: schnell befriedigt, aber immer wieder aufflammend oder unbefriedigt und unterschwellig weiter schwelend.

Aber anders als das Christentum kennt der Buddhismus keine Praxis der Buße. Es gibt keine Entsündung, keine Befreiung vom Karma. Auch wenn Buddhisten durch eine veränderte Praxis, durch anderes Handeln versuchen, sich von ihrem Karma zu befreien, häufen sie gerade dadurch nur noch mehr Karmalasten, noch mehr Karmaschuld auf, weil sie das Feld des Bewußtseins nicht verlassen. Das Karma, wie das Begehren, hat die Struktur einer schlechten Unendlichkeit bzw. einer unendlichen Endlichkeit. Es ist das Begehren.

Diese Unendlichkeitsstruktur, also das ununterbrochene Herumzappeln im Netz unserer Befreiungs- bzw. Befriedigungsversuche, wird von Nishitani auch als „Seelenwanderung“ beschrieben. Der Mensch ist sterblich, also endlich, aber das Leben ist unendlich: auf den Tod folgt die Wiedergeburt, unendliche Endlichkeit. Unsere zwanghaften Versuche, uns aus den kausalen Verstrickungen „unseres zwanghaften Beschäftigtseins“ zu befreien, häufen die Schuldenlast, die wir tragen, weiter an. (Vgl. Nishitani 1986, S.336)

So wird die Last unserer kausalen Verstrickungen zur Schuld und das Begehren wird zur Sünde. Die Last wird zum Begehren und das Begehren zur Last. Das ist eine nachvollziehbare Genese der Begriffe Sünde, Schuld und Bürde (Karma). Aber ich halte dagegen, daß weder Last und Schuld einerseits noch Begehren und Sünde andererseits irgendetwas miteinander gemein haben. Wir haben es hier mit einer heillosen Vermengung anthropologischer Fundamentalbestimmungen mit religiös motivierten Moralbegriffen zu tun, die jedes emanzipatorische Eigeninteresse der Betroffenen im Keim erstickt.

Zunächstmal sind Lasten nur Lasten und als solche nicht irgendwie selbstverschuldet, und Begehren ist allererst nur Begehren und nicht als solches irgendwie sündhaft. Hier wird schon im Ansatz unnötig moralisiert. Es gibt allerdings ein Mißverhältnis zwischen der Befristung unserer Lebenszeit und der Möglichkeit gelingenden Lebens. Dieses Mißverhältnis verwandelt sich in den von Nishitani beschriebenen Zwang, „unentwegt neu sein zu müssen“, um sich nicht resigniert mit etwas zufrieden geben zu müssen, das hätte besser sein können. Die ,Seelen‛ müssen über den Tod hinaus ,wandern‛, auf der Suche nach einem besseren Leben: „Der Terminus karma drückt ein Gewahren der Existenz aus, in der ,Sein‛ und ,Zeit‛ eine unsägliche Last für uns darstellen, und zugleich das Gewahren der eigentlichen Natur der Zeit selbst.“ (Nishitani 1986, S.337)

Die Kette der Wiedergeburten drückt also dieses zwanghafte weiter-leben-Müssen um eines einzigen gelingenden Lebens willen, dem dann endlich das Nirwana folgen kann, adäquat aus. Das Begehren selbst aber hat damit nur am Rande etwas zu tun, insofern es natürlich selbst zur Last, zur Bürde werden kann, wenn ihm die Befriedigung versagt bleibt. Es ist lediglich diese Struktur, die dem Karma ähnelt. Aber das Begehren in einen Zusammenhang mit der Erbsünde zu bringen, bedeutet nichts anderes, als einem unglückseligen Mißbrauchsmechanismus, der hier die Form einer moralinsauren Vermengung von befristeter Lebenszeit, Begehren und individueller Schuld annimmt, an derem Ende Höllenqualen drohen, „Furcht und Zittern“, durch die Etikettierung als Karma zusätzlich aufzuwerten.

Lust und Glück gehören zusammen und sind nicht deshalb schon moralisch minderwertig, weil ihre Dauer nur kurz und zufällig ist. Wem das Wort ,Glück‛ zu hoch gegriffen ist, möge dabei an alle Schattierungen von einfacher Bedürfnisbefriedigung über Freundschaft bis hin zum Experiment eines dauerhaften Sich-Einlassens auf eine intime Ich=Du-Beziehung denken. Es gibt schlichtweg keinen vernünftigen Grund, sich unter Selbstzweifeln und seelischen Qualen diesen integralen Momenten leiblicher und seelischer Verfaßtheit zu verweigern, in der vagen Hoffnung auf irgendeine Erlösung christlicher oder buddhistischer Art.

Im Feld des Bewußtseins gibt es also keine Befreiung vom Karma. Nishitani verspricht aber eine solche Überwindung des unendlichen Karmazwangs im Feld der Leere, wo das begehrende Tun, also das stetige Anhäufen von Karma, durch ein Nicht-Tun ersetzt werden kann. Und hier nähert sich Nishitani wieder dem Plessnerschen Ansatz, denn seine Lösung besteht in einer Form der zweiten Naivität, wie sie auch Plessner von Nietzsche für seine philosophische Anthropologie übernommen hat.

Nishitani zufolge lösen wir im Feld der Leere das Tun vom Begehren und verwandeln es in ein freies Spiel. Nishitani schreibt, daß im „Feld der Leere“ Aktivitäten den „Charakter des Spiels“ annehmen (Vgl. Nishitani 1986, S.379ff.): „Sie werden in der Tat Ziel und Zweck in sich selbst, grundlos und unbegründet, Leben ohne Warum.“ (Nishitani 1986, S.380)

Das Spiel aber kennen wir auch im Bewußtseinsfeld. Ohne die Strukturen des Bewußtseinsfelds auflösen zu müssen, können wir im Spiel frei von Ursache-Wirkungszusammenhängen, also frei von Schuld und Karma, so tun als ob, ohne wirklich etwas zu tun.

Nishitani zufolge wird im Feld der Leere aber der Unterschied von Arbeit bzw. Ernst und Spiel aufgehoben. Im Feld der Leere wird einfach alles zum Spiel (vgl. Nishitani, S.381), so daß unser Tun kein Karma, keine ,Schuld‛ mehr anhäuft. In dieser „spielerischen Selbstbestimmung“ (Nishitani 1986, S.386) sind wir Nishitani zufolge frei, Verantwortung „gegenüber einem ,Nächsten‛ oder gegenüber allen ,Anderen‛“ zu übernehmen, und er bezeichnet den „Standpunkt“, der diese Verantwortungsübernahme ermöglicht, als „nicht-Zweiheit-von-Selbst-und-Anderem“. (Vgl. Nishitani 1986, S.383) Ich selbst bezeichne diesen Standpunkt als „Zweiheit“ im Sinne von Ich=Du. Darauf gehe ich in einem der folgenden Blogposts unter dem Stichwort ,Dualität‛ nochmal detaillierter ein.

Der Unterschied in der „Zweiheit“ liegt darin, daß Nishitani nicht vom Bewußtsein her und auf das Bewußtsein hin denkt, sondern vom „Feld der Leere“ her, in dem alle Dinge versammelt sind. Das Bewußtsein ist in diesem Feld überwunden und die Perspektive richtet sich auf das Ganze einer „Welt“, also auf Alles. Deshalb „nicht-Zweiheit“, sondern Vielheit bzw. Alles.

Meine Vorstellung von der Zweiheit geht in eine andere Richtung. Bei Nishitani bleibt argumentativ unvermittelt, wie er vom Feld der Leere als spielerischer Selbstbestimmung zur Verantwortungsübernahme kommt. Wir haben es immer nur mit Bildern zu tun, in denen die Dinge „herbeieilen“, um das Selbst zu „praktizieren“ oder das Selbst praktiziert die Dinge. (Vgl. Nishitani 1986, S.206f., 232, 235f., 242) Das sind alles nur in Bilder gepackte Behauptungen. An die Stelle einer Begründung tritt die „Erleuchtung“, die uns solche Bilder bzw. Behauptungen verstehen läßt. Aber inwiefern es in einem freien „Spiel“ zu einer Verantwortungsübernahme kommen kann, wird nicht weiter erläutert. Dazu bedürfte es einer Vorstellung von Zweiheit, die die soziale Dimension ins Zentrum stellt und sich darin von einer Nicht-Zweiheit unterscheidet, die keinen Unterschied macht.

Jedenfalls bewege ich mich mit dem Als-ob und der zweiten Naivität immer noch im „Feld des Bewußtseins“. An keiner Stelle meines Denkens überschreite ich dieses Feld. Nicht umsonst heißt mein Blog „Erkenntnisethik“. An keiner Stelle verleugne ich das Prinzip von Erfahrung und Wissen. Selbst die zweite Naivität basiert auf einem Wissen um die Erfahrung der Sinnlosigkeit. Erfahrung ohne Wissen verbleibt in der ersten Naivität.

Von der Erfahrung einer Erleuchtung kann ich nicht berichten. Deshalb schweige ich darüber. Aber die Erfahrung einer tiefen, dauerhaften Enttäuschung trage ich in mir. Und deshalb schreibe ich darüber. Und ich habe Bedürfnisse und Begehrungen, mit denen ich verwirrende Erfahrungen mache. Alles das ist eine Bürde. Auch darüber kann ich nachdenken und schreiben. Keineswegs aber bin ich bereit, diese ,fleischliche‛ Verfaßtheit meines Körperleibs zu dämonisieren und Praktiken zu rechtfertigen, die ihrer Unterdrückung dienen.

Montag, 15. April 2024

„Die Leere ist das Selbst.“

1. Prolog
2. Atheismus und Humanismus
3. Religion
4. Die Kreismetapher
5. Die Bürde
6. Paradoxe Argumente? ‒ Zur Methode
7. Dualität
8. Die letzte große Umkehr
9. „Selbstentleerung“

Mit diesem Blogpost gehe ich ein ziemliches Wagnis ein. Ich nehme hier zu einem Thema Stellung, das für mich absolut rätselhaft ist und das ich, so Nishitani, sowieso nicht verstehen kann, weil ich mich immer nur im Bewußtseinsfeld befinde und nicht erleuchtet bin. Um doch etwas dazu schreiben zu können, zumindest innerhalb meiner beschränkten Perspektive, habe ich mir deshalb unter den vielen Bildern und paradoxen Lehrsprüchen, die Nishitani verwendet, um sein buddhistisches Wissen und buddhistische Praktiken zu veranschaulichen, die Kreismetapher ausgewählt, weil ich mit ihr auf einer intuitiven Ebene etwas anfangen kann. Dennoch bin ich mir sehr wohl bewußt, daß ich mich dabei nur im Bereich meiner europäisch-abendländischen Lebenswelt bewege und deshalb mit meinen ganz anderen Erfahrungshintergründen wie ein Blinder von der Farbe reden kann. Und natürlich weiß ich auch nicht, was ein Blinder wirklich sehen kann, und ich will hier niemanden diskriminieren.

Die Kreismetapher taucht erstmals in einem Zusammenhang auf, wo Nishitani zwischen verschiedenen Jenseits-Vorstellungen unterschiedet. (Vgl. Nishitani 1986, s.180ff.) In seinem Buch dreht sich eigentlich immer alles um drei Stufen des Wissens mit ihren unterschiedlichen Horizonten. Bei diesen drei Stufen handelt es sich um das Feld des Bewußtseins, das Feld des nihilum und das Feld der Leere. Das Feld des Bewußtseins ist durch eine in allen Bereichen des Lebens und Denkens gehende Spaltung, eine „Dualität“, gekennzeichnet, auf die ich in einem späteren Blogpost noch einmal gesondert eingehen werde. Was jetzt die Kreismetapher betrifft, besteht diese Dualität in der Gegenüberstellung von Diesseits und Jenseits.

Der ,Kreis‛ besteht nun in der Horizontlinie, zunächst wie sie sich für ein Lebewesen im zweidimensionalen Raum präsentiert, wenn es sich um 360° um sich selbst dreht. Diese waagerechte Kreisfläche ist das Diesseits, also die Lebenswelt eines zweidimensionalen Lebewesens; so eins wie ich. Die vertikale Linie, die mitten durch meinen Standort und meine Person hindurch die waagerechte Fläche um 90° durchbricht, eröffnet ein Jenseits, das, wenn ich ‒ bleiben wir bei meiner Person ‒ nach oben schaue, der Himmel über mir ist, in dessen leeren Raum hinein ich meine Götter bzw. meinen Gott projiziere. Das ist das Feld des Bewußtseins.

Aber dabei bleibt es nicht, denn unter mir habe ich die Erde, also wieder die waagerechte Kreisfläche. Und wenn ich nach unten sehe, kann ich auch die vertikale Linie nach unten hin fortsetzen. Und wieder tut sich mir ein Jenseits auf: der Abgrund oder die Hölle mit ihren Dämonen und ihren Verdammten. Auch dieser Abgrund ist eine andere Dimension, und indem ich mich ihm zuwende, durchbreche ich nicht einfach nur den Boden unter meinen Füßen, ich durchbreche auch mein flächenhaftes Bewußtsein nach unten hin oder wie Nishitani es lieber ausdrückt: der Tod durchbricht mein Bewußtsein von unten her und mir wird bewußt, daß alles nichtig ist. Das ist das Feld des nihilum.

Die vertikalen Linien nach oben und unten bilden zusammen den Durchmesser eines neuen Kreises. Mit der Erkenntnis, daß Geburt und Tod, Leben und Sterben eins sind, erreichen wir im Feld des nihilum eine neue Seinsform, einen neuen Umkreis vertikal zur flachen Horizontlinie. Allerdings befinden wir uns mit den zwei zu 180° sich summierenden 90°-Wendungen nach oben und nach unten, trotz des Durchbruchs ‒ nicht wir durchbrechen das Bewußtseinsfeld nach draußen, sondern von außen bricht das nihilum ins Bewußtseinsfeld herein ‒ immer noch im Feld des Bewußtseins und damit innerhalb der Dualität von Diesseits und Jenseits, von Innen und Außen.

Es bedarf einer dritten Wendung bzw. Drehung, in der die 180° zu 360° hin überstiegen und der Kreis zur Null wird; also zu 0°. Wie jede Kreislinie kehrt auch diese zu sich selbst zurück und erst jetzt wird die perspektivische Weltsicht des flächenhaften Lebewesens erst wirklich überwunden, so daß es ‒ das ich sein könnte, wenn ich erleuchtet wäre ‒ jetzt alles so sehen kann, wie es wirklich ist.

Allerdings haben wir es bei dieser 360°-Wendung nicht mehr mit einem flächenhaften Kreis zu tun. Vielleicht stellen wir uns jetzt besser ein kreisrundes weißes Pappschild vor, dessen zentrale Achse aus einem dünnen Stab besteht, der oben und unten ein Stückweit aus dem Pappschild herausschaut. Wenn wir nun diese beiden Stabenden in die Hand nehmen, können wir das Pappschild um sich selbst drehen, wie ein Windspiel, vor und zurück, mal ist die eine Seite vorn, mal die andere. Wir lassen also das Pappschild 360° um sich selbst drehen.

Nishitani schreibt: „Dies ist vergleichbar mit dem Umdrehen einer Leinwand, auf der unterschiedliche himmlische und irdische Schauplätze abgebildet sind, von der Vorder- auf die Rückseite.“ (Nishitani 1986, S.182) Damit drückt dieses Beispiel anschaulich aus, wie die beschränkte Perspektive des zweidimensionalen Wesens überwunden wird. Es sieht jetzt alle Seiten, Vorder- und Rückseiten, Diesseits und Jenseits, in einer dritten Dimension gleichzeitig. Es sieht jetzt alles, so wie es ist.

Es ist mit diesem Bild wie mit allen Bildern, die Nishitani verwendet. Es erklärt nichts. Es macht nur anschaulich. Das ist leider schon alles. Um wirklich zu verstehen, was Nishitani schreibt, und um beurteilen zu können, ob das richtig ist, was er schreibt, muß man erleuchtet sein. Auch darauf werde ich noch mal zurückkommen: in einem der folgenden Blogposts.

An anderer Stelle dient die Kreismetapher zur Veranschaulichung von Nishitanis Behauptung, daß im Feld der Leere alle Dinge zugleich Zentrum sind und ein einziges identisches Ding. (Vgl. Nishitani 1986, S.236) Der Kreis, an den Nishitani hier denkt, hat keinen festgelegten Umfang. Wir können uns immer noch einen größeren Umfang denken und die Kreislinie immer weiter nach außen verschieben, bis sich die Kreislinie im Unendlichen wölbt. (Vgl. Nishitani 1986, S.232-236) Auf diese Weise, wo sich alles im Zentrum dieses imaginären Kreises befindet und nirgendwo eine bestimmte Kreislinie festgelegt ist, ist dann alles Zentrum und alle Standorte sind Eins.

Plessner hat für diesen Standort eine Formel gefunden, die Nishitanis „Feld der Leere“ ähnelt und der ich zustimmen kann. Ausgehend davon, daß der Mensch keine Mitte hat, also im Gegensatz zu Nishitani, für den im Zustand der Erleuchtung Mitte und Authentizität „leibhafte Erfahrungen“ sind (vgl. Nishitani 1986, S.215f.), verortet Plessner den Menschen exzentrisch im „Nirgendwo“. (Vgl. „Stufen des Organischen“ (1975), S.229) Dieser Standort ermöglicht dem Menschen eine umfassende, perspektivische Neutralität zwischen Innen und Außen. Neutralität ist etwas anderes als Identität. Es geht Plessner vielmehr darum, den Menschen in der Schwebe zwischen innen und außen zu verorten. Es ist nicht das Zentrum eines Kreises, das seinen Standpunkt kennzeichnet, sondern die Peripherie, die im Falle des Kreises eine Kreislinie ist; und die zwar eine Grenzlinie bildet, die aber, wie alle Linien, unendlich dünn ist. Sie bildet also eine unendlich dünne Grenzlinie zwischen Innen und Außen, zwischen uns und den Dingen.

In diesem Sinne befindet sich der Standpunkt des Menschen im Nirgendwo. Das Zentrum bildet eine Projektion des sich auf der Grenzlinie zwischen Innen und Außen bewegenden menschlichen Bewußtseins; denn als Wesen ohne Mitte projizieren wir uns von unserem peripheren Standpunkt aus in eine gedachte Mitte in einen gedachten Kreis hinein. Es handelt sich um eine Als-ob-Mitte in einem Als-ob-Kreis; um eine zweite Naivität.

Ein persönliches Erlebnis


Noch einmal zurück zu Nishitani und seinen unendlich vielen Zentren in einem unendlich großen Kreis, dem Feld der Leere. Bevor Nishitani zu diesem unendlichen Kreis kommt, beschreibt er einen einzelnen Kreis mit einem einzelnen Zentrum, einem Ding oder Menschen, dessen Radius vom Kreiszentrum aus auf einen bestimmten Punkt auf der Kreislinie zielt. Stellen wir uns vor, welche Power dieser Radius hat. Von dem einzelnen Zentrum können unendlich viele Radien in alle Richtung ausgehen und überall auf die Kreislinie treffen. Die unendlich vielen Radien, die von einem einzelnen Zentrum, Mensch oder Ding, ausgehen, haben eine explosive (zentrifugale) Strahlkraft, die die Peripherie immer weiter vom Zentrum wegtreibt, hin zu wiederum unendlich vielen weiteren, umfassenderen Kreislinien: „... jeder Punkt auf dem Kreis (enthält) eine Richtung(), in die er unendlich weit streben kann(.)“ (Nishitani 1986, S.232)

Alle Radien zusammen bilden das gewaltige Ego des Dings im Zentrum, das sich immer weiter aufbläht, und die Richtung ihrer Strahlkraft geht nach außen. Wir haben es hier wieder mit einem Bewußtseinsfeld zu tun.

Im Feld der Leere, also des unendlich großen, alle kleineren Kreis in sich enthaltenden Kreises, ist die Richtung eine andere. Dort ist die Mitte des Kreises ein Magnet, das alle Dinge von der Peripherie an sich zieht, sie veranlaßt, sich in ihm, in ihrem Zentrum, zu versammeln und Eins zu werden. Nishitani nennt das „Reduzieren“: aus Allem wird Eins, und die Subjekt-Objekt-Spaltung wird aufgehoben. Die unendliche Vielheit der Punkte auf der Kreislinie wird auf einen einzigen zentralen Punkt reduziert. Heidegger nennt das „nichten“: aus Seiendem wird Sein. Reduktion ist Nishitanis Wort für Heideggers Nichtung.

Der mit der Kreismetapher verbundene Begriff der Reduktion ruft in mir eine Wahrnehmungserinnerung, eine poetische Erfahrung wach, auf die ich jetzt am Schluß dieses Blogposts noch einmal zu sprechen kommen möchte. Über das „Feld der Leere“ heißt es nämlich: „... das Feld der Leere ist, wenn wir zu unserem Vergleich (mit dem Kreis ‒ DZ) zurückkehren, ein unendlicher Raum bzw. Leerraum, in dem Kreis und Tangenten entstehen. Deshalb hat es selbst keinerlei Begrenzungen oder Richtungen. Die Dinge sind hier in ihrem An-sich-Sein, wie tief sie auch in den Mittelpunkt, in dem ,alles eins ist‛, verwurzelt sind, nicht auf das Eine reduziert, in dem alle Vielheit und Unterschiedenheit eliminiert ist.“ (Nishitani 1986, S.235)

Als ich diese Textstelle las fiel mir ein oft gemachtes Erlebnis ein, über das ich oft nachgedacht habe. Wenn ich eine Lichtspur auf dem Wasser einer Meeresküste oder auf einem See vom Horizont her auf mich zukommen sehe, morgens oder abends von der Sonne, nachts vom Mond, dann ist der Rest der Wasseroberfläche, wenn es Nacht ist, dunkel. Es ist als gäbe es diesen Lichtstrahl nur für mich.

Dennoch sieht jeder andere an dieser Meeresküste, an diesem Seeufer denselben Lichtstrahl auch auf sich zustreben, als beträfe er nur ihn oder sie und niemand sonst.

Wenn ich mich von der Stelle fortbewege, an der Küste, am Ufer entlang, wandert der Lichtstrahl mit mir mit. Und es wandert immer nur dieser eine Lichtstrahl mit, während der ganze gewaltige Rest der unermeßlichen Wasseroberfläche dunkel bleibt. ‒ Woran liegt das? Es liegt daran, daß in Wahrheit die ganze Wasseroberfläche erleuchtet ist, ich aber aufgrund meiner Perspektive nur diesen einzelnen Lichtstrahl sehen kann. Und wenn ich mich von der Stelle wegbegebe, verändert sich auch meine Perspektive, so daß der Lichtstrahl mit meiner sich verändernden Perspektive ,mitwandert‛.

So in etwa stelle ich mir jetzt den unendlichen Leerraum vor, von dem Nishitani mit Bezug auf das Feld der Leere spricht. Der Mittelpunkt der Dinge ist auf dieselbe Weise im Feld der Leere ,versammelt‛, wie das Licht des Mondes oder der Sonne auf der Wasseroberfläche ,zerstreut‛ ist. Damit aber wären wir wieder bei Plessner. Die Sammlung des Lichtstrahls ist der bündelnden Kraft einer Linse geschuldet, die sich im Auge eines Betrachters befindet, dessen Standort im Nirgendwo liegt. Die Phänomenologie hat eine Optik und bleibt eine Optik. Nur die Ontologen fliehen das Licht und graben in die Tiefe.